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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Schwere Wahl
© Regina Hesse
Katrin streckte sich behaglich unter ihrer Decke. Sie wollte diesen Moment des Noch-nicht-ganz-wach-seins möglichst lange hinauszögern. Nach längerer Zeit hatte sie endlich mal wieder ein freies Wochenende. Mit ihrem Mann Peter hatte sie die vermisste Zweisamkeit genossen. Sie waren jetzt fünf Jahre verheiratet und noch immer sehr verliebt.
Katrin arbeitete als Modefotografin und war wochentags ständig unterwegs. Häufig musste sie an den Orten der Modeschauen übernachten. Es war für eine Frau schwer genug in diesem Beruf Fuß zu fassen, denn die Models bewegten sich ganz anders, wenn ein männlicher Kollege die Aufnahmen machte. Inzwischen hatte sie durch ihre sehr professionelle Arbeit einen guten Ruf erworben. Eine namhafte Firma der Modebranche hatte ihr ein beachtliches Angebot gemacht. Allerdings war der Sitz dieser Niederlassung in einer anderen,
weit entfernten Stadt. Es war eine vielleicht nicht wiederkehrende Chance für Katrin. Was aber würde Peter dazu sagen? Sie musste es ihm bald erzählen, denn am Montag erwartete der Personalrat ihre Entscheidung.
Peter arbeitete in einem medizinischen Labor, das mit der Erforschung der Stammzellen beauftragt war. Häufig wurde er um Überstunden gebeten. Selten lehnte er ab, denn was sollte er abends in der leeren Wohnung anfangen? Meistens aß er schnell etwas in der Kantine, obwohl er diese Art Kost ablehnte. Wie gut hatte dagegen doch seine Mutter gekocht! Selbst wenn Katrin zu Hause war, gingen sie meistens in ein gutes Restaurant, denn in ihrer wenigen Freizeit hatte sie keine Lust nur in der Küche zu stehen. Das Frühstück
machte in der Regel Peter, wie auch an diesem Morgen. Er stellte alles auf ein Tablett und brachte es ins Schlafzimmer.
"Aufwachen, Schlafmütze" rief er, stellte Toast und Kaffee hin und setzte sich auf die Bettkante.
Katrin genoss seine Nähe und verdrängte das leidige Thema Karriere.
"Leider kannst du nicht noch länger im Bett bleiben, wir sind bei Gerda eingeladen."
Katrin machte einen Schmollmund. Peter hatte es übernommen, sich um diese Familie zu kümmern, nachdem sein Bruder Herbert verunglückt war. Gerda hatte es nicht leicht mit den beiden Kindern, die noch sehr klein waren. Das sah Katrin auch ein, aber ihre Interessen waren so ganz anders als die ihrer Schwägerin.
Die Kinder freuten sich sehr, als sie Peter sahen. Von Katrin nahmen sie kaum Notiz.
Gerda hatte noch in der Küche zu tun und der kleine Herbert nahm Peter sofort in Beschlag.
"Kannst du mir bitte nochmals zeigen, wie ich mit dem Mikroskop umgehen muss?"
"Natürlich, hole es nur."
Da saßen die beiden mit geduckten Köpfen und starrten auf Pflanzenteile. Peter erklärte alles noch mal und noch mal, bis Herbert es verstanden hatte.
Peter machte einen so entspannten Eindruck, wie Katrin es lange nicht erlebt hatte.
Die strenge Falte auf seiner Stirn war verschwunden und er wirkte geradezu fröhlich. ‚Er wäre ein sehr guter Vater geworden' dachte sie. ‚Ob er mit seinem jetzigen Leben mit ihr wohl glücklich war?' Darüber hatte sie noch nie nachgedacht.
Plötzlich ertönte ein lautes Geschrei. Das Baby war erwacht. Gerda rief aus der Küche:
"Kann mal jemand das Kind holen? Ich kann hier gerade nicht weg."
Peter nickte Katrin zu. Zögernd stand sie auf und ging ins Zimmer nebenan, wo die kleine Anja aus Leibeskräften brüllte.
"Ist ja gut, alles ist gut", sagte sie und hob das Kind hoch. Willig legte es seine Ärmchen um Katrins Hals und rieb die Tränen und die tropfende Nase an ihrer seidenen Bluse ab.
Normalerweise wäre Katrin entsetzt zurück gewichen, aber als sie das kleine Wesen auf ihre Arme genommen hatte, war etwas mit ihr geschehen. Sie konnte es nicht erklären, aber sie hatte das starke Bedürfnis, dieses Kind beschützen zu müssen. Niemals vorher hatte sie eine solche Zärtlichkeit empfunden. Sie streichelte und liebkoste Anja und behielt sie auch auf dem Schoß, als Gerda zum Essen rief.
Gerda wollte sie in ihren Hochstuhl setzen, aber Anja erhob ein erneutes Geschrei und stemmte sich mit ihrer ganzen Kraft gegen ihre Mutter.
"Was hat sie denn nur", sagte Gerda, "das habe ich ja noch nie mit ihr erlebt."
"Ist schon gut", sagte Katrin, "ich werde sie füttern."
Auch nach dem Essen wich Anja nicht von Katrins Seite.
Auf dem Heimweg waren beide Eheleute sehr schweigsam.
‚Gleich muss ich Peter von dem Angebot erzählen. Wie wird er reagieren?'
Aber dann sah sie das kleine Mädchen vor sich und erlebte noch einmal dieses wunderbare Gefühl, das sie überkommen hatte, als sie Anja in ihren Armen hielt. Eine bisher nie gekannte Sehnsucht nach einem eigenen Kind erfüllte sie.
‚Du bist verrückt', schalt sie sich, ‚dein ganzes Leben würde auf den Kopf gestellt. Willst du das wirklich?'
Sie sah ihren Mann von der Seite an. Die strenge Falte war wieder sichtbar. War es nicht schon seit Anbeginn ihrer Ehe auch sein Wunsch gewesen Kinder zu haben? Immer wieder hatte sie es hinaus geschoben. Und seit geraumer Zeit hatten sie nicht mehr über dieses Thema gesprochen. Ihre so genannte biologische Uhr tickte. Das war nicht zu leugnen. Aber ihr schönes Leben, ihre Reisen und die finanzielle Seite. Das alles musste wohl überlegt sein. Aber hatte sie nicht schon viel zu lange nachgedacht?
Als sie später im Bett lagen, wollte sie von dem Angebot des großen Modehauses erzählen. Aber dann gehorchte sie ihrer inneren Stimme. Sie öffnete die Nachtischschublade, nahm das Päckchen mit den Kondomen heraus und warf es in hohem Bogen gegen die Wand. "Die brauchen wir nicht mehr", rief sie und sah gleichzeitig ein ungläubiges, aber sehr frohes Leuchten auf dem Antlitz ihres Mannes.
Eingereicht am 15. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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