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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Buch der sieben Siegel

© Scarlett H Mirro


Gelangweilt trieb ich mich an dem Tag, als mein Lebenstraum erwachte, von einer Ecke schlendernd in die andere. Meine Geschwister Nadja und André hatten beschlossen, dass jeder still und leise etwas für sich machen sollte. Das war mal wieder so eine blöde Idee, denn die zwei hatten eine Beschäftigung. Nadja saß an Mamas Schminktisch und André büffelte für die Englischarbeit. Ich starrte eine kleine Weile hinaus in den Garten, wo der Wind heulend die Blätter vom Baum rupfte.
Mama meinte, ich könnte ihr den Speicher auszumisten helfen. "Wie langweilig", dabei knuffte ich das Sofakissen.
"Es ist ein sehr altes Haus. Ich glaube, dort oben war ich das letzte Mal, als ich mit meiner Schwester zwischen den staubigen Sachen verstecken gespielt habe. Deine Oma hat uns hinterher ausgeschimpft", sie bekam einen verträumten Gesichtsausdruck, der mich noch missmutiger stimmte.
"Warum willst du denn da jetzt ausmisten?", ich mochte die Oma nicht.
"Weil wir Platz brauchen? Für ein weiteres Kinderzimmer, Lukas!" Mama grinste mich verschmitzt und fröhlich zugleich an.
"Oh nein", rief ich verzweifelt, "bekomm ich schon wieder ein Geschwisterchen?"
"Schon wieder?", Mama lachte laut, "du bist doch schließlich hier der Jüngste!"
"Und wer soll auf den Speicher?", fragte ich ungerührt.
"Du und André! Papa und ich haben das schon so entschieden, die Jungen nach oben! Hilfst du mir nun?", das klang nun nicht mehr nach einer Bitte, das war deutlich eine Aufforderung geworden.
Ich bewaffnete mich mit einer Taschenlampe und Einweghandschuhen; Mama schickte mich in eine entlegene Ecke des Speichers, sie blieb in der Nähe der Luke. Kisten und Kartons, zusammengerollte halbzerfressene Teppiche und auch vergilbte Zeitungen konnte ich im Kegellicht ausmachen.
"Soll ich in die Kartons gucken?", rief ich laut meiner Mutter zu; mein Ekel ließ sich kaum unterdrücken.
"Natürlich. Es wird dich schon nicht beißen!"
Ich öffnete den ersten Karton, aus ihm quollen Bücher mit vergilbten Seiten hervor, manche waren in Sütterlin gedruckt; ich machte eines der Bücher als eine völlig vergammelte Ausgabe von "Heidi" aus.
"Mama!", rief ich gequält.
"Lukas, stöbere doch einfach mal ein bisschen", sie hatte offensichtlich Spaß daran, denn sie gluckste und kicherte vor sich hin, manchmal schüttelte sie lachend den Kopf. Heute ging mir ihre gute Laune auf die Nerven.
Ich machte den Bücherkarton wieder zu und besah mir den nächsten. Darin waren vor allem Spielsachen, wie ich erkennen konnte. Ich wollte auch diesen Karton gerade kommentieren und schließen, als ich feststellte, dass es sich nicht um gewöhnliches Spielzeug handelte. Es handelte sich um Zinnsoldaten, Blechmäuse zum Aufziehen und eine Puppe mit einem Porzellankopf, sie hatte ein Loch in der Stirn wie hineingebohrt. Ich grub mich immer tiefer durch das alte Zeug und hielt plötzlich eine kleine, aufwändig verzierte und bemalte Holzkiste in der Hand, an vielen Stellen war die Farbe bereits abgeplatzt. Die Kiste war verschlossen. Als der Inhalt des Kartons ausgebreitet vor mir lag, suchte ich systematisch nach diesem winzigen Schlüssel, der zu der Kiste passen müsste. Ich konnte ihn nicht finden. Also wollte ich den Inhalt wieder einräumen, nahm deswegen die Puppe zur Hand, als mein Blick auf das Loch im Kopf fiel. Ich schüttelte die Puppe und heraus fiel der kleine verrostete Schlüssel. Wie es zu erwarten war, schnappte das Schloss etwas mühevoll auf. Grünlicher dicker Samt lag oben auf und ich dachte sofort: "Typisch Mädchen", dann klappte ich den weichen Stoff zurück und da lag ein silbrig glänzendes Buch. Glatt und metallisch war seine Oberfläche, es trug keinen Titel, an der Seite jedoch hielt es sieben Siegel verschlossen.
Wenn die Erwachsenen davon sprachen, dass ihnen etwas vorkäme wie ein Buch mit sieben Siegeln, so dachte ich nicht daran, dass es solch ein Buch wirklich hätte geben können. Vielleicht hörten alle Erwachsenen doch zumindest gerüchteweise von diesem Buch, denn wie sonst hätte es sein können, dass es dieses Buch wirklich gab? Aber wieso sagte man dann, wenn etwas rätselhaft oder unverständlich war, dass es wie dieses Buch sei?
