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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Bositzki

© Matthias Blessing


Mich nerven die Mädchen vor meinem Hauseingang. Jeden Morgen, wenn ich Brötchen holen will, stehen sie dort. Mit großen Augen schauen sie mich erwartungsvoll an, strecken mir irgendwelche Papiere mit Wegbeschreibungen entgegen und fragen mich mit ihrem sanften polnischen Akzent, wo das Sprach-Institut sei. Erst begriff ich gar nicht - in meinem Haus gibt es kein Sprach-Institut -, dann schaute ich auf ihre Pläne, verstand und sage nun zu jedem neuen Mädchen: "Großbeerenstraße stimmt schon, aber das hier ist Kreuzberg. Die, die Sie meinen, liegt in Mariendorf. In dieser Stadt gibt es zwei davon."
Während ich anschließend beim Bäcker stehe und von außen dicke Regentropfen an die Glasscheibe prasseln, verlieren sich meine Gedanken und die Zeit kommt zurück, als ich mit Anna zusammen war. Wenn sie über Nacht bleiben konnte, lag sie um diese Zeit noch in meinem Bett, während ich hier unten stand und zwei Brötchen mehr bestellte. Dieser eine Moment am Morgen war der schönste, wenn ich sicher war, dass wir zusammen frühstücken würden und Anna noch ein, zwei Stunden Zeit für mich hätte. So tragen mich meine Träumereien noch Sekunden davon, bis der verregnete Morgen mit einem Schlag wieder bei mir ist.
"Was wünschen Sie?", fragt die Bäckerin schroff und betont dabei jede Silbe.
"Dass Anna noch ein einziges Mal in meinem Bett liegt ... ", würde ich jetzt am liebsten antworten, "... und ich vor einem weißen Blatt Papier sitze und sie beobachte."
Als neulich meine Lektorin anrief, meinte sie: "Nick, was macht bloß dein neues Buch? Es ist jetzt schon mehr als zehn Monate her, dass du es abliefern wolltest! Was ist los? Probleme? Blockade? Keine Lust?"
Erst fehlten mir die Worte. "Ich brauche noch ein wenig Zeit", stammelte ich verlegen und ärgerte mich genau darüber, "Du weißt schon ... habe was in Vorbereitung ... ist bald fertig, sozusagen!"
"Also gut", setzte sie fort, "setz' dich ran, konzentrier' dich... zeig uns was" und legte auf.
Ich stand da und hielt den Hörer in der Hand. Mein Blick wanderte zum Bücherregal. Dort standen sie, meine Bücher. Schund. Gebrauchsliteratur. Einfache Gefühle. Kitsch. Vielleicht. Aber die Bücher verkaufen sich und bringen ordentliches Geld ein. Und alles begann mit einem vierzeiligen Inserat in der Zeitung. Kurz vor meiner Magisterprüfung, am Ende meiner finanziellen Möglichkeiten und gelangweilt vom eintönigen Leben eines Studentenwohnheims vor den Toren der Stadt, kratzte ich die letzten Reste auf meinem Konto zusammen, um eine Anzeige im Lokalblatt meines Studienortes aufzugeben:
Junger und begabter Schriftsteller schreibt Biographie für bedeutende Persönlichkeiten, die ihre bedeutungsvolle Lebensgeschichte zu Papier gebracht haben wollen ...
Voller Hoffnung hatte ich mir ausgemalt, wie mich Unmengen von Briefen erreichen würden. Nach zehn Tagen und keiner einzigen Meldung bekam ich schließlich den Brief einer wohlhabenden Witwe, die ihr Schicksal als Vertriebene in Worte gefasst haben wollte. Wir trafen uns in einem Café unweit meines Studentenwohnheims. "Herr Pulitzki ...", sah sie mich durchdringend an und hämmerte dabei mit ihrem Gehstock auf den Boden des Cafés, "ich wünsche, dass sie mir ein schlesisches Fluchttagebuch schreiben!"
Als ich ihre Erinnerungen zusammengetragen und das Buch fertiggestellt hatte, brachte es die Witwe über verschiedene Verbindungen zu einem Verlag, der sich der Veröffentlichung annahm: Tränen der Gewalt eroberte in kürzester Zeit die Bestseller-Liste. Es folgte Vulkan der Obsession: eine erfolgreiche Liebesgeschichte. Die Blumen der Giftmischerin: ein bestens verkauftes Kriminalmelodram. Die Nachricht des Signor Bassini: ein auflagenstarkes Ganovenstück.
