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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Umschlagplatz oder "Wo Wahres in Münze getauscht wird"
© Daniel Theis
Das Meer wirkt an dieser Stelle schon ganz anders. So, wie man es von Postkarten aus der Karibik kennt. Die schroffen Felsen zur Linken haben an Höhe gewonnen und ragen nun fünfzehn bis zwanzig Meter in den azurblauen Himmel. Große, schwarze Flecken vulkanischen Gesteins stechen hervor und von Zeit zu Zeit tauchen zu Hunderten Erdmännchen in den Spalten der steilen Felswand auf, hüpfen von Vorsprung zu Vorsprung und suchen in den etwas sandigeren Teilen der Klippe nach Nahrung. So erzeugen sie eine sich ständig
verändernde und lebendig wirkende Struktur. Rechts liegt das Meer. Im seichten Wasser ist es sehr klar, ein Stück weiter kräftig türkis und noch weiter draußen dunkelblau. Keine Wellen. Es ist spiegelglatt, so, als würde es darauf lauern, dich im richtigen Moment mit seiner ganzen Unendlichkeit zu erschlagen.
Als du am Morgen losgelaufen bist, war es acht. Du weißt es genau, weil du immer um acht dein Apartment verlässt. Du fährst in deinem Saab zum Büro. Es sind acht Ampeln auf dem Weg bis dorthin. Du parkst in der Tiefgarage auf Platz 274 und nachdem du mit einem Taschentuch den Aschenbecher von der Zigarette, die du jeden Morgen auf dem Weg zum Büro rauchst, gereinigt hast, fährst du mit dem Fahrstuhl nach oben und beginnst pünktlich um acht Uhr dreißig deinen Arbeitstag. Die Mittagspause ruft Unbehagen in dir
hervor. Der rautenförmige Teppichboden auf den Fluren und die quadratischen Bodenfliesen im Casino verlangen dir eine sehr hohe Konzentration ab. Nur jede Dritte und nicht die Ränder übertreten.
Auch hier im Urlaub verlässt du um acht dein Apartment. Es gibt auf dieser Insel keinen rautenförmigen Teppichboden und auch keine Fliesen. Nicht einmal Pflastersteine gibt es. Zumindest nicht auf dem Weg von deinem Apartment zum Strand. Markierungen auf Gehwegen und Strassen suchst du ebenfalls vergeblich. Die Menschen hier finden Ruhe in etwas Anderem.
Erster Schritt, zweiter Schritt, dritter Schritt und ein leichter, aber definierter Schlag mit der flachen, linken Hand gegen die linke Seite deines Halses. Nicht zu fest, nicht zu leicht. Eine unsichtbare Markierung, eine unsichtbare Fuge um einen unsichtbaren Pflasterstein ist deine Richtlinie. Deine Idea Innata. Sieben Stunden bist du bereits gelaufen. Deine Tabletten liegen im Apartment auf dem kleinen weißen Nachttisch neben deinem Bett. Du weißt es, denn du hast sie dorthin gelegt. Dann hast du den, von
einem Zimmermädchen aus einem Handtuch gefalteten, Schwan auf deinem Kopfkissen betrachtet und bist gegangen. Sieben Stunden am Strand Richtung Norden. Erster Schritt, Zweiter Schritt, Dritter Schritt. Den Schlag nicht zu fest! Schon seit zwei Stunden ist kein Mensch mehr zu sehen. Es ist sehr heiß und deine Konzentration lässt nach. Das Fehlen der Gehwegplatten lässt den Strand bedrohlich wirken, so, als warte er in seiner viel zu feinen Struktur darauf, dich mit der Unendlichkeit seiner Sandkörner einfach zu
schlucken. Myriaden von winzigen Gehwegplatten, denen du nicht gewachsen bist.
Die Erdmännchen teilen die steile Felswand in ein Muster. Tiere sitzen an unterschiedlichen Stellen und man kann die Punkte zwischen ihnen verbinden, um so in Kombination mit der Schwarzfärbung des Vulkangesteins eine ganz passable Einteilung zu ersehen. Doch es ist äußerst anstrengend und Kräfte raubend, die Bewegungen der Erdmännchen in das System zu integrieren und du wendest den Blick ab.
Die Landschaft ist in drei Streifen Chaos eingeteilt: Rechts von dir, ist auf die kleinste Welle zu warten noch immer vergeblich. Keine Frequenz, kein Rhythmus, dessen nächster Schlag dir zeigt, dass noch immer alles in Ordnung ist. Links von dir, denken die Erdmännchen nicht einmal daran die Struktur zu halten. Die benötigten Mittel sind da. Und doch ist auf dieser Seite nichts sicher! Dein Streifen in der Mitte ist der Strand. Struktur und Sicherheit auf mikroskopischer Ebene und deine verdammten Füße sind
zu groß. Es ist so ironisch, du musst fast lachen.
Erster, zweiter, dritter. Du hast den Schlag vergessen. Ihn nachzuholen wäre unmöglich. Das würde den Ablauf nicht ändern. Der Fehler ist drin und läuft weiter im System wie ein Wellental gleich hinter dem nächsten. Wie konnte das geschehen? Rien ne va plus, nichts geht mehr und der fette Mann setzt Fünfzig auf ungerade. Dieser Heuchler! Als könne man im Leben einfach so auf eine Stopp-Taste drücken und so tun, als wäre nichts geschehen.
Setz dich erst mal hin. Die Einteilung ist klar: Drei Streifen. Du nimmst den Mittleren. Die Wellen lassen auf sich warten. Da sitzt du und starrst auf Streifen 3. Das Meer ist ruhig. Hinter dir geht jetzt die Sonne unter und dein Schatten im Sand wird länger, nimmt Kurs auf das seichte Wasser, das wenig Geräusche macht. Bald wird es dunkel werden und drei Streifen ordnen sich der Wechselwirkung Tag und Nacht unter. Dein Nacken ist verbrannt und das Verschwinden der Sonne hinter den Felsen lässt angenehmen Schatten
auf deinen Rücken fallen. Eine leichte Brise weht vom Meer und bewegt sich mühelos über die drei Streifen hinweg, als gäbe es keinen Grund zur Sorge, einfach so. Es wird dunkel und das Mondlicht verwischt die Grenzen, absorbiert mit seinem kühlen Schein Linien und Kanten, fasst Quadranten, Stufen und Gruppen zusammen und bildet die Quersumme der Unterschiede.
Die Wellen rauschen und ich höre zu.
Eingereicht am 15. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.