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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Himbeerrot und Himmelblau
© Michaela Abresch
Herrschaftlich thronte die alte Villa inmitten eines verwilderten Gartens, in dem im Sommer Mohnblumen und wilde Margeriten wuchsen. Jahrelang war sie unbewohnt gewesen, doch an einem Tag im letzten Frühling rückte eine Malerkolonne an, die ein Gerüst an der Fassade aufbaute und damit begann, den schmutzig-grauen Putz zu überstreichen. Der neue Farbton erinnerte Inga an einen wolkenlosen Frühlingshimmel. Blieb man vor der Umzäunung stehen und kniff die Augen zusammen, konnte man durch die Blätterkronen der Kastanienbäume,
die die Auffahrt säumten und ebenso alt wie das Haus selbst sein mochten, einen Blick auf die himmelblau getünchten Hauswände werfen, auf die Fenster mit den weißen Holzläden und den Turmerker an der Westseite. Man tat es, vor allem die Kinder taten es - und da schloss Inga sich nicht aus, obschon sie es grundsätzlich vermied, mit den anderen Kindern der Straße in einen Topf geworfen zu werden; immerhin war sie fast vierzehn - man tat es also in der Hoffnung, einen Blick, nur einen klitzekleinen, auf die eigenartige
Bewohnerin der alten Villa zu erhaschen. Um mitreden zu können. Um in den erlesenen Kreis derer aufgenommen zu werden, denen es bei einem solchen Blick in den Garten bereits gelungen war, die sonderbare Alte zu sichten. Denn auf diese Art und Weise hatten sich im Laufe der Zeit, während der die Villa nun wieder bewohnt war, viele rätselhafte Details angesammelt. Details, auf Grund derer sich alle Bewohner der Straße - und auch hier nahm Inga sich nicht aus - ein perfektes Bild von der Alten gemacht hatten. Niemand
hatte je mit ihr gesprochen, niemand wusste, was sie den ganzen Tag in diesem riesigen Haus trieb und niemand kannte ihren Namen.
Und in Anbetracht ihres feuerroten Schopfes und der vielen schwarzen Katzen, die auf dem Grundstück umherstreunten, nannten alle sie nur die Hexe. Die Kinder versuchten sich gegenseitig mit immer neuen, sensationellen Einzelheiten über Gestalt oder Gebaren der Hexe zu überbieten, und die Erwachsenen schürten die Phantasie der Kinder, indem sie abstruse Behauptungen in die Welt setzten, und es dabei so manches Mal auf die Spitze trieben. Beispielsweise wollte jemand dreizehn Warzen im Gesicht der Hexe gezählt
haben. Andere behaupteten, ihre Hände seien zerfurcht von Runzeln und ihre Fingernägel so lang und gebogen wie die Krallen eines Geiers. Wieder andere beteuerten, sie in sternklaren Nächten regelmäßig dabei zu beobachten, wie sie mit einer ihrer Katzen auf der Schulter über das Anwesen schlich und dabei heulte wie ein Kojote.
Im Stillen musste Inga zugeben, einen ausgesprochenen Gefallen daran gefunden zu haben, sich die gruseligsten Neuigkeiten über die Hexe aus den Fingern zu saugen, um sie anschließend - vor allem unter den Kleineren, die beim Spielen einen respektvollen Abstand zu der himmelblauen Villa hielten - zu verbreiten. Sie weidete sich an den weit aufgerissenen Augen und Mündern ihres Publikums, wenn sie schauerliche Einzelheiten über Froschblut und Rattenhaare, Besenritte bei Vollmond oder das nächtliche Geheul der
Katzen erzählte.