Es ist nur so: ich habe keine Lust mehr. Keine Lust mehr, zu schreiben. Genau genommen: keine Lust mehr, zu schreiben, was ich all die Jahre geschrieben habe, die Geschichten fremder Leute, fremder Figuren. Die Lektorin wird ausrasten, schimpfen und schäumen vor Wut, vielleicht sogar auf Vertrag und Verpflichtungen der nächsten Jahre hinweisen. "Du wirst schon schreiben, Pulitzki, dafür werde ich sorgen ...", so male ich mir ihren definitiven, letzten Satz aus, und dabei jagt mir ein sanfter Schauer über den Rücken. Aber darüber bin ich hinaus. Ich schreibe den einen, den großen, den ganz anderen Roman.
Am Schreibtisch, suche ich haltlos nach einer Idee. Immer wieder treten die Figuren meiner bisherigen Werke auf, Opfer auf der Flucht, die Rache schwören, betrogene Ehemänner, die die Liebhaber ihrer Frauen umbringen, abgehalfterte Polizeikommissare, die zu allem fähig sind. Ich muss sie aus meinem Kopf vertreiben, will ich einen einzigen klaren Gedanken fassen. Schnell fallen mir neue Personen ein: eine lesbische Grundschullehrerin, die von ihren Kolleginnen geschnitten wird, ein Liebespaar, das auseinander gerissen wird, weil dem Mann die Abschiebung ins Heimatland droht, ein Beamter kurz vor der Pensionierung, dessen Fußabdrücke kraterförmige Spuren im Boden seines Dienstzimmers hinterlassen haben. Mit keiner der Figuren komme ich wirklich weiter. Sie fangen gut an, gewinnen schnell an Erkenntnis, handeln beherzt und wissen nicht, was sie die restlichen zweihundert Seiten tun sollen.
"Woher plötzlich der Wunsch, etwas Ernsthaftes zu schreiben?", fragte mich neulich ein Freund, dem ich von meiner Absicht erzählte.
"Ich fühle mich so unendlich matt ... ", fing ich an, "ich kann diese Geschichten nicht mehr schreiben, nicht mehr hören, nicht mehr sehen."
"Das wird nicht alles sein ... ", setzte der Freund nach.
"Vielleicht ... ", überlegte ich eine Weile, "vielleicht ist es ... dass dieses Schreiben überhaupt nichts mit mir zu tun hat."
In Erinnerung an das Gespräch, zerreiße ich die Skizzen über die Grundschullehrerin, den Beamten und das Liebespaar in tausend Stücke, dann beschließe ich beherzt, nach meinem Leben, nach mir selbst zu suchen. "Das Leben fließt in das Werk ein", dozierte der Freund über das Schreiben, mit allergrößter Gewissheit - aber wo kein Leben, wo nur das Leben der anderen ist ... gibt es kein Werk? Ganz so schlimm ist es nicht, schließlich gibt es Anna.
Ich greife zum Telefonhörer, um sie anzurufen.
"Hallo", fange ich an, "ich muss dich unbedingt sehen. Du fehlst mir sehr. Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf."
"Nikolas", sagt sie - ich merke schon, wie sie sich von mir entfernt, "das ... das hat doch keinen Sinn. Du weißt, dass wir uns nicht mehr sehen können. Mein Mann kommt heute zurück."
"Wann genau?", frage ich.
"Ist doch egal", antwortet sie, "wir können uns jetzt nicht treffen."
"Und die Tage?"
"Verstehst du nicht? Es ist aus! Ich habe dir immer gesagt ... wenn Florian zurückkommt ... er kann rasend vor Eifersucht sein ..."
"Ich verstehe schon ...", sage ich traurig, "... das heißt, wir können uns so schnell nicht wieder sehen?"
"Das heißt es wohl."
"Anna, nur kurz", flehe ich sie an, "ich muss dich sehen! Der Roman kommt nicht in Gang. Du fehlst mir entsetzlich. Seit du weg bist, geht gar nichts mehr. Ich bitte dich, lass uns ein letztes Mal treffen!"
"Nick", sagt sie, "ich glaube, ich lege jetzt besser auf!"
Ich schweige.
"Machs gut", wirft sie noch hinterher.
