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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Figurbetont
© Markus Fifka
Es war eine kurze Nacht. Wie sie es hasste - dieses viel zu frühe Aufstehen. Einfach unmenschlich. Durch nicht einmal zur Hälfte geöffnete Augenschlitze blickt sie auf die roten Digitalziffern des elektronischen Krachmachers. Noch zwei Minuten, dann wird das monotone Piepsen erneut ertönen. Doch so weit wird sie es nicht kommen lassen. Mit einer Mischung aus Wut und müdigkeitsbedingter Lethargie schaltet sie den kleinen Silberknopf auf "Off".
Das Duschbad bringt wieder etwas Leben in ihren noch immer nach Schlaf lechzenden Körper. Beinahe automatisch vollzieht sie das jeden Morgen stattfindende Reinigungsritual. Nachdem sie ihren Körper gewaschen, abgetrocknet und eingecremt hat, positioniert sie sich vor dem Badezimmerspiegel, der es ihr gestattet, sich von Kopf bis Fuß darin zu betrachten. Wenn man es genau nimmt, so ist dieses Betrachten ihrer physischen Präsenz kein urteilsfreies Anschauen, sondern vielmehr ein kritisches Abwägen des sich ihr
augenscheinlich gegenübergestellten Spiegelbildes.
Monika ist jetzt 27 Jahre alt. Freunde und Bekannte meinen, sie habe starke Ähnlichkeit mit Claudia Schiffer. Sie hingegen kann diesen schmeichelhaften Vergleich nicht nachvollziehen. Bis auf ihre blonden Haare und ihre Körpergröße sieht sie keinerlei Ähnlichkeit mit dem deutschen Starmodel. Obwohl sie während ihrer Studentinnenzeit nebenbei als Fotomodell für Bikinimoden und Oberbekleidung jobbte, empfand sie sich trotzdem nie als besonders attraktiv, ganz im Gegensatz zur Männerwelt, die ihr unentwegt ein überdurchschnittlich
gutes Aussehen bestätigt. Doch was wissen die schon? Schließlich bekommen auch weniger gut aussehende Frauen Komplimente vom starken Geschlecht. Was will Mann schon anderes sagen, wünscht er sich doch aufgrund seiner genetischen Determiniertheit die ein oder andere Jagdtrophäe mit nach Hause nehmen zu können.
Mit Daumen und Zeigefingern kneift sie sich beidseitig in die Hüften, um wieder einmal feststellen zu müssen, dass die Fettablagerungen nicht weniger geworden sind. Beinahe jede andere Frau würde sich glücklich schätzen, wenn sie solch eine makellose Figur vorzuweisen hätte. Diesen Satz hatte sie erst vor ein paar Tagen von zwei guten Freundinnen zu hören bekommen, als sie wieder einmal in deren Gegenwart über ihre nicht sonderlich ansehnliche Figur jammerte. Doch was wissen die schon? Schließlich bekommen auch
weniger gut aussehende Frauen Komplimente vom schwachen Geschlecht. Was will Frau schon anderes sagen, wünscht sie sich doch aufgrund ihrer genetischen Determiniertheit ebenfalls das ein oder andere Lob für sich verbuchen zu können.
Das, was sie im Spiegel sieht, gefällt ihr nicht. Da können die anderen ihr noch so viele Komplimente machen. Da hilft jetzt nur eine noch striktere Diät. Noch mehr Wasser, noch weniger Kohlenhydrate und so gut wie gar kein Fett. Überwiegend Fisch und gedünstetes Gemüse. Kein Restaurantessen. Falls diese Maßnahmen auch nicht helfen sollten, dann eben noch mehr Wasser, keine Kohlenhydrate und kein Fett. Nulldiät. Oder positiver formuliert: fasten. Eine oder auch zwei Wochen, wenn es denn sein muss. Und es muss
sein. Soviel steht fest. Das Spiegelbild sagt schließlich immer die Wahrheit, ganz im Gegensatz zu ihren Mitmenschen. Dem Spiegel kann man nichts vormachen. Auch nicht an diesem Morgen.