Hinter der himmelblauen Villa endete die Straße und ging über in einen staubigen Schotterweg, der einen Knick nach rechts machte und an der Seite des riesigen Grundstückes entlang führte. Folgte man ihm, gelangte man am Ende, nachdem nicht mehr als ein schmaler, ausgetretener Pfad übrig geblieben war, in den angrenzenden Wald. Ein zwei Meter hoher schmiedeeiserner Zaun und dichtes Gebüsch dienten dazu, Waldtiere vom Hexengrundstück ebenso fernzuhalten wie neugierige Blicke. Doch dort, wo die Büsche etwas lichter
standen - Himbeersträucher, deren Äste weit über den Zaun reichten - hatte Inga eine Stelle gefunden, von wo aus sie einen vortrefflichen Blick auf den rückwärtigen Gartenbereich hatte. Auch heute hielt Inga an dieser Stelle Ausschau nach der verrückten Alten, und während ihr Blick über die Blumenwiese hinweg zum Haus zog, wanderten ganz nebenbei einige der roten, zuckersüßen Früchte von den überhängenden Ästen in ihren Mund. Jedes Mal, wenn sie hier stand und gedankenlos Himbeeren naschte, die ihr nicht gehörten,
fühlte sie sich wie die Gretel aus dem Kindermärchen, die den süßen Versuchungen des Hexenhauses gleichermaßen verfallen war. Fehlte nur die säuselnde Stimme, die ihr den Spruch vom Knusperknäuschen ins Ohr flüsterte. Bei dem Gedanken daran musste Inga lächeln. Sie pflückte eine letzte Himbeere ab, spähte noch einmal in den Garten und als sie die Hexe nirgends entdecken konnte, wandte sie sich ein wenig enttäuscht zum Gehen. Doch noch bevor sie einen Schritt getan hatte, hörte sie ein Geräusch im Himbeergestrüpp,
gerade so, als schiebe jemand die langen, biegsamen Äste beiseite. Wie angewurzelt blieb Inga stehen, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie versuchte sich zu beruhigen. Vielleicht war es nur eine der Katzen? Doch selbst die Katzen blieben nicht verschont vom Erfindungsreichtum der Nachbarn und das Gerücht, in Wirklichkeit habe die Hexe sie verzaubert und verwandele sie nur in Neumondnächten zurück in ihre ursprüngliche Gestalt, zu kleinen, buckligen Gnomen mit fratzenhaften Gesichtern, hielt sich hartnäckig und
ließ selbst den älteren Kindern einen Schauer über den Rücken laufen.
Ingas Mund war mit einem Mal staubtrocken; sie fühlte sich außerstande, auch nur einen Schritt zu tun. Fest richtete sie ihre Augen auf das Himbeerdickicht, in dem es jetzt unentwegt knackte. Sie hätte nicht sagen können, was oder wen sie im nächsten Augenblick erwartete. Eine harmlose schwarze Katze? Oder doch einen verwachsenen Gnom? Oder das Warzengesicht höchstpersönlich? Inga hielt den Atem an, als sich ein Arm seinen Weg bahnte - unverkennbar ein Menschenarm - und einen besonders kräftigen Zweig energisch
nach unten drückte. Sie machte sich darauf gefasst, nun allen Hässlichkeiten und Abartigkeiten ins Gesicht sehen zu müssen, die bisher nur in ihrer Phantasie gelebt und die sie zum Teil selbst erschaffen hatte. Das rote Haar - es war in der Tat feuerrot! - leuchtete im Geäst und schon standen sie sich gegenüber! Inga war sicher, dass niemand der Hexe jemals aus dieser Nähe ins Angesicht geschaut hatte.
Whow! Was würde sie den anderen erzählen können! Finn und Nils würden an ihren Lippen hängen! Sie würden nicht genug bekommen!
Nicht mehr als zwei Armlängen trennten sie voneinander. Inga starrte die Hexe an, die zierlich und nicht größer als Inga selbst hinter dem Zaun aufgetaucht war. Das rote Haar hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten und lose am Hinterkopf aufgesteckt. Sie trug eine helle Leinenhose und eine weiße Tunika darüber. So stand sie da, umrankt von Himbeerruten, mit einem Erntekorb im Arm, der bereits zur Hälfte mit den süßen Früchten gefüllt war und lächelte Inga an. Sie lächelte! Und in ihrem Gesicht, das sonnengebräunt
war und in dem zwei freundliche, blaue Augen blitzten, konnte Inga ablesen, das sie mindestens ebenso überrascht zu sein schien wie sie selbst. Binnen Sekundenbruchteilen stellte Inga fest - und sie tat es mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung - dass Falten, Runzeln und all die anderen Abscheulichkeiten reine Hirngespinste waren. Mit einer Stimme, die erstaunlich jung klang, hörte sie die Hexe sagen: "Sie schmecken lecker, nicht wahr? Ich wusste gar nicht, dass es so viele sind!"