Ich sah mir das Buch genauer an, es lag warm und fließend in der Hand, die Siegel oder Schlösser waren allesamt verschieden in der Größe und in ihrem Material, wie es schien. Einige der Schlösser waren nicht mal mit einem Schlüsselloch versehen. Wie sollte ich dieses Buch nur öffnen, war schon der erste Schlüssel zu finden sehr umständlich gewesen? Ich untersuchte nochmals die Kiste und fand ein klein zusammengefaltetes Papier, worauf stand: Gehalten wird das Buch von sieben Schlössern, einige sind leicht zu öffnen, manche schwer. Einen Schlüssel hältst du in Händen, andere wirst du danach noch finden. Habe Geduld und du wirst sehen.
Lustig, also musste ich auch noch Rätsel lösen. Weil ich sonst keine bessere Idee hatte, probierte ich den Schlüssel der Kiste in den drei Löchern aus. Eines sprang auf, ein anderes gluckste nur ein wenig. Ich wollte nun schnell in mein Zimmer. Mama war vertieft in ein Fotoalbum. Ich sagte ihr, dass ich genug von der Wühlerei hätte und schlich mich an ihr vorbei.
In meinem Zimmer probierte ich alle möglichen Schlüssel aus, die ich finden konnte; ich klopfte bei Nadja und bei André und lieh mir alle Schlüssel aus, die sie mir anboten. Von meinem Fund verriet ich nichts. Nadja hob neugierig ihren bunten Kopf.
Zurück im Zimmer untersuchte ich die anderen Schlösser. An einem konnte ich ein kleines Zahlenrad ausmachen, aber ich kam durch das andere Schloss noch nicht da dran. Ein Schloss sah aus, als fehlte ein Stück Metal wie ein Stift. Bei den anderen beiden konnte ich überhaupt nicht erkennen, was ich da machen musste, um sie zu öffnen. Eines davon musste ich aber als nächstes öffnen, sonst ließ sich das Zahlenrädchen nicht drehen. Ich drehte und wendete das silberne Buch, aber ich konnte keine Hinweise erkennen. In dem Moment öffnete sich meine Tür und mein Bruder schob seinen braunen Lockenkopf durch den Spalt.
"Was ist nun mit den Schlüsseln?", fragte er und starrte auf das Buch in meiner Hand.
"Genau! Was machst du da?", Nadja riss die Tür weit auf, inzwischen hatte sie den Lippenstift wieder abgewischt.
"Ist jetzt die Zeit der Alleinbeschäftigung vorbei?", fragte ich gereizt.
"Äh, klar!", sagte mein Bruder und griff nach dem Buch.
"Hey!", rief ich zornig, "ich hab es gefunden! Sucht euch doch selbst was! Der Speicher ist voll von altem Zeug!"
Nadja verschwand sofort, aber André setzte sich neben mich auf das Bett und sah mich an, wie Papa, wenn er keine Widerrede duldete. Da ich es nicht öffnen konnte, sollte doch er mal sein Glück versuchen. André untersuchte das Buch gründlich, dann fing er an, das merkwürdige Schloss zu drücken und zu reiben. Tatsächlich öffnete es sich, ein Stift wurde sichtbar und ein winziger kleiner Zettel fiel heraus.
"Wer das nächste Schloss öffnen will, muss folgendes Rätsel der Sphinx lösen", las ich laut die kleinen Buchstaben vor.
"Ach, das kenne ich, es ist der Mensch, der Mensch!", schrie mein Bruder, noch bevor ich das Rätsel der Sphinx stellen konnte, "wir hatten das Rätsel in der Schule."
"Für ‚Mensch' steht hier die Zahl vier als Lösung, für ‚Affe' die Zahl zwei! Warte noch!", mein Bruder hatte die Zahl schon fast gedreht, "hier steht drunter, dass nach einer falschen Eingabe keine Korrektur mehr möglich ist! Bist du dir sicher?"
"Klar, es muss die vier sein!", und damit rastete die vier in dem Zahlenschloss ein. Ich schloss die Augen und hörte ein leises Klicken. Der Stift hatte sich aus dem oberen Schloss gelöst. Scheinbar griff ein Schloss ins andere. Das nächste also ließ sich sehr leicht mit dem Stift öffnen, dabei seufzte wieder das Schloss, das schon bei dem Schlüssel zuvor gegluckst hatte, allerdings war es das letzte Schloss der sieben. Sollte ich dies nun öffnen und damit die Reihenfolge durchbrechen? Oder sollte ich erst das fünfte Schloss öffnen? Spielte die Reihenfolge eine Rolle? Meinem Bruder gegenüber erwähnte ich meine Überlegungen nicht. Ich hoffte, er würde einfach gleich das Interesse verlieren und wand mich deswegen meiner elektrischen Eisenbahn zu.