Das Fett an ihren Hüften scheint nicht weniger zu werden. Ganz im Gegenteil, sie meint zu ihrem Entsetzen feststellen zu müssen, dass sie trotz der nun schon seit drei Wochen praktizierenden Diät gar noch zugelegt hat. Die Waage bestätigt ihre Vermutung jedoch nicht, dennoch ist das Resultat ihrer asketischen Lebensweise enttäuschend. Sie hat zwar nicht zugenommen, aber auch kein einziges Gramm verloren. Doch was wissen Waagen schon? Schließlich sagt das angezeigte Gewicht rein gar nichts über das optische Erscheinungsbild
der jeweiligen Person aus. Was will die Waage schon anderes bewerkstelligen, ist sie doch nur ein Instrument emotionsloser Anzeige gewichtiger Objekte.
Nun muss eben die nächste Stufe gezündet werden, und dies bedeutet schlichtweg nichts mehr zu essen. Erstmals eine Woche lang, und falls dann immer noch kein Erfolg zu verbuchen sein sollte, eben zwei. Außerdem wird das Training im Fitnesscenter zusätzlich forciert, sowohl was die Trainingshäufigkeit angeht als auch die Intensität. Von nun an tägliches Training. Ohne Schweiß kein Preis. Plattitüden einer mit sich Unzufriedenen.
Immer noch dasselbe Gewicht. Immer noch dieselbe Unzufriedenheit. Gestern wurde ihr schwarz vor Augen. Herzrasen, Schweißausbruch, Panik. Sie musste wohl für kurze Zeit ohnmächtig gewesen sein. Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Fußboden des Fitnesscenters. Eine Traube von Leuten gruppierte sich um sie herum. Die Trainerin kniete neben ihr und fragte wiederholt, wie sie sich denn fühle. Es ginge schon wieder, meinte sie und war gleichzeitig peinlich berührt von dem Aufsehen, das sie durch ihren Kollaps
verursachte.
Ab heute wird sie wieder einigermaßen ausgewogene Kost zu sich nehmen. Das Fasten bekommt ihr wohl doch nicht. Über eine Woche trank sie ausschließlich Wasser und Tee. Ab und zu gab es eine Gemüsebrühe. Würde sie nicht so ausgiebig trainieren, wäre die Fastenkur nicht ganz so belastend. Aber das Training möchte sie auf gar keinen Fall aufgeben, denn es strafft den Körper an den richtigen Stellen. Kurz nach ihrem Zusammenbruch meinte die Trainerin, dass sie sich nicht völlig verausgaben solle. Es brauche alles
seine Zeit und der Mensch sei keine Maschine. Aber was weiß die schon? Schließlich fordert sie selbst ihren Körper bis an die Grenzen, um sich in ihrer Position zu behaupten. Was will sie schon anderes sagen, wünscht sie sich doch aufgrund ihrer sportlichen Erfahrung den ein oder anderen Rat weitergeben zu können.
Zwei Kilo weniger, dafür immer noch dasselbe Spiegelbild, und immer noch dieselbe Unzufriedenheit. Sie würde gern eine andere sein. Brünett anstatt blond, braune anstatt grüner Augen, dunkler anstatt heller Teint, lockige anstatt glatter Haare. Dazu größere Brüste, einen runderen Po, eine straffere Taille, eine geradere Nase, weniger Fältchen, einen volleren Mund, etwas vollere Wangen, schlankere Beine und schmälere Füße. Den perfekten Körper wird sie wohl niemals erreichen können. Doch kann sie so einiges verbessern.
Das hat sie sich fest vorgenommen. Im Grunde genommen feilt sie bereits seit ihren Teenagertagen an ihrem physischen Erscheinungsbild. Kosmetiken, Ernährungsrichtlinien und Trainingsprogramme dienten dabei als ihre bisherigen Werkzeuge.
Relativ lange Zeit hatte sie es sich überlegt. Genau genommen, spielte sie seit diesem Fernsehbericht vor ungefähr zwei Jahren mit dem Gedanken. Auch ein wenig Geld hat sie auf die Seite gelegt. Schließlich ist das ganze Unterfangen nicht gerade billig.