Inga versuchte die Trockenheit in ihrem Mund herunter zu schlucken, was ihr nicht gelang und weswegen ihre Stimme sich fremd und heiser anhörte: "Ja … ja, sie sind … so süß … sie hängen so weit über den Zaun, dass man nicht anders kann…als sie zu pflücken …"
Es hörte sich nach einer Entschuldigung an, doch die Hexe lächelte nur.
"Es ist schon in Ordnung. Es bleiben genug für mich!"
Die kleine Frau strahlte Inga an und alles an ihrem Äußeren widersprach den scheußlichen Beschreibungen, die über sie kursierten. Sie war weder steinalt noch hässlich, sie hatte keinen Hexenbuckel und keine einzige Warze im Gesicht. Und bei einem flüchtigen Blick auf die Hände, die unablässig Himbeeren von den Zweigen pflückten, stellte Inga fest, dass ihre Fingernägel ordentlich geschnitten waren und durchaus menschlich aussahen. Sie war eine freundlich lächelnde, kleine Frau, die eine gewaltige Sympathie ausstrahlte
und das war es, was Inga neugierig machte.
Mit geschickten Handgriffen zupfte die Hexe eine Himbeere nach der anderen von den Zweigen und legte sie behutsam in den Korb zu den anderen.
"Ich muss jetzt gehen", sagte Inga. Noch immer klang ihre Stimme rau und krächzend. Die Hexe lächelte ihr durch die Eisenstäbe des Zaunes zu und Inga glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren, als sie sie erwidern hörte: "Ich koche Marmelade daraus. Wenn du möchtest, komm doch morgen früh und hilf mir dabei!"
Unwillkürlich wich Inga einen Schritt zurück. Sie nickte, rang sich ein Lächeln ab und trat dann mit zügigen Schritten den Heimweg an.
Lieber Himmel, eine Einladung! Eine Einladung ins Hexenhaus! Wenn sie das den anderen erzählte! Es würde ihr niemand glauben, da war sie sicher. Inga merkte nicht, dass sie ihre Schritte beschleunigte. Erst als sie fast lief, fiel es ihr auf. Sie schien nicht schnell genug nach Hause kommen zu können und sie überlegte, ob der Grund dafür die Vorfreude sein könne, ihre Neuigkeiten so bald wie möglich mit Nils und Finn zu teilen oder das beklemmende Angstgefühl, welches sich irgendwo zwischen Kehle und Magengrube
gehockt hatte und stetig wuchs. Die Vorstellung, mutterseelenallein die Schwelle der geheimnisvollen, himmelblauen Villa zu übertreten und sich dort mit der Hexe und ihren verwandelten Katzengnomen aufzuhalten - und sei es nur zum Marmeladekochen - trieb ihre Aufregung in Schwindel erregende Höhen. Doch zugleich wuchs auch ihre Neugierde ins Uferlose. Sie wusste, dass alle Kinder und die meisten Erwachsenen etwas dafür gäben, einmal einen Blick ins Innere des Hexenhauses zu werfen und nun sollte sie die erste
und vielleicht die einzige sein, der dies gewährt wurde.
"Und das traust du dich?"
Nils stand seiner großen Schwester mit offenem Mund gegenüber und es bereitete ihm offensichtlich eine enorme Mühe, die Sensation in seinem kleinen Schädel zu verarbeiten.
Er ahnte nicht, dass der Mut und die Beherztheit, die Inga nach außen hin vortäuschte, gewaltig mit dem beunruhigenden Gefühl in ihrer Magengrube kollidierten. Doch vor ihren jüngeren Brüdern konnte Inga ihre Schwäche unmöglich zugeben, eine derartige Blöße zeigte man allerhöchstens seinem Spiegelbild. Außerdem hatte sie ihnen die volle Wahrheit über das Aussehen der Hexe vorenthalten. Da die Wirklichkeit nicht einmal halb so spektakulär zu sein schien, wie die Mutmaßungen und die Erfindungen, die sich um die
alte Frau rankten, war sie bei der Version von dem abstoßenden Warzengesicht geblieben. Nils und Finn und alle anderen würden mit Sicherheit maßlos enttäuscht sein, wenn sie erfuhren, dass die Geschichten um die Verrückte aus der himmelblauen Villa nichts weiter als eine Illusion waren. Also antwortete sie auf Nils' Frage gelassen: "Klar! So eine Chance kann ich mir nicht entgehen lassen!"
