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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schwere Stunde

© Rainer Vollath


Es war die schwerste Stunde seines Lebens. Es war die Stunde seines Rücktritts. Und: Es war die Stunde seines Coming Out.
Obwohl die Uhr an diesem Augustvormittag noch nicht einmal auf 10 Uhr stand, war es in seinem Büro bereits unangenehm schwül. Er hatte die Klimaanlage abgeschaltet, da ihm ihr monoton sonores Brummen auf die Nerven ging und er bei Zugluft sowieso immer Gefahr lief, sich zu erkälten, auch wenn er das heute vielleicht sogar gerne in Kauf genommen hätte, denn dann hätte er sich ins Bett legen und vor allen verstecken können, vor seiner Frau, seiner Familie, vor der Öffentlichkeit, bis alles vorüber war. Er hatte Angst und war aufgeregt.
Er erhob sich von seinem Schreibtisch und trat an eines der beiden großen Sprossenfenster, durch die helles Licht drang, und blickte auf die parkartige Anlage vor dem State House mit ihren alten, riesigen Ahornbäumen, deren Blätter sich in diesem Jahr bereits leicht verfärbten, da der Sommer heiß und trocken gewesen war, und den Indian Summer ankündigten, der in diesem Jahr früher kam als in den Jahren zuvor. Es war ein schöner und sonniger Tag, heiter und wolkenlos.
Unten standen eine Menge Reporter, Presseleute, Radio- und Fernsehteams mit ihren Kameras, Fotoapparaten und Mikrofonen und warteten auf die Pressekonferenz. Wie Haifische, die ihre Beute umkreisen, Hyänen, die sich über das Aas hermachen, Muränen, die im Hinterhalt ihrem Opfer auflauern. Alle großen Rundfunkanstalten, Zeitungen und Magazine waren vertreten.
Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Vor ihm lag das weiße Blatt Papier, die Presseinformation mit seiner Rücktrittserklärung, tadellos. Er überflog den Text noch einmal, obwohl er ihn mittlerweile auswendig kannte, denn er selbst hatte ihn ja verfasst, allein verfasst, ohne ihn mit seinem Sprecher und seinem Beraterteam abzustimmen. Aber dieses Thema war ihm zu persönlich, zu peinlich, um es mit seinen Mitarbeitern zu besprechen. Erst gestern hatte er mit seiner Frau Dina, seiner Ex-Frau Kari und seinen Eltern ausführlich darüber gesprochen. Zum ersten Mal. Noch war es ihm peinlich, ein bisschen peinlich, doch das würde vergehen. Hoffentlich.
Sein Leben lang hatte er, Abkömmling katholischer und konservativer irischer Einwanderer, sich bemüht, so zu sein, wie sie es von ihm verlangten: das brave, prüde, traditionelle und offizielle Amerika, seine Lehrer und Erzieher, seine Familie und seine Eltern. Alle hatten sie immer so viel von ihm gefordert und höchste Ansprüche an ihn gestellt. In der Schule, beim Baseball, an der Universität, als Rechtsanwalt, als Politiker, als Gouverneur. Schon mit 21 hatte er sein Masterstudium an der Columbia University in New York erfolgreich abgeschlossen und als Fünfundzwanzigjähriger seine Ausbildung zum Rechtsanwalt in Harvard mit Bravour absolviert. Ja, er war erfolgreich, ging in die Politik und wurde Gouverneur von New Jersey - wenn auch nur eineinhalb Jahre lang, denn nun ging seine Politikerkarriere mit gerade einmal 47 Jahren abrupt zu Ende.
Er blickte auf die Fotos vor ihm: Dina mit Jacqueline, der Tochter aus der zweiten Ehe, auf dem Arm an ihrem zweiten Geburtstag im letzten Dezember, Morag, aus der Ehe mit Kari, auf einer Bootstour vor Vancouver, wo sie seit der Scheidung mit ihrer Mutter lebte, Mom und Dad zu Besuch in Trenton.