Zeitlich geordnet fange ich damit an, wie ich Anna kennen gelernt habe, wie sie in einer Lesung in der ersten Reihe saß, wie sie mich ansprach und meinte, sie wundere sich, warum mein Bild auf dem Einband nicht zum Inhalt des Buches passe. Wir unterhielten uns eine Weile, dann bot ich an, noch etwas trinken zu gehen. Sie lehnte ab, meinte, ihr Mann würde sie abholen, dann gab sie mir ihre Mobilnummer. Wir trafen uns am nächsten Tag, am dritten Tag schliefen wir miteinander und zwei Wochen später übernachtete sie das erste Mal bei mir. Dann plötzlich, nach einem Vierteljahr, schrieb sie mir, wir könnten uns fortan nicht mehr sehen. Ich zerknülle das Papier, ein Tagebucheintrag, mehr aber auch nicht. Noch einmal lege ich ein paar Bögen auf den Tisch und versuche jetzt, die Psychologie der Figuren ins Spiel zu bringen. Anna hätte sich von ihrem Mann trennen können, würde sie mich wirklich lieben. Hätte nicht nur vorbeikommen dürfen, wenn es ihr schlecht ging. Überhaupt - wie egoistisch sie war. Und ich? Habe ihr nicht klar genug meine Liebe gestanden. Hätte mich vorwagen müssen, hätte kämpfen müssen, war zu feige. Nachdem ich Vorwurf an Vorwurf gereiht habe, Anna beschimpft und mich klein gemacht habe, wandert auch dieser Versuch in den Papierkorb. Ein letztes Mal, jetzt professionell, nach Art eines Melodrams: Nick und Anna sehen sich, verlieren sich aus den Augen, treffen sich wieder, werden aufs Neue getrennt, um schließlich ... Mit der Wirklichkeit hat das alles nichts zu tun, denn Anna hat sich nur ein einziges Mal von mir getrennt. Ich lasse den Stift fallen, zünde mir eine Zigarre an und blase den Rauch langsam gegen das Fenster. Vielleicht hat sich der Freund geirrt, und das Leben hat im Werk nichts zu suchen. Vielleicht aber muss ich einfach noch warten.
Entnervt stehe ich auf und gehe Mittag essen. Auf dem Weg zum Lokal kommt mir die Russin entgegen, die die Reinigung in meiner Straße betreibt. Sie wirft mir einen grimmigen Blick zu. Im Restaurant setze ich mich an einen leeren Tisch, bestelle die Hähnchenbrust mit Blattspinat, greife zur Zeitung und schlage den Lokalteil auf. Wie immer beginne ich mit den Polizeinachrichten, in der Hoffnung, etwas zu finden, das ich für die eigene Arbeit verwenden kann.
Ungeklärter Mord macht Polizei ratlos.
Der Fund einer Leiche eines 59-jährigen Arbeitslosen in der Großbeerenstraße lässt die Mordkommission weiter im Dunkeln tappen. Wie in unserer gestrigen Ausgabe berichtet, wurde die Leiche des Opfers in dessen Wohnung durch den Hausmeister und die herbeigerufene Polizei aufgefunden ... Da das Mordopfer über längere Zeit alleine gelebt hat und der Kriminalpolizei bis jetzt keine menschlichen Bindungen des Opfers bekannt sind, greift die bei Mordfällen ansonsten typische Untersuchung im näheren Umfeld des Opfers bisher ins Leere ... Die Herstellung eines Bezuges zwischen Täter und Tat gestalte sich dann äußerst schwierig, was die Aufklärungsquote bei Totschlagsdelikten empfindlich senke, so der Polizeisprecher ...
Ich lege die Zeitung beiseite. Während ich an meinem Schreibtisch sitze, geschieht in meiner Straße ein Mord. Ich versuche mir vorzustellen, wie der Täter das Haus betritt, sein argloses Opfer aufsucht, sich ihm bis auf wenige Schritte nähert und es schließlich kaltblütig meuchelt. Der Gedanke an eine solche Bluttat lässt mich nicht mehr los, berührt mich auf eigenartige Weise. Welches Haus mag es sein? Ich kenne die Abfolge der einzelnen Häuser aus dem Gedächtnis. Auf dem Nachhauseweg betrachte ich die Fassaden. Hinter einer dieser Fronten ist etwas Ungeheuerliches passiert.
Wieder in meinem Arbeitszimmer, rufe ich einen Bekannten an, der bei der Zeitung arbeitet. Ich erzähle ihm von der Sache. Von meiner Faszination. Von der Unruhe darüber, dass sich die Tat in meiner Straße zugetragen haben soll. Von der Neugierde, in welchem Haus der Tatort liegen soll. Er verspricht, eine Kollegin zu befragen, die für die Polizeinachrichten zuständig ist. Nach einer Stunde ruft er endlich zurück.
"Die Kollegin konnte die Hausnummer in Erfahrung bringen ...", fängt er an, "... es ist die 32."