Finn, der Inga offensichtlich um ihr Privileg beneidete, meldete erste Bedenken an: "Was, wenn das nur eine Masche ist? Stell dir vor, sie kocht gar keine Himbeermarmelade oder …" Mit zusammengezogenen Augenbrauen und einer steilen Falte auf der Stirn dachte er nach, "… oder sie tut Gift rein … oder Froschblut … oder Katzenhaare …"
Er schien in Fahrt zu kommen. Nils, der bisher bewundernd an Ingas Lippen gehangen hatte, wandte sich nun Finn zu, der mit seinen Spekulationen die Phantasie seines kleinen Bruders zum Eskalieren brachte.
"Vielleicht will sie dich in ihre Hexenkünste einweihen!", setzte Finn abschließend hinzu und damit gelang es ihm, endgültig jegliche Farbe aus dem Gesichtchen seines Bruders zu vertreiben. Schreckensbleich griff Nils nach der Hand seiner Schwester und flehte: "Oh Inga, tu es nicht! Geh nicht zu ihr! Stell dir vor, Finn hätte Recht und sie macht was ganz Scheußliches mit dir … oder sie frisst dich auf!"
Der kleine Kerl war inzwischen den Tränen nahe. Inga nahm ihn tröstend in die Arme und versprach ihm, auf sich aufzupassen; und während sie ihm besänftigend übers Haar strich, spürte sie wieder das beklemmende Gefühl im Bauch aufwallen, und sie fragte sich, ob es eine Warnung sein könnte und sie das geplante Vorhaben rückgängig machen sollte.
Am Abend schlossen die Geschwister einen Pakt. Niemand, schon gar nicht die Eltern durften von Ingas Einladung in die Hexenvilla erfahren. Ingas Begegnung an den Himbeersträuchern hingegen hatte sich, dank Finn, innerhalb weniger Stunden wie ein Lauffeuer in der Straße verbreitet.
Der darauf folgende Tag war ein Samstag. Inga hatte in der vergangenen Nacht so gut wie kein Auge zugetan, zu sehr drückte sie das mulmige Gefühl, das noch immer zwischen Kehle und Magengrube saß und keine Anstalten machte, diesen Platz jemals wieder zu verlassen.
Die Stunden der Nacht hatten sich zäh wie Kaugummi dahin gezogen und aus allen Winkeln und Ritzen ihres Zimmers waren bedrohliche Schatten hervor gekrochen, die sich nur mühsam ignorieren ließen. Dankbar hatte Inga gegen fünf Uhr in der Frühe durch die Vorhänge ihres Fensters den Morgen dämmern sehen und erst dann fielen ihr die Augen zu. Nach dem Frühstück zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Sie setzte sich auf die Kante ihres Bettes, stand auf, setzte sich wieder hin, ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab und
zermarterte sich dabei den Kopf, welchem der beiden Gefühle, die in ihrem Innern miteinander rangen, sie nachgeben sollte. Ihre eigenen Lügengeschichten schienen sich nun gegen sie zu wenden, sie schürten die Furcht auf eine unheimliche Weise. Was, wenn Finn Recht behielte und die Einladung ein Trick war? Wahre Hexen konnten ihre Gestalt verändern, das wusste jedes Kleinkind. Vielleicht stellte die Hexe ihr eine Falle, in dem sie Freundlichkeit vortäuschte, die in Wirklichkeit aus Hinterlist bestand; blaue Augen,
die in Wahrheit giftgrün funkelten und vielleicht sollten himmelblau und himbeerrot lediglich dazu dienen, Kindern wie Inga die Sinne zu vernebeln?
Ein Schauer lief Inga über den Rücken. Doch schließlich trug die Neugierde den Sieg über die Angst davon und der gesunde Menschenverstand behielt die Oberhand. Energisch rief Inga sich zur Ordnung: "So ein Quatsch! Das sind doch alles Erfindungen! Sie ist eine nette, alte Dame und ich werde jetzt Marmelade mit ihr kochen!"
Entschlossen lief sie aus dem Haus und die Straße hinunter. Doch je näher sie der alten Villa kam, desto verhaltener wurden ihre Schritte. Ihr Herz pochte in einem unnatürlichen Rhythmus, die Innenflächen ihrer Hände waren schweißnass.
