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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Mädchen Lena

© Michael Dissieux


Ich sah sie zum ersten Mal zwei Wochen vor dem Weihnachtsfest.
Wir schrieben das Jahr 1943, und es war ein weiterer grauer und trostloser Tag in der Hölle. Der Wind blies eisig durch das Lager. Der erste Schnee fiel schweigsam hernieder und bedeckte das Dunkle dieses Ortes mit seinem glitzernden, fast friedlich anheimelnden Tuch.
Sie kam am frühen Morgen. Der Zug rollte ratternd und schwitzend durch das große Tor, der Rauch der Dampfkessel hüllte den eisernen Schriftzug über dem Portal in Nacht.
Wie absurd die Worte klangen, die man, aus Stahl geschmiedet, über dem Tor angebracht hatte. Und doch enthielten sie, verschwendete man viele Jahre später einen Gedanken an jenen Leitsatz, eine groteske Wahrheit, die damals nur wenige kannten, jedoch umso mehr zu spüren bekamen. Arbeit machte tatsächlich frei. Doch wen befreite sie? Und von was befreite sie diejenigen, welche ihren Verstand und ihr Zutrauen diesen Worten unterwarfen?
Als sie im Lager ankam, war ich bereits tot. Die wenigen Monate hatten mich vernichtet. Ich wusste nicht mehr, dass der Mensch Gefühle besaß. Ich kannte kein Lachen, keine Tränen. Keine Freude und keine Furcht. Nur eine erschreckende, routinierte Eintönigkeit hielt mich in jener Zeit aufrecht und trieb mich Tag für Tag voran, wie sich eine Marionette unter den Händen des Spielers bewegen mochte. In der Nacht brachte die Monotonie dunkle Träume mit, die ich nicht verstehen wollte. Tränen besaß ich längst keine mehr.
Der Zug rollte, einem schwarzen Scheusal gleich, durch das Lager und kam an der Verladerampe nahe des Tores mit dem absurden Leitsatz zum Stehen. Ich bezog, abgestumpft und gefühllos, meinen Posten im Hof, stützte mich auf mein Gewehr und versuchte meine Hände zu wärmen, indem ich sie aneinander rieb. Interesselos betrachtete ich mir das alltägliche, menschenverachtende Schauspiel. Am Ende der Rampe erkannte ich, wie so oft, jenen Menschen, der sich selbst als Arzt dieses Lagers bezeichnete, und dessen Namen einmal zu schrecklicher Legende mutieren sollte, was uns in der damaligen Zeit aber natürlich noch nicht bewusst war. Für mich war er nur ein weiteres Monster in einer Horde von Ungeheuern.
Er stand in seiner typischen, anmaßenden Haltung neben dem Zug und pfiff eine Melodie, die mich bis heute in meinen schwärzesten Träumen verfolgt. Befehle wurden gebrüllt, und die Schiebetüren der Eisenbahnwaggons aufgerissen, während die Hunde des Lagers, deutsche Schäferhunde mit wütenden, kleinen Augen, bellten und knurrten. Der gesamte Innenhof war in gleißendes Scheinwerferlicht getaucht.
Der Transport an diesem Morgen war, im Vergleich zu den übrigen Tagen, relativ klein.
Strömten sonst Hunderte von Menschen verstört und verängstigt aus den Waggons, so waren es an jenem Morgen noch keine fünfzig. In meiner, von Kälte und Tristesse geschürten Gleichgültigkeit erkannte ich, dass es sich ausnahmslos um Kinder handelte. Ich schätzte die jüngsten auf sieben Jahre, die ältesten auf vierzehn. Die grausame Routine der Selektion dauerte nur einige Minuten, in denen der Arzt, immer noch pfeifend, abwechselnd nach links oder rechts deutete. Die rechte Gruppe war die kleinere, nicht mehr als zehn Kinder. Ich wusste, dass ich die übrigen, die linke Gruppe, nie wieder hier im Lager zu Gesicht bekommen würde. Lastwagen mit träge ratternden Motoren warteten bereits.
Zu der kleineren Gruppe, jene zehn Kinder, die eng aneinander gedrückt in der Kälte dieses Morgens standen, umringt von bellenden Hunden und Männern, die ähnlich empfindungslos geworden waren wie ich, gehörte sie. Der Zug, der an diesem Morgen wie ein schwarzes Ungetüm durch das eiserne Tor gekommen war, hatte mir die kleine Lena gebracht.