"Und du hast schon alle Schlüssel ausprobiert?"
"Mhmm!", ich versuchte möglichst gelangweilt zu sein.
"Höma, kann ich da mal ein Dietrich für basteln? Kriegst das Buch auch später zurück!", inzwischen hatte André rote Flecken auf den Wangen. Er würde nicht einfach das Interesse verlieren. So ein Mist.
"Ja, meinetwegen, aber das Buch bleibt hier!"
"Ich lauf damit schon nicht weg. Ehrenwort. Ich bin unten im Keller. Du willst ja jetzt eh mit deiner Eisenbahn spielen!"
"Nein!"; kreischte ich, "gib mir das Buch, verdammt! Es bleibt hier!"
Er widersprach nicht weiter, sondern rutschte vom Bett runter und verschwand aus meinem Zimmer. Eigenartig, normalerweise interessierte er sich überhaupt nicht für Bücher.
Schnell öffnete ich das siebte Schloss mit dem Schlüssel, nur noch zwei waren jetzt verschlossen. Das siebte Schloss war aufgesprungen und hatte keine neue Vorrichtung gelöst. Hätte ich doch erst das fünfte Siegel lösen müssen? Nun hatte ich endlich Zeit und Ruhe, aber keine Idee mehr, wie ich die Siegel noch lösen sollte. Nadja platzte ins Zimmer, sie hatte ein Glas Wasser in der Hand.
"Und, was steht nun drin?"
"Ist noch zu!", ich hielt es zum Beweis hoch, "pass auf mit dem Wasser!" Sie stutzte einen Moment, strauchelte und schüttete Wasser auf das Buch, als sie ihren Sturz eben noch abfangen konnte.
"Pass doch auf, du doofe Kuh!", ich trocknete vorsichtig mit meiner Bettdecke das Buch, während Nadja mir erzählte, dass sie nichts Spannendes auf dem Speicher gefunden hatte. Ich bemerkte, dass das sechste Schloss bereits leicht geöffnet war.
"Gib mir dein Wasser, schnell!", ich kippte es über das Schloss, es perlte von den Buchdeckeln ab und tropft auf den Teppichboden, auf die Eisenbahnschienen und auf die Bettdecke. Tatsächlich löste sich das Schloss auf, es gab nach. Scheinbar aus Leder schien es sich zu entrollen und wurde so lang, dass ein Schlüssel dazwischen sichtbar wurde. Ich steckte den Schlüssel in das letzte Schloss, als mein Bruder mit seinem gebogenen Dietrich in der Hand ebenfalls wieder im Zimmer auftauchte.
"Mach die Tür zu!", zischte Nadja; André setzte sich auf meine frei Seite, ließ enttäuscht seinen Dietrich fallen und fragte Nadja, woher der Schlüssel käme.
Ich machte es spannend, drehte langsam den letzten Schlüssel im Schloss und auch dieses gab seufzend nach. Endlich konnte ich das Buch aufklappen; meine Geschwister steckten tief ihre Köpfe mit in das Buch: in zierlicher Handschrift wie von einem Mädchen geschrieben stand dort zu lesen:
Meine Mama und ich gingen heute auf den Speicher. Sie glaubte, gegen meine Langeweile könnte es helfen, wenn ich ihr beim Ausmisten des Speichers hälfe. Warum das Ausmisten mir dabei helfen sollte, ist mir jedoch ein Rätsel gewesen, bis ich dieses Buch hier fand …
"Weiter! Blätter weiter!", riefen meine Geschwister im Chor.
Aber die folgenden Seiten waren allesamt leer. Ich blätterte und blätterte und alle Seiten waren leer. Nadja fing kreischend an zu lachen und konnte sich kaum noch beruhigen. André murmelte von einer Zauberschrift, die man vielleicht nur lesen kann, wenn man die Kerze darunter hält.
Nadja lachte noch immer und brachte mühsam die Worte hervor: "Das Buch mit den sieben Siegeln ist leer!" André holte eine Kerze und versuchte eine Geheimschrift zu entdecken. Nachdem sie drei Mal den Satz wiederholt hatte, konnte ich allmählich den Sinn erfassen. Und trotz meiner großen Enttäuschung fing auch ich an zu lachen.
Auf der letzten Seite fanden wir dann doch einen Eintrag, wieder von der gleichen Autorin: Ein Buch mit sieben Siegeln ist doch etwas ganz besonderes, deswegen habe ich es nicht als Tagebuch verwenden können. Vielleicht kannst du nun aus diesem Buch einen Geheimnisträger machen.
Nadja grinste mich an und legte mir das Buch in den Schoß.
Als Talisman steht das silberne Buch heute an meinem Schreibtisch. Wenn ich eine Schreibblockade habe, nehme ich es zwischen die Hände und öffne Siegel für Siegel, dann liege ich wieder auf meinem Bett direkt verbunden mit meinen Träumen.



Eingereicht am 13. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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