Der Hörer fällt mir fast aus der Hand. Schweißtropfen sammeln sich auf meiner Stirn. "Das ist ja meine Hausnummer!", rufe ich entsetzt, "... dann ist das alles ja in meinem Haus passiert. Ich ... ich habe gar nichts gehört, keine Polizei gesehen -"
"- Ach ja" unterbricht er mich, "... das hätte ich beinahe vergessen. Es ist nicht deine Straße. Es handelt sich um die Großbeerenstraße in Mariendorf."
Der Pulsschlag lässt nach. "Und weiß die Polizei schon was Näheres?", frage ich ihn.
"Nein, "antwortet er, "die Kollegin sagt, sie hätten noch keinen einzigen Anhaltspunkt."
Ich lege mich auf mein Sofa, versuche zu überlegen, denke angestrengt über den Fall nach und schmunzle über den kurzen Moment, in dem ich annahm, es handele sich um meine Straße. Es sollte nicht das erste Mal sein, dass mehrere Großbeerenstraßen für Verwirrung sorgten, bei polnischen Sprachstudentinnen ... wie russischen Berufskillern. Dieser letzte Gedanke erschreckt mich. Warum keine Anhaltspunkte? Keine Spur zum Täter? Kein erkennbares Motiv? Warum eine Tat ohne Sinn?
Plötzlich wird mir klar: während die Polinnen vor meiner Tür stehen, sucht der Killer Mariendorf auf, wo sein Auftraggeber Kreuzberg meint. Nun ergibt alles einen Sinn: Die Tat ist grundlos geschehen. Kein Motiv, weil es keines gibt. Das Opfer verwechselt. Aber auch: die eigentliche Tat steht noch aus! Das richtige Opfer lebt noch. In meinem Haus. Neun Mietparteien. Ich eine davon.
Wenig später entscheide ich mich für eine Fahrt nach Mariendorf. Auf dem Klingelbord des Hauses Nr. 32 weist ein Knopf auf den Hausmeister hin. Ich betätige die Klingel.
"Hallo?", scheppert es mir unwirsch aus der Sprechanlage entgegen.
"Guten Tag", sage ich höflich, "mein Name ist Nikolas Pulitzki. Ich hätte ein paar Fragen im Zusammenhang mit dem Mord, der hier vor ein paar Tagen verübt worden sein soll."
"Ich sage gar nichts mehr. Sagen Sie das ihren Kollegen. Ich habe genug von der Presse. Von mir hören Sie kein Wort mehr."
"Können Sie mich wenigstens kurz reinlassen", frage ich.
"Auf keinen Fall", antwortet der Hausmeister.
"Kannten Sie das Opfer?", versuche ich es weiter.
"Das geht Sie überhaupt nichts an."
Das Klicken in der Sprechanlage verrät mir, dass der Hausmeister den Hörer der Gegensprechanlage aufgelegt haben muss.
Auf der gegenüberliegenden Seite grenzt ein Industriegebiet an die Straße. Große Reklametafeln säumen den Weg. Ich gehe ein paar Schritte zurück und betrachte das Haus mit seinen drei Stockwerken. Sollte ein Hausbewohner vorbeikommen, könnte ich mich hinter ihm durch die geöffnete Tür in das Haus schleichen. Aber was wäre gewonnen? Ich trete nochmals an das Klingelschild heran und sehe vier Parteien, die in dem Haus wohnen: das Sprachinstitut für polnische Mädchen, der Hausmeister, ein Steuerberater-Büro und eine weitere Person, die Bositzki heißt.
Während ich in der U-Bahn sitze, überlege ich: das Sprachinstitut lebt, der Steuerberater ist kein Arbeitsloser und der mürrische Hausmeister erfreut sich bester Gesundheit. Übrig bleibt die vierte Partei. Wieder in Kreuzberg, gehe ich das Klingelbord meines Hauses durch. Hier wohnt niemand mit diesem Namen.
Ich stehe im Aufzug und rufe laut: "Bositzki, Bositzki, Bositzki". Auf dem Klingelschild an meiner Tür: Pulitzki. Bositzki, Pulitzki sage ich, wie witzig, fast gleich. Ich stelle mir vor, wie die undeutliche Telefonstimme des Auftraggebers aus Pulitzki Bositzki ... - in diesem Augenblick wird mir endlich klar, dass ich gemeint bin. Aber was habe ich getan? Was habe ich verbrochen? Wer will mich töten?