*
Ich weiß heute nicht mehr zu sagen, aus welchem Grund ich auf das Mädchen aufmerksam wurde. War es die Monotonie, die sich wie ein Schleier über mein Leben gelegt hatte, oder die Unmenschlichkeit dieses Ortes, den ich insgesamt eineinhalb Jahre lang mein Zuhause nannte. Vielleicht glomm da aber auch ein letzter Funke von Gefühl in mir, und durch das Mädchen sah ich eine Chance, diesen Funken in eine kleine Flamme zu verwandeln.
Lena hatte Glück, denn Mengele, jener Arzt von der Verladerampe, hatte sie durch eine knappe Bewegung seines Daumes dazu bestimmt, zusammen mit neun anderen Kindern seinen wissenschaftlichen Versuchen und Erbforschungen zu dienen. Sie hatte langes, blondes Haar und blaue Augen, die auf mich wie das Wasser eines klaren Bergsees wirkten. Diese Aspekte faszinierten Mengele, und solange dieses Interesse anhielt, solange befand sich Lena auf der Seite der Lebenden.
Die Kinder waren in einer eigenen Baracke untergebracht. Sie brauchten nicht zu arbeiten und bekamen bessere Verpflegung als die anderen Häftlinge des Lagers. Ich begegnete dem Mädchen zum ersten Mal zwei Tage, nachdem sie das Lager erreicht hatte.
Mir wurde der Befehl gegeben, zwei Jungen von etwa zwölf Jahren, Zwillinge, zurück in ihre Baracke zu bringen, nachdem Mengele einige Tests auf dem Gebiet der Anthropologie mit ihnen durchgeführt hatte. Beide Jungen wirkten verstört und zuckten bei jedem Geräusch, das durch das Lager geisterte, wie unter einem Schlag zusammen. Ich wusste nicht, was Mengele mit den Jungen angestellt hatte, wollte dies auch nicht wissen. Als ich die Baracke betrat und die beiden Jungen sich wortlos in ihre Holzgestelle verkrochen, welche als 'Betten' bezeichnet wurden, kam Lena plötzlich auf mich zu. Ihre großen Augen blickten mich neugierig an. "Ich heiße Lena. Waren Hans und Ludwig beim Doktor gewesen?", fragte sie, und deutete dabei mit ausgestrecktem Arm auf die Zwillinge. Ich wusste nicht, was ich dem Kind antworten sollte. Zum einen war es durchaus unüblich, dass die Häftlinge es wagten, das Wort an uns zu richten. Zum anderen war es uns verboten, den Menschen im Lager jegliche Informationen zukommen zu lassen. Zudem war unser Handeln darauf hinaus gelenkt worden, die Überlegenheit unserer Rasse in jeder Situation zu demonstrieren.
Doch Lenas Augen ... Sie schaute mich an, voller Neugierde und mit jenem Glanz in den Augen, den man kaum noch innerhalb der Wehrtürme anzutreffen vermochte. Ich blickte mich um, sah, dass der Stubenführer mit Schreibarbeit beschäftigt war, und suchte dann wieder die Augen des Mädchens. "Ja, meine Kleine", antwortete ich leise, und befürchtete gleichzeitig, bei meinem verbotenen Tun entdeckt zu werden. Welch demütige Geschöpfe wir doch damals waren, ohne es selbst zu wissen. "Deine Freunde wurden vom Doktor untersucht." Sie nickte und lächelte dann. In dem Augenblick brach ein Sonnenstrahl durch düstere, graue Wolken. "Der Doktor ist nett", flüsterte sie und imitierte dabei unbewusst meine Sprechweise. "Er hat mir von seinem Kind erzählt. Einem kleinen Baby."
Plötzlich wurde Lenas Blick ernst. "Aber dann hat er mir weh getan." Sie zeigte mir ihren Arm, und ich erkannte auf der Innenseite beider Oberarme zwei, etwa faustgroße Blutergüsse.