Eine ganze Weile stand sie vor dem verriegelten Tor und starrte durch die Zwischenräume der Eisenstäbe. Alles war so wie immer. Die Sonne spiegelte sich in den vielen Fenstern des Hauses und der Sommerwind strich sanft durch die Baumkronen der Kastanienbäume, in denen Vögel zwitscherten. Inga war dankbar für die Friedlichkeit, die über dem Anwesen lag. Sie erleichterte ihr den Entschluss, ihre Angst zu besiegen und der unbändigen Neugierde nachzugeben, ungemein. Dennoch zitterte ihr Finger, als er sich zögernd
auf den messingfarbenen Klingelknopf legte. Inga wartete. Nichts geschah. Sie läutete noch einmal. Ihre Aufregung stieg ins Unermessliche und sie beschloss, nicht noch ein drittes Mal zu klingeln. Sie wartete noch einen Moment, dann wandte sie sich zum Gehen.
"Hallo, warte doch!"
Inga erschrak. Sie holte tief Luft und drehte sich wieder zurück zum Tor. Sie spähte hindurch und sah, wie sich die Hexe mit eiligen Schritten näherte. Sie trug ein türkisfarbenes, knöchellanges Sommerkleid, das sich bei jeder Bewegung leicht und luftig aufbauschte. Ihr Haar war im Nacken zu einem dicken Zopf zusammen gebunden.
Sie sieht vollkommen normal aus, murmelte Inga und sie tat es so leise, dass es außer ihr niemand hören konnte.
Als die Hexe näher kam, bemerkte Inga einen Ring in ihrer rechten Hand, an dem ungezählte Schlüssel klapperten. Einen von ihnen steckte die Hexe in das Torschloss, drehte ihn zweimal herum, öffnete das Tor einen Spalt und ließ Inga herein. Danach verriegelte sie das Tor sehr sorgfältig.
Wieso schließt sie das Tor wieder ab?
"Schön, dass du da bist! Ich hatte so lange keinen Besuch!", sagte die Hexe und es klang ehrlich und freundlich. Nebeneinander gingen sie den Kiesweg hinauf zur Eingangstür. Die winzigen Steinchen knirschten unter ihren Schuhsohlen, die Morgensonne wärmte ihre Gesichter und die Vögel sangen weiter in den Ästen der alten Bäume. Vor der Haustür, die offen stand, räkelten sich zwei schwarze Katzen in der Morgensonne. Aus schmalen, gelben Augenschlitzen sahen sie Inga gelangweilt an, um sich sofort wieder
zusammenzurollen und weiterzudösen. Die Atmosphäre, die das Hexenhaus umgab, hätte fast etwas Harmonisches haben können, wäre da nicht das verriegelte Tor, angesichts dessen Inga sich in diesem Augenblick fragte, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen.
Die Hexe ging voran. Inga stellte fest, dass ihr türkisfarbenes Kleid und das feuerrote Haar sich vor der himmelblauen Farbe der Hauswand ausgesprochen gut ausnahmen. Sie schien Farben zu mögen.
Klopfenden Herzens betrat Inga die größte Diele, die sie jemals gesehen hatte. Den dunklen Holzfußboden bedeckte ein Webteppich mit orientalischen Mustern, der so groß war, dass er von einer Wand zur anderen reichte. Sie durchschritten einen weiteren Raum, und dann noch einen und Inga folgte dem türkisfarbenen Kleid ohne Fragen zu stellen. Sie schaute und schaute und wusste nicht, wohin zuerst. An den hohen Fenstern, durch die die Strahlen der Sonne fielen, welche winzige Staubkörnchen in der Luft tanzen ließen,
hingen bodenlange, dunkelblaue Samtvorhänge. Es gab Wandteppiche mit arabischen Schriftzeichen und runde Papierlampions mit Quasten, die an den Decken hingen; tönerne Krüge und Kalebassen, die an Afrika erinnerten; fremdartig aussehende Musikinstrumente; Regale voller Bücher, exotisch anmutende Grünpflanzen und überall Bilder, Bilder, Bilder. Es schien nicht eine freie Zimmerwand in diesem Haus zu geben.
"Das ist meine Küche!", hörte Inga die Hexe hinter sich sagen, "ich wollte gerade damit anfangen, die Himbeeren einzukochen."