Ich laufe in der Wohnung umher, schweißgebadet, rastlos vom Schlafzimmer zum Arbeitszimmer, vom Wohnzimmer zur Küche. Ich setze mich an meinen Tisch, betaste mit den Daumen die Schläfen, versuche, mich zu konzentrieren. Die Affäre mit Anna ... ihr eifersüchtiger Ehemann, der durch eine Unvorsichtigkeit alles erfahren haben könnte. Der sich die Finger selbst nicht schmutzig machen will. Einen Berufskiller für zweitausend Euro beauftragt. Aber was hat Anna ihm erzählt? Würde sie sich selbst nicht als erstes der Gefahr seiner Raserei aussetzen? Ich kannte ihre Wohnung nicht einmal, war nicht ein einziges Mal dort. Ein Ding der Unmöglichkeit. Dann fällt mir mein Buch mit persönlicher Widmung ein, das sie sich als Andenken gewünscht hatte. Ich kann sie jetzt nicht anrufen, überlege ich, ihr Mann wird womöglich wieder zu Hause sein. Eine ungeahnte Angst überwältigt mich. Ich versuche, mir die letzten Tage in Erinnerung zu rufen. Der Ärger mit der Reinigung. Die Russin, die mir meinen Anzug mit einem Fleck auf der Innenseite der Jacke zurückgegeben hat. Ich reagierte erbost, fragte sie, woher der Fleck stamme, sie aber stritt alles ab.
Am Schluss sagte sie noch: "Macht 18 Euro."
"Ich glaube nicht", hielt ich dagegen, "dass ich für einen Fleck 18 Euro bezahle."
"Fleck schon vorher drin", meinte sie, "Durch Reinigung nicht rausgehen."
Ich lachte, sagte "so, so", nahm den Anzug an mich und verließ, ohne zu bezahlen, ihren Laden.
Sie rief mir hinterher: "Das wird Folge haben!"
Das wird Folge haben! Auch wenn ich meine, dass die Schuld von 18 Euro die Beauftragung eines Killers keineswegs rechtfertigt, komme ich nicht weiter ... Anna hat es ihrem Mann gestanden. Die Reinigungsfrau ist in ihrem Stolz verletzt. Sie benachrichtigt ihre Familie in Russland. Die eine Variante oder die andere? Ich kann mich nicht entscheiden ... und schlafe vor Erschöpfung ein.
Als ich nach wenigen Stunden wieder aufwache, ist es schon früher Morgen. Wieder kann ich an nichts anderes denken, aber es ist nicht Anna oder die Russin, es ist diese einzige, abgründige Gewissheit: so lange ich weiter in den Himmel starre, gebe ich dem Auftraggeber die Möglichkeit, Zeitung zu lesen, seinen Irrtum zu begreifen und einen erneuten Versuch zu starten. Also werde ich so schnell wie möglich verschwinden müssen. Auf die Polizei ist kein Verlass, überlege ich, will ich überleben, muss ich mich selbst in Sicherheit bringen. Für mehrere Wochen raus aus der Stadt.
Ich stehe auf, hole einen großen Koffer, packe ein paar Sachen zusammen, etwas zum Anziehen, die wichtigen Unterlagen, mein Notebook, mein Adressbuch, die Kreditkarten, den Reisepass. Alles, was ich bin. Dann rufe ich ein Taxi und überlege auf der Fahrt zum Flughafen, wohin meine Reise gehen soll. Ich weiß: von Tegel aus komme ich nicht weit, zumindest auf keinen anderen Kontinent. Also London. Von Heathrow aus liegt mir die ganze Welt zu Füßen, dort werde ich mich entscheiden.
Als ich wenig später meinen Platz einnehme und die Stewardessen mit den Sicherheitshinweisen beginnen, komme ich langsam zur Ruhe. Anna ist weg. Der ernste Roman steht noch aus. Man hat mich im Visier. Aber ich habe erst einmal Zeit gewonnen, an diesem klaren ersten September-Morgen.
Während die Flugbegleiterinnen allmählich verstummen, nehme ich die Zeitung zur Hand und blättere im Lokalteil: Polizei in Mordsache endlich auf heißer Spur. Im Zusammenhang mit dem Mord an einem 59-jährigen ... ist die Sonderkommission unerwartet auf einen "Zechkumpanen" des Opfers gestoßen ... Dieser Mann konnte die Polizei auf die Spur einer weiteren Person führen, die noch gestern dem Haftrichter vorgeführt wurde ...
Ich lege die Zeitung beiseite und schaue aus dem Fenster. Das Flugzeug biegt auf die Startbahn ein. Die Triebwerke heulen auf und die Maschine stürmt dem endlosen Himmel entgegen.
Auf halber Höhe kann ich keine einzige Wolke sehen.



Eingereicht am 16. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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