Ich war dazu geneigt gewesen, meine Hände nach dem Mädchen auszustrecken, um mir ihre Verletzungen näher zu betrachten. Doch in diesem Moment kam der Stubenführer hinein und warf mir einen irritierten Blick zu. Ohne Lena eines weiteren Wortes zu würdigen, verließ ich die Baracke der Kinder in aufrechter Haltung und stolzen Schrittes, ganz so, wie es der überlegene und auserwählte Mensch zu tun pflegte. Doch in dieser Nacht lag ich noch lange wach und dachte über das kleine Mädchen nach. Ihre Stimme und ihre Augen verfolgten mich bis in den Schlaf hinein.
*
Ich ertappte mich in den folgenden Tagen dabei, wie ich, während ich meinen Wachdienst im Innenhof des Lagers versah, nach dem kleinen, blonden Mädchen Ausschau hielt.
Ich wollte mir nicht eingestehen, dass mein Blick gezielt nach Lena suchte, denn Schwäche durfte man in meiner Position und zu jenen Zeiten nicht zeigen. Doch irgendwann kam ich nicht mehr umhin, mir selbst einzugestehen, wie tief sich die flüchtige Begegnung mit dem Mädchen in der Baracke in mein Denken eingebrannt hatte. An jedem Tag ließ ich meine Blicke über die Kolonnen der Gefangenen gleiten, die den Hof passierten, ebenso die der Selektierten, die man auf Lastwagen zusammenpferchte, und suchte ihr leuchtendes Haar in der Menge. Die Kinder, die Mengele zu Versuchs- und Forschungszwecken ausgesondert hatte, genossen ein bevorzugtes Leben im Lager. Ihnen fehlte es an nichts, und so durften sie auch zu mancher Stunde in einer Ecke des Lagers miteinander spielen. So sah ich Lena zusammen mit den anderen Kindern über den Hof laufen und hörte ihr helles Lachen. Ich glaube heute, dass es genau dieses Lachen war, unbeschwert und frei, das in mir damals etwas erwachen ließ, von dem ich angenommen hatte, dass es seit langer Zeit tot sei. Gestorben an diesem Ort der Verdammnis. Lena brachte mich wieder in die Welt der Lebenden zurück. Ich spürte, trotz des strengen Frostes in jenem Winter, eine wohltuende Wärme in mir, die mir wieder etwas Menschlichkeit zurückbrachte. Ich lernte Gefühle und Gedanken wieder neu kennen, die man innerhalb des Stacheldrahtes vergebens suchte. Die Gräuel dieser Zeit wurden für die wenigen Minuten, in denen ich Lenas Lachen hörte und ihr blondes Haar im Wind wehen sah, in ihre finsteren Ecken zurückgedrängt. Die naive Unschuld des Kindes und ihre ganz persönliche Art und Weise, ihr Schicksal innerhalb des Lagers zu verstehen, wirkten inmitten dieses grauen Ortes fehl am Platz. Manchmal, ungezählte Jahre nach dieser schrecklichen Zeit, glaube ich, dass es ein Wunder gewesen war, welches die kleine Lena ins Lager brachte. Am Tage half mir das Mädchen, mich dem mechanischen Elend zu stellen und die bedrückende Atmosphäre dieses Ortes zu ertragen. Am Abend zauberte sie mir ein Lächeln auf mein Gesicht, ehe ich einschlief.
*
Dann kam das Weihnachtsfest. Längst hatte ich es geschafft, mir einzugestehen, dass ich das Mädchen mochte. Ich hatte seit jenem Tag in der Kinderbaracke kein Wort mehr mit Lena gesprochen. Das wäre zu gefährlich gewesen. Sowohl für sie, wie auch für mich. Doch wenn ich ihr beim Spielen im Schnee zusah, dann kam es mir gerade vor, als hielte ich ein stilles Zwiegespräch mit dem kleinen Mädchen. So war mir der Gedanke gekommen, Lena zu Weihnachten eine kleine Freude zu bereiten. Ich wusste, dass sie ihre Eltern nie wieder sehen, wahrscheinlich selbst das Lager nicht lebend verlassen würde. Der Gedanke daran schmerzte mich sehr, auch der Tatsache wegen, dass man eines Tages ihre kindliche Naivität zerstören und Lena mit einem einzigen Schlag die bittere Wahrheit erkennen würde. Zumindest am Weihnachtsabend sollte Lena ein Kind sein.