Der behandelnde Arzt meinte, dass man bei ihr schon noch etwas machen könnte, obwohl er dafür eigentlich keine dringende Notwendigkeit sieht. Trotzdem - eine Verbesserung wäre es auf alle Fälle. Schön, dass ihr einmal jemand die Wahrheit sagt. Er muss es ja wissen! Schließlich ist es sein Beruf, in dem er tagtäglich mit den Wünschen und Bedürfnissen seiner Patientinnen konfrontiert wird. Was will er schon anderes tun, als auf die Sorgen und Nöte seiner überwiegend weiblichen Kundschaft nach bestem Wissen und
Gewissen einzugehen.
Wenn es ausschließlich nach ihren Vorstellungen ginge, dann würde sie sämtliche Schönheitsmakel auf einmal beheben lassen. Doch dafür fehlt ihr leider das notwendige Kleingeld. Also muss sie sich wohl oder übel in Geduld üben und mit derjenigen Korrektur beginnen, die sie am notwendigsten erachtet. Zuerst wird sie sich das Fett absaugen lassen. Anschließend wird solange gespart bis das nötige Kleingeld für eine Brustvergrößerung vorhanden ist. Danach folgen Pobackenimplantate, Facelifting, Nasenbegradigung und
Lippenaufspritzung. So weit erst mal. Kein leichtes Unterfangen, aber immerhin besser als ständige Frustrationen bezüglich ihrer körperlichen Makel erleiden zu müssen. Manchmal muss man sich eben sein Glück hart erkämpfen. Andere Geschlechtsgenossinnen haben es da einfacher. Sie brauchen sich nicht derartige Sorgen um ihr Äußeres machen, da sie von Natur aus mit reichlich Schönheit ausgestattet worden sind. Nicht dass sie neidisch wäre, aber eine Ungerechtigkeit ist es schon.
Es scheint ein schöner Sommertag zu werden, dieser Freitag, Mitte Juli. Auch an diesem sonnigen Morgen beginnt sie den Tag im Badezimmer. Nach der Dusche erfolgt wie immer der obligatorische Blick in den Spiegel. Dieses Mal sieht sie wenigstens ausgeschlafen aus. Nicht wie an den werktätigen Tagen, an denen sie durch den unerbittlichen Summton des Weckers aus dem Schlaf gerissen wird. Heute hat sie sich frei genommen. Nach dem Frühstück wird sie einen Stadtbummel machen. Eigentlich ist es draußen zu heiß dafür,
aber es lässt sich immer ein schattiges Plätzchen in irgendeinem Cafe finden. Gestern Abend hatte eine Freundin angerufen und wollte wissen, ob sie mit ihr und den beiden Kindern ins Freibad mitkommen würde. Sie freute sich zwar über den Anruf, sagte jedoch dankend ab. Sie muss noch so einiges an ihrem Körper verbessern, um sich im Bikini an die Öffentlichkeit wagen zu können. Schließlich möchte sie eine gute Figur machen, vor allem dann, wenn sie in Begleitung von Bekannten ist. Was soll ihre Freundin denn von
ihr denken, wenn sie derart außer Form ist? Dann verzichtet sie lieber auf das kühle Nass an einem heißen Sommertag.
Im Grunde ihres Herzens wünscht sie sich nichts sehnlicher, als endlich ihren Frieden mit sich und ihrer existentiellen Erscheinung zu machen. Insgeheim bewundert sie diejenigen Menschen, die sich nichts aus ihrem Äußeren zu machen scheinen und trotzdem mit sich und der Welt im Einklang leben. Warum mag ihr das nicht gelingen? Wenn sie es sich so recht überlegt, dann ist sie gar nicht einmal neidisch auf die Frauen, die besser aussehen als sie, sondern vielmehr auf diejenigen, die innerlich gelassen ihr äußeres
Erscheinungsbild annehmen können und zwar genauso, wie es eben ist.