Sie hatten erst geheiratet, als er schon Mitte dreißig war, er und Kari. Er hatte sich immer vor dem Eheleben und der sexuellen Pflicht gedrückt. Morag kam ziemlich schnell. Er flüchtete sich in Arbeit und war der reinste Workaholic. Ja, er wollte Karriere machen, und das um jeden Preis. Die Arbeit war eine gute Möglichkeit, um der Ehe zu entfliehen. Denn wenn er ehrlich war, viel Lust bereitete es ihm nicht, wenn er mit ihr schlief. Er empfand den Sex mit ihr immer als sehr mühsam. Schon bald schliefen sie nicht mehr miteinander. Über ihre Probleme sprachen sie nie oder fast nie. Vielleicht war das der Fehler gewesen. Nach vier Jahren wurde die Ehe auf Karis Wunsch hin geschieden, und sie ging als Bibliothekarin nach Kanada zurück.
Als Jugendlicher, wenn er masturbierte, zwang er sich oft dazu, an irgendeine Frau zu denken. Es war anstrengend und langweilig. Es dauerte lange, bis er kam. Am ehesten kam er noch, wenn er sich vorstellte, dass sie ihm ihre hintere Öffnung hinhielt und er dort in sie eindrang.
Wenn er wirklich einmal mit einer Frau ins Bett ging, und das waren neben seinen beiden Ehefrauen nur sehr wenige gewesen, dann dachte er an Männer, die ihm gefielen oder mit denen er schon einmal Sex gehabt hatte. Deshalb war das Duschen nach dem Baseballspiel so wichtig für ihn.
Er trat wieder an das Fenster seines großräumigen Büros mit den schweren dunklen Möbeln, die Eleganz und Distanz, etwas Aristokratisches und Traditionelles vermitteln sollten. Er spürte den dicken, weichen Teppich unter den Ledersohlen seiner Schuhe und empfand dies als angenehm. Ein kleiner Trost, ein kurzes Behagen, ehe Angst und Aufregung zurückkehrten. Die Reporter und Presseleute waren nicht mehr zu sehen. Sie mussten bereits im Gebäude sein.
Zwischen den beiden Fenstern hing ein Spiegel mit einem schwülstigen goldenen Rahmen. Auf seiner Stirn hatte sich ein feiner Schweißfilm gebildet. Seine Wangen waren gerötet, verliehen ihm dadurch etwas Schönes, Authentisches, vielleicht auch etwas Mitleiderregendes, Erbärmliches. Er hatte Kopfschmerzen, und sein Mund war trocken, seine Hände zitterten, und die Fingerspitzen waren feucht. Seine schwarzen, an den Schläfen bereits ergrauenden Haare waren wie immer perfekt gescheitelt. Seine rot-weiß gestreifte Krawatte hatte dieselben Farben wie die US-Flagge im Hintergrund, die neben seinem Schreibtisch stand. Sein dunkler Nadelstreifenanzug saß akkurat. Er war proper und clean, antiseptisch und steril - wie die USA - zumindest nach außen hin.
Wie würde seine Zukunft aussehen? Seine Karriere als Politiker ging jetzt abrupt zu Ende. Er hatte gegen das Gesetz verstoßen, da gab es kein Pardon. Okay, er würde überleben. Er war ein guter und erfolgreicher Anwalt. Er würde nicht vor die Hunde gehen. Er würde auch weiterhin für Dina, Kari und die Mädchen sorgen können. Aber seine Karriere als Politiker war zu Ende, ein für alle mal.
Doch war dies auch eine Chance: Er war erleichtert, er würde freier leben, ohne Lüge, kein Doppelleben mehr führen, sich nicht mehr verstellen müssen, zu sich und seiner Identität stehen. Ein leichtes Lächeln umspielte jetzt seine Lippen. Er würde einen Neuanfang machen. Wenn ihn die Politik nicht mehr wollte, so wollte er sie auch nicht mehr!
Gesenkten Hauptes und die Arme hinter dem Rücken verschränkt, ging er in seinem Büro auf und ab. Er trat vor das große Bücherregal mit den Gesetzestexten. "Golan Cibel, dieses verdammte Drecksschwein", sagte er plötzlich laut. Er hatte ihn vor vier Jahren in Israel kennen gelernt, diesen aparten, gut aussehenden jungen Mann, und so etwas wie Liebe empfunden. Erst maß er der Affäre keine große Bedeutung bei, da sie nichts Neues für ihn war und er ja schon Routine in solchen Angelegenheiten hatte. Als er dann aber wieder zu Hause war, ging ihm der Kerl nicht aus dem Kopf. Schnell holte er ihn zu sich, indem er ihm einen lukrativen Köder auslegte: Einen 110.000 Dollar-Job als sein Sonderberater. Schnell zog Cibel in seine Nähe, sodass sie sich nun rund um die Uhr treffen konnten. Er machte während des Wahlkampfs für ihn die Propaganda innerhalb der jüdischen Bevölkerung.