Ich hatte mir zu diesem Anlass extra etwas Schokolade von meiner Familie schicken lassen.
Diese verpackte ich am Morgen des Weihnachtstages in ein Stück Papier und schaffte es sogar, ein buntes Band aufzutreiben, das ich um das kleine Geschenk band.
Mit dieser Schokolade in der Tasche meiner Uniform versah ich am Heiligen Abend 1943 meinen Dienst im Innenhof des Lagers und hoffte, dass Mengele die Kinder nach ihren Untersuchungen und Tests zum Spielen in den Hof entließ. Immerhin hieß eine der obersten Prinzipien des Arztes, dass die Kinder auf keinen Fall Verdacht schöpfen sollten. Tatsächlich sah ich die kleine Lena gegen Mittag in der Ecke des Lagers stehen. Sie war alleine und blickte sich verstört und schüchtern auf dem riesigen Gelände um. An diesem Tag gab es nur wenige Gefangene, die zu Arbeiten eingeteilt waren. Es war Weihnachten, und selbst unsere überlegene Rasse erkannte an diesem Tag so etwas wie Menschlichkeit und ließ die Häftlinge in ihren Baracken ausruhen. Nicht zuletzt aus dem Grund, um selbst in Ruhe und mit Genuss den Weihnachtstag feiern zu können. Ich blickte mich nach allen Seiten um, schulterte mein Gewehr und schlenderte, scheinbar gelangweilt, zu der Mauer hinüber, in deren Schatten Lena stand. In meiner Jackentasche führte ich die Schokolade mit mir. Was ich tat, war gefährlich, und im Nachhinein betrachtet, hätte mich mein Vorhaben auch das Leben kosten können. Doch jede Sekunde der Gefahr war es wert.
Als Lena bemerkte, dass ich mich ihr näherte, sah sie mir mit unsicherem Blick entgegen. Ihre Augen blieben dabei unentwegt auf mein Gewehr gerichtet. Ich wusste nicht, ob sie mich als jenen Mann erkannte, mit dem sie vor knapp zwei Wochen in ihrer Baracke gesprochen hatte. Doch sie wich nicht vor mir zurück. "Hallo, Lena", sagte ich mit leiser Stimme.
Die Stelle an der Mauer konnte nicht von jeder Position des Lagers eingesehen werden, was ein großer Vorteil für mich war. Ich war gerade im Begriff, in die Jackentasche zu greifen und das kleine Geschenk hervorzuholen, als mich Lenas Worte innehalten ließen.
"Hans und Ludwig sind nicht mehr da." Ihre Stimme klang dünn und zitterte. Ich glaube heute, dass dieses Zittern weniger von der Kälte herrührte, als vom ersten Begreifen.
"Jemand hat heute Morgen ihre Sachen aus unserer Hütte genommen." Lenas Worte trafen mich wie die kalte Spitze eines Messers. Was sollte ich dem Mädchen antworten? Etwa dass sie sich keine Sorgen machen musste und ihre Freunde bis zum Abend sicher wieder auftauchen würden? Die Wahrheit war eine völlig einfache, wie auch logische Antwort. Doch sollte ich es sein, der Lenas Lachen sterben ließ?
Ohne ein Wort über die Zwillinge zu verlieren, griff ich in die Jackentasche und beförderte das kleine Päckchen hervor. "Es ist Weihnachten, kleine Lena", flüsterte ich, gab ihr das Geschenk und schloss ihre Hände um das Papier. "Ich hoffe, du magst Schokolade. Du kannst gerne mit den anderen Kindern teilen, aber ..." Ich legte den Finger auf meine tauben Lippen. " ... Du darfst niemandem verraten, wer dir die Schokolade gegeben hat. Hast du verstanden?" Lenas Blick wechselte ungläubig zwischen dem Ding in ihren Händen und meinem Gewehr. Dann sah sie mir in die Augen und nickte. Schließlich zeichnete sich ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht ab. Ich strich ihr über ihr Haar, das schmutzig war und viel des Glanzes eingebüßt hatte. "Frohe Weihnachten, kleine Lena", flüsterte ich, blickte mich nochmals nach allen Seiten um und wandte mich von Lena ab, um zu meinem Wachposten zurückzukehren.
