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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Wer liest denn schon Gedichte!
© Thomas Stein
Männer, die sich verlieben, verhalten sich wie unkontrollierbare Geschosse. Man kann unmöglich vorhersagen, was sie im nächsten Augenblick anstellen.
Nein, nicht mal annähernd ist klar, was sie tun werden, wenn eine bestimmte Situation eintritt.
Es kommen Verhaltensweisen zum Vorschein, die sich mit logischem Denken nicht erklären lassen.
Vielleicht liegt das zum Teil auch daran, dass immer nur ein wichtiges Körperteil gleichzeitig gut durchblutet sein kann. Also entweder Gehirn oder Penis.
Aber es kann auch sein, dass alles nur ein großer Irrtum ist, wenn man das ganze Theater, das da zum Teil veranstaltet wird, nur auf Durchblutungsstörungen zurückführt.
Nun ich bin kein Arzt, auch kein Psychoanalytiker, auch nicht im Entferntesten eine kompetente, aussagekräftige Person, der man, schon weil sie eine gewisse Seriosität ausstrahlt und rhetorisch gut gewappnet ist, alles glauben möchte.
Ich bin nur ein Geschichtenerzähler, ein Träumer, ein Spinner. Aber glauben Sie mir, in unserem Innern hockt etwas und lauert mit stahlharten, angespannten Muskeln nur auf diese eine Chance, einmal für kurze Zeit an die Oberfläche zu kommen, einmal all die Energie freizusetzen, die sich da irgendwo tief in uns angestaut hat und dann? Was passiert dann? Ich helfe Ihnen gern auf die Sprünge, es entstehen unkontrollierbare Geschosse.
Oder wie wollen Sie zum Beispiel sonst erklären, dass jemand, den ich glaubte ganz gut zu kennen, auf einmal, völlig aus heiterem Himmel hundertdreiundzwanzig Gedichte schreibt für oder wegen einer einzigen Frau. Ist das vielleicht normal? Kann man mit so einem überhaupt noch vernünftige Gespräche führen?
Ist das nun der Blutdruck oder was?
Wenn ich so einem begegne und ich schaue mir nur kurz dieses armselige Würstchen an, dann denke ich doch bloß man, den hat's aber erwischt! Armer Irrer! Wer liest denn schon Gedichte!
Hat der nicht begriffen, was da heute so abgeht? Schnallt der überhaupt noch, was da so läuft zwischen Männlein und Weiblein? Glaubt der eigentlich noch an den Weihnachtsmann?
Dabei, das muss man sich mal vorstellen, der hat eine Frau! Acht Jahre jünger als er ist die, hübsch und intelligent! Ich kann Ihnen sagen! Da geht einem doch der Hut hoch! Kann dieser Mensch nicht zufrieden sein? Warum ist der so umtriebig und rastlos? Kriegt der zu wenig Sex? Wie schon gesagt, ich kenne den Kerl ziemlich gut. Zumindest hatte ich das bis jetzt geglaubt. Ich kann Ihnen versichern, der war gut versorgt, wenn Sie wissen, was ich meine.
Dabei, der ist nicht mal ein Draufgänger! Kriegt sein Maul nicht auf, wenn jemand neben ihm sitzt, den er nicht kennt. Egal ob Frau oder Mann.
Also, wenn Sie sich so einen Goldkettchen-Fuzzy mit prallen tätowierten Oberarmen, kleinem Kopf und einem Oberkörper so breit wie ein Audi A6 vorstellen können, dann ist der genau das Gegenteil. Um Gottes willen, ich will ihn jetzt nicht in Schutz nehmen! Glauben Sie mir! Ich habe auch nichts gegen den Audi A6!
Aber unsere lange, intensive Freundschaft basierte eben auch darauf, dass wir mit solchen Aufreißertypen nichts am Hut hatten. Und das nicht nur deshalb, weil diese Kunden uns schon früher die besten Frauen weggeschnappt hatten. Eine Tatsache, die sich ebenfalls nicht unbedingt mit Logik erklären lässt.
Was finden Frauen an solchen Hohlkörpern? Entschuldigen Sie den etwas drastischen Ausdruck. Er beschreibt doch nur die wichtigste Eigenschaft eines solchen Zeitgenossen. Dummheit gepaart mit dicken Eiern.
Ist das die Evolution? Ist das natürliche Auslese? Dann will ich lieber nicht wissen, was noch alles auf uns zukommt!
Zum Glück sollen das ja eher langsame Prozesse sein, die von uns fast unbemerkt ablaufen. Aber, kriegen wir überhaupt noch etwas mit, wenn wir uns wie unkontrollierbare Geschosse durch die Welt bewegen, den Frühling wittern und Gedichte schreiben?
Wer liest denn schon Gedichte!
Eingereicht am 15. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.