Liebe und Leidenschaft sind dann aber schnell verflogen und an Gefühlen blieb nicht viel übrig. Im Grunde wusste er sowieso nie, was Golan für ihn empfand. Später sagte er dann sogar, dass er gar nicht auf Männer stehe. Das hatte er aber anders in Erinnerung! Das hatte er anders erlebt! Heute wusste er, wie unprofessionell und unbedarft er damals handelte, als er den Posten mit ihm besetzte.
Entweder du gibst mir 5 Millionen Dollar oder ich verpfeif dich. Das wird dir und deiner Karriere bestimmt nicht gut tun. Zumal außerehelicher Verkehr in diesem Staate unter Strafe steht, drohte ihm Golan. Du weißt: Gerüchte hat es ja immer wieder gegeben: als du Student an der Columbia warst, später in Harvard und dann als Anwalt und Politiker, wenn du einen deiner Lover zu deinem Alibi-Mitarbeiter gemacht hast.
Dem musste und wollte er zuvorkommen, und es gelang ihm auch, indem er sich jetzt outete. Erst gestern hatte er Dina gestanden, dass er sich zu Männern hingezogen fühle. Er hatte Kari in Vancouver angerufen und ihr alles erzählt, und er hatte seine Eltern zu sich eingeladen, sodass auch sie es jetzt wussten. Sie alle waren überrascht und geschockt. Doch war er froh, dass er sich geoutet hatte, und stolz auf sie alle, dass sie heute zu ihm hielten. Es tat ihm Leid, dass er seiner Frau so viel Schmerz zugefügt hatte. Er bereute seine Affären und hatte Dina um Vergebung gebeten.
Er wusste, dass er immer ein guter Gouverneur gewesen war, das Amt stets nach bestem Wissen und Gewissen ausgeübt hatte und seinen Verpflichtungen nachgekommen war. Dennoch entschied er, James McGreevey, von seinem Amt als Gouverneur zurückzutreten.
Wäre die prüde amerikanische Gesellschaft emanzipierter, könnten Schwule mit der gleichen Selbstverständlichkeit ebenso hohe Politiker werden wie alle anderen auch. Sie müssten kein Doppelleben führen und keine Alibis erfinden, wie ich es getan habe, dachte er bei sich. Dies soll jedoch keine Entschuldigung für mein feiges Verhalten sein.
Ein hoher Politiker darf nicht schwul sein, denn dann gilt er als unglaubwürdig. Ausnahmen sind höchstens die Bürgermeister weltoffener Großstädte. Schwul und prominent, das geht nur bei Künstlern wie Schauspielern, wenn sie nicht gerade einen Frauenhelden spielen sollen, bei Modedesignern oder Malern. Deshalb führen viele hohe Politiker ein Doppelleben und gründen eine Familie, obwohl sie eigentlich auf Männer stehen.
Es klopfte an der Tür, und Dina trat ein. Sie trug ein hellblaues Kostüm, war akkurat und attraktiv wie immer. Sie lächelte souverän, um ihm zu zeigen, dass sie auch jetzt zu ihm hielt. Meinte sie dies ernst oder war es nur gespielt?
Sie wusste noch nicht, wie es weitergehen sollte. Sie beide wussten es noch nicht. Würde sie sich einen anderen suchen? Würde er sich von ihr trennen, um mit einem Mann zusammenzuleben? Doch das zählte jetzt nicht!
Ich liebe dich, dachte er. Ja, ich liebe dich, auf meine Weise, so wie ich eine Frau lieben kann. Und ich brauche dich jetzt. Ja, ich brauche dich jetzt mehr denn je.
Er erhob sich von seinem Schreibtisch, nahm die Presseinformation mit der Rücktrittserklärung, ging auf sie zu und küsste sie auf die Wange. Dann nahm er ihre Hand, drückte sie fest und begab sich mit ihr Hände haltend zu der Pressekonferenz, wo seine Eltern bereits warteten.



Eingereicht am 15. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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