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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Versprechen

© Gisela Becker-Berens


Das Kind übte fleißig. Jeden Tag, in den kleinen und großen Schulpausen, nach Unterrichtsende zusammen mit der Lehrerin, von allen nur "die Frollein" genannt. Klein, weißhaarig, mit hellem Flaum unter der Nase und auf den Wangen und einer Stimme so scharf und glatt wie ein Rasiermesser. "Lauter", schnitt diese Stimme durch den Raum, "du sollst nicht nuscheln!" Immer und immer wieder.
Ganz weit auseinander standen sie, das Kind und die Lehrperson, jede am anderen Ende des kühlen Klassenraums. Lauter, deutlicher, langsamer! Kein hilfreiches Wort, wie man das fast aus der Brust springende Herz beruhigen, wo die schweißnassen Hände verbergen konnte.
Langsamer, deutlicher, lauter! Vor den Fenstern trällerten die Amseln ihren Frühlingsgesang, die Freundinnen hüpften schon in Kniestrümpfen über den Schulhof. Das Kind schien davon nichts zu bemerken.
Nach und nach wurden die Unterbrechungen des Gedichtvortrags seltener. Das Kind kam in einen Fluss, schwamm mit den Wörtern durch die vier Strophen, ließ sich von der gefundenen Melodie treiben, hielt sich am Gerüst des Reimes fest, vergaß keine Zeile mehr. Auch die Hände hatten ihre Ruhe gefunden.
Die "Frollein" zeigte mit keinem Gesichtsmuskel, keiner Geste Freude oder Zufriedenheit
Unbewegt verfolgte sie die Fortschritte des Kindes, immer darauf erpicht, beim leisesten Stottern, Zögern den Säbel rasseln zu lassen.
Am Morgen des großen Tages, an dem der Weihbischof aus Trier in die Stadt zur Firmung kommen und mit dem Gedicht begrüßt werden sollte, versprach die "Frollein" dem Kind: "Wenn alles gut geht und du nicht hängen bleibst, kriegst du eine Tafel Schokolade."
Damit hatte das Kind nicht gerechnet. Eine Tafel Schokolade! Von der Z., der von allen gefürchteten Lehrerin! Vor Freude wurde ihm ganz warm. Nein, es würde nicht stecken bleiben, es kannte das Gedicht jetzt in- und auswendig.
Herausgeputzt im schon etwas knapp sitzenden Kommunionkleid vom vergangenen Jahr trat das Kind vor den Weihbischof. Der schaute es für einen Moment milde lächelnd an und ließ seinen Blick über die Menge der Gläubigen schweifen, die zu seiner Begrüßung gekommen war. Der Kirchenchor sang feierlich "Großer Gott, wir loben dich".
Dann kam der ersehnte Augenblick. Das Kind trug mit klarer, lauter Stimme die ersten drei Strophen vor, beherrschte den Text ohne Stottern, setzte zur vierten an, jetzt ganz entspannt in der letzten Runde. Es wagte einen Blick in die Menschenmenge, entdeckte Vater und Mutter, die es aufmerksam anschauten, machte eine kleine, atemlose Pause da, wo sie nicht hingehörte und brachte das Gedicht souverän zu Ende.
Huldvoll nickte der Weihbischof und strich dem Kind über den Kopf. Es knickste und strahlte. Sein Herz hüpfte, wurde jedoch jäh in einen Abgrund geschleudert, als eine Stimme von hinten zischelte: "Die Schokolade hast du nicht verdient. Bist ja doch hängen geblieben."
Erschrocken drehte es sich um, sah der "Frollein" ins Gesicht und wusste, dass jeder Einwand zwecklos war.
Am nächsten Tag in der Schule lobte der geliebte Klassenlehrer das Kind für seinen Vortrag. "Ich wusste, dass du es schaffst", sagte er stolz. Die Klasse applaudierte. Das Kind wurde rot vor Freude. Von der Schokolade erfuhr niemand etwas. Der Gedanke an das gebrochene Versprechen tat noch eine ganze Weile weh.
Etwa 15 Jahre später stand eine junge Lehrerin zum ersten Mal vor der eigenen Schulklasse und blickte lächelnd und aufgeregt in die erwartungsvollen Kindergesichter.



Eingereicht am 15. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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