Zum ersten Mal, seit ich durch das Tor des Lagers mit dem eisernen Schriftzug getreten war, in der Uniform des Führers und seinem Zeichen auf der Uniformjacke, war da ein Gefühl in mir, das ich zum letzten Mal in einem anderen Leben gespürt hatte, und das mir fremd erschien. Zum ersten Mal glaubte ich wieder an das Gute im Menschen, so versteckt es manchmal auch sein mochte. Als ich einige Schritte gegangen war, hörte ich Lenas leise Stimme hinter mir. "Frohe Weihnachten."
*
Hans und Ludwig kamen natürlich nicht wieder. Die beiden Jungen, die ich einst in die Baracke der Kinder zurückbrachte, und auf diese Art Lena kennen lernte, waren 'ausgeschöpft'. Das war die Bezeichnung, die Mengele gerne benutzte, wenn die Kinder im Lager ihm nicht mehr dienlich sein konnten. Und Menschenmaterial, das man nicht mehr benötigte, wurde aus dem Lager entfernt, denn warum sollte man wertvollen Platz und Nahrung verschwenden? Ich hörte einmal einige Juden, die sagten 'Wir werden das Lager nur durch die Schornsteine verlassen'. Eben auf diesem Wege hatten uns Hans und Ludwig verlassen.
Lena erfuhr natürlich nie davon. Obwohl ich mir bis heute nicht sicher bin, ob sie nicht insgeheim wusste, was mit den beiden Jungen geschehen war. Fortan schien Lena ihr Lachen eingebüßt zu haben. Vergangen waren die Zeiten des unbeschwerten Herumlaufens auf dem Lagerhof mit den anderen Kindern, vorbei das glockenhelle Lachen des Mädchens, das die kalte Winterluft wie der Duft von Weihnachtsgebäck erfüllt hatte. Immer wieder sah ich Lena still in der Ecke des Hofes stehen, den Blick zum Boden gesenkt, die Hände vor sich ineinander gefaltet, als würde sie beten. Ich wusste natürlich, dass dies nicht die Art und Weise war, auf die ihr Volk betete. Und wen hätte sie sollen anrufen? An diesem Ort und in diesen Jahren hatte ihr Gott sie längst verlassen. Es schmerzte mich sehr, jenes unbekümmerte Kind, das mich einst in der Baracke mit ihren leuchtenden Augen angesprochen hatte, obwohl es verboten war, das Wort an die Deutschen zu richten, derart leiden zu sehen. Ich versuchte, zufällig in ihre Nähe zu gelangen und sprach sie auch des Öfteren an. Ich nannte sie bei ihrem Namen, den sie mit Gewissheit vermisste, denn hier im Lager war sie nichts weitere als eine sechsstellige Nummer. Ich fragte sie nach der Schokolade zu Weihnachten und sprach vom glitzernden Schnee, der im Hof des Lagers allerdings grau und schwarz war.
Doch Lena reagierte nicht mehr auf mich. Sie sah mich nicht an und antwortete auch nicht.
Heute bin ich sicher, dass Lena damals zu der Erkenntnis gelangt war, dass ich einer jener Männer sein musste, die ihr ihre Freunde nahmen; ich war einer jener Männer, die Hans und Ludwig 'durch die Schornsteine' geschickt hatten. Ich konnte mit ansehen, wie Lena jeden Tag ein kleines Stückchen mehr starb. Und dann, eines Tages zu Beginn des Jahres 1944, blieb die Ecke nahe der großen Steinmauer leer. Lena war verschwunden ...
*
Ich war deutscher Soldat, Angehöriger der Wehrmacht, dem Befehl des Führers unterstellt, dessen Zeichen ich auf der Uniform trug. Und ich schämte mich meiner Tränen nicht.
Ich blickte über die Wälder zu den Schornsteinen von Birkenau und sah Lena, die durch einen der Schlote die Erde und mein Leben verließ. Das, was das Mädchen in mir zu neuem Leben erweckt hatte - der Glaube an Hoffnung und eine Zukunft, der Glaube an Liebe, selbst an einem düsteren Ort wie Auschwitz - erlosch ebenso, wie es Lenas Lachen und der Glanz ihrer blauen Augen getan hatten. Zurück blieb eine schwarze, sterbende Hülle, die auf das Ende wartete. Wie wir alle hier ...



Eingereicht am 14. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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