Sie sitzt gerne in diesem Cafe, mitten im Stadtpark. Dieser Ort strahlt eine friedliche Ruhe aus. Genau das, was ihr fehlt. Schon seltsam, dass sie sich hier dennoch so wohl fühlt. Sie bestellt ein Glas frisch gepressten Orangensaft, dazu einen kleinen italienischen Salat. Es sind nicht viele Leute hier. Die meisten kommen erst um die Mittagszeit. Sie haben dann etwa eine Stunde Pause und vertilgen auf die Schnelle eine Mahlzeit. Wenn die Plätze sich zunehmend füllen, wird sie bereits wieder weg sein.
Der Kellner bringt ihr den Orangensaft und den Salat. Er sieht ein wenig müde aus. Trotzdem bemüht er sich um eine zuvorkommende Bedienung. Unfreundliche Kellner kann sie nämlich partout nicht ausstehen. Da gibt es dann auch keinen einzigen Cent Trinkgeld. Nicht im Traum könnte sie sich vorstellen, als Kellnerin zu arbeiten. Andere Leute bedienen, die nicht selten ihre schlechte Laune an den Kellnern auslassen. Einfach unvorstellbar, so eine Tätigkeit. Dann lieber noch am Fließband im Akkord arbeiten. Mit ihrer
derzeitigen Tätigkeit ist sie ganz zufrieden. Kein Traumjob, aber auch keine Arbeit, vor der man sich jeden Morgen übergeben müsste, weil der Job einen regelrecht anwidert. Die Kollegen sind soweit ganz umgänglich, zumindest ist niemand dabei, den sie unerträglich findet. Sie studierte Grafikdesign und ihr eigentlicher Wunschtraum wäre ein Job in der Modebranche gewesen. Am liebsten hätte sie als Model die Laufstege dieser Welt erobert. Daraus ist jedoch nichts geworden, wobei ihr immer wieder von allen Seiten
bestätigt wird, dass sie durchaus das Zeug dazu hätte. Wahrscheinlich lag es an ihrem zu gering ausgeprägtem Selbstwertgefühl, dass aus dem Modeljob nichts wurde, jedenfalls nichts aus einer internationalen Karriere. Vielleicht stand sie sich nur selbst im Weg. Nun, es ist müßig darüber nachzudenken, denn nun ist sie bereits zu alt für diese Art des Broterwerbs. In ihrer Firma, einer Versicherungsanstalt, entwirft sie Grafiken für Werbebanner in diversen Zeitschriften.
Der Salat schmeckt gut. Die Sonne blinzelt durch die Äste der alten Eiche, die unmittelbar auf der gepflegten Rasenfläche vor der Terrasse steht. Ein paar Plätze weiter vorne sitzt eine Gruppe von vier älteren Damen, die bei Kaffee und Kuchen ihr geselliges Zusammensein versüßen; rechts daneben ein älterer Herr, der sich schon am frühen Morgen ein Bier nach dem anderen bestellt; dahinter eine Mutter mit Kinderwagen, den sie ab und zu schaukelt; ganz hinten im Eck drei pubertierende Schülerinnen, die wahrscheinlich
den Unterricht schwänzen und unmittelbar am rechten Nachbartisch eine Frau, die so etwa in ihrem Alter sein dürfte. Sie isst einen großen Vorspeisenteller und trinkt dazu eine Cola. Ihre kurzen blonden Haare scheinen gefärbt zu sein. Sie trägt ein gelbes T-Shirt und eine enge Jeans. Insgesamt eine recht hübsche Erscheinung, was umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, was die Frau alles so an Kalorien zu sich nimmt, denn sie ist zudem noch ausgesprochen schlank und wohlproportioniert. Fast sieht sie aus wie
eine Barbiepuppe, nur eben mit Kurzhaarschnitt. Vielleicht hat sie ja auch eine mehrwöchige Diät hinter sich und schlägt nun nach der entbehrungsreichen Zeit wieder zu. Möglicherweise ist ihre gute Figur auch das Resultat einer oder gar mehrerer Schönheitsoperationen