Inga sah sich um. Sie lächelte. Nichts, absolut nichts erinnerte auch nur im Entferntesten an das Gerücht von der brodelnden, mystischen Hexenküche, über die Finn so gerne spekulierte.
Auf dem Elektroherd wartete ein mächtiger Topf und auf dem Holztisch daneben der Korb mit den Himbeeren, Einkochzucker und unzählige saubere Marmeladengläser, die kopfüber auf einem karierten Geschirrhandtuch standen.
"Mein Name ist Violetta!"
Die Hexe reichte Inga eine saubere, kleine Hand. Doch Inga zögerte. Was war das für eine Weisheit, die Finn so gerne zum Besten gab? Sobald man einer Hexe die Hand reicht, überlässt man ihr zugleich seine Seele! Das mulmige Gefühl in der Magengrube verstärkte sich kurzzeitig, aber es sollte nicht lange andauern. Denn als Inga mutig die angebotene Hand nahm, spürte sie, wie sich ihre ersten Ängste mit diesem Händedruck in Luft auflösten.
Inga blieb drei Stunden, doch sie merkte nicht, wie die Zeit verging. Sie kochten neunzehn Gläser himbeerrote Marmelade, und als sie fertig waren, schnitt Violetta ein backofenfrisches, süßes Hefebrot an und bestrich zwei dicke Scheiben mit der ersten Kostprobe. Sie lachten und redeten und leckten sich die Marmelade von den Fingern. Violetta erzählte wunderschöne Geschichten über Länder, die Inga nur von Bildern kannte und dabei glitzerten Wehmut und Fernweh in ihren Augen. Ergriffen lauschte Inga der sanften
Stimme, mit der Violetta die Unendlichkeit der Ozeane beschrieb, die Stille der Wüsten, die raue Schönheit der nordischen Länder oder die Weite der russischen Taiga. Sie erzählte auf eine Weise, die Inga in eine andere Welt eintauchen ließ und es schien, als habe sie den Alltag, der ihr mit einem Mal trist und farblos vorkam, draußen vor dem schmiedeeisernen Tor zurückgelassen. Als Violetta endete, war es, wie aus einem Traum zu erwachen.
Erzähl weiter, hätte Inga am liebsten gerufen und vielleicht konnte Violetta Gedanken lesen, denn sie lehnte sich auf dem Küchenstuhl zurück und erzählte Inga ihre Geschichte:
"Es gab einmal einen Mann, den ich sehr liebte. Und er liebte mich auch, wenigstens nannte er das so. Wir heirateten. Doch schon nach kurzer Zeit merkte ich, dass ihm meine äußere Hülle wichtiger war als mein Inneres. Er belächelte meine Träume, nahm die Malerei nicht ernst, und vor seinen Freunden behandelte er mich wie ein dummes, kleines Kind. Zum Glück merkte ich früh genug, dass er nichts anderes versuchte, als mich zu verändern. Ich sollte mich für all die Dinge interessieren, die er mochte und für
meine eigenen Träume war bald kein Platz mehr. Er hatte Geld und sorgte für mich. Ja, er sorgte für mich … Ich konnte mir alles kaufen, was mir gefiel und er überhäufte mich mit Geschenken.
Doch das, was ich wirklich brauchte, konnte er mir nicht geben. Und ich glaube, er merkte es nicht einmal. Auf eine gewisse Weise liebte ich ihn trotzdem. Also wahrte ich den Schein. Viele Jahre lang. Dann verunglückte er mit dem Auto. Es goss in Strömen und er verblutete auf der Straße, bevor die Sanitäter kamen. Ich blieb allein zurück. In den ersten Wochen nach seinem Tod kam ich mir vor wie ein Kind, das seine Eltern verloren hat. Ich war hilflos und traurig. Ja, ein bisschen traurig war ich wohl wirklich.
Doch dann beschloss ich, endlich zu leben. Er hatte mir eine Menge Geld hinterlassen, mehr, als ich ahnen konnte und damit erfüllte ich mir all die Träume, die ich fast verloren hätte. Ich bereiste Länder, Städte, Meere, Gebirge, Wüsten und all die Orte mit den wunderschönen Namen, die ich nur aus Büchern kannte. Ich lernte ihre Kulturen kennen, ihre Sprachen und ich malte sie…Oh ja, ich malte sie! Und mit der Verwirklichung meiner Träume schuf ich mir Erinnerungen, die mir niemand mehr nimmt. Darum habe ich
dieses großartige Haus gekauft und es gefüllt mit meinen Erinnerungen. Vom Keller bis zum Dachboden … jeden Raum … Das ganze Haus steckt voller Erinnerungen! Die ganze, wunderschöne, bunte Welt steckt darin!"
Violetta war aufgesprungen, sie stand jetzt mitten in der Küche, drehte sich mit ausgebreiteten Armen um sich selbst und begann euphorisch zu lachen. Wenn ihre Stimme nicht so jung, ja, beinah kindlich geklungen hätte, wäre es beängstigend gewesen.
"Die ganze Welt steckt darin …. die ganze Welt …"
Der fließende Stoff des türkisfarbenen Kleides flatterte um sie herum wie ein Segel im Wind, und die kleinen Füße, die in hellen Leinenschuhen steckten, trippelten leise über das Schachbrettmuster des Linoleums. Sie lachte immerzu und sie drehte sich, und Inga glaubte schon, sie gleich auffangen zu müssen, weil sie durch den Taumel ihr Gleichgewicht verlieren würde. Doch im selben Augenblick blieb Violetta abrupt stehen. Das Lachen erstarb und sogleich verwandelte sich ihre Begeisterung in Niedergeschlagenheit.
Schweigend sank sie auf ihren Stuhl. Nach einer Weile flüsterte sie:"Doch was nützt mir die ganze Welt, wenn es niemanden gibt, der sie mit mir teilt?"
Ihre Blicke trafen sich. In Violettas Augen lag der ganze Kummer einer einsamen, alten Frau, die sich nach nichts weiter als nach Verständnis und ein bisschen Freundlichkeit sehnt.
Inga schluckte. All die zahllosen Gehässigkeiten, die boshaften Lügenmärchen, die Beleidigungen und ihr eigenes verachtendes Gelächter, mit dem sie jeden Tag aufs Neue gedankenlos spielte, ballten sich zusammen und setzten sich wie ein Kloß in ihren Hals. Sie verspürte den Drang, Violetta die Wahrheit über das Hexengerücht zu erzählen.
"Alle … alle glauben, dass … dass Sie …"
Die Worte klebten auf ihrer Zunge fest, als weigerten sich, ausgesprochen zu werden. Doch Violetta selbst war es, die den Satz beendete: "… dass ich eine Hexe bin, nicht wahr? Weil ich rotes Haar habe und schwarze Kätzchen bei mir wohnen lasse … Ich weiß, was die Leute reden … Sie tun es, weil sie nicht ahnen, welchen Schaden sie einer Menschenseele damit zufügen …"
Traurig blickte sie Inga ins Gesicht: "Du bist noch jung, Inga. Und junge Menschen müssen ihre eigenen Erfahrungen machen, doch glaub einer alten Frau, auch wenn sie dir ein wenig wunderlich erscheint: Die wenigsten Dinge im Leben sind so, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Eine himmelblaue Villa ist kein Hexenhaus, nur weil eine rothaarige, alte Frau darin wohnt. Und eine rothaarige alte Frau ist keine Hexe, nur weil sie ein bisschen scheu ist und ihr Tor verschließt, um sich vor den Menschen zu schützen,
die etwas aus ihr machen, was sie nicht ist. Und niemand ist verrückt, weil er in einem Haus voller Erinnerungen und Träume lebt … nein, nicht verrückt … vielleicht ein bisschen einsam …. aber nicht verrückt …"
Durch einen Schleier aus Tränen sah Inga die kleine, einsame, alte Frau dort sitzen, in ihrem türkisfarbenen Sommerkleid, und sie sah, dass eine der schwarzen Katzen auf ihren Schoß sprang, als könne sie die Traurigkeit und die Einsamkeit spüren, die plötzlich über allem lag. Liebevoll kraulte Violetta das seidige Fell des Tieres, das schnurrend seinen Kopf in ihre Armbeuge schmiegte. Inga schluckte die aufsteigenden Tränen herunter, mit einer verstohlenen Handbewegung wischte sie sich über die Augen.
Und plötzlich verstand sie.
Eingereicht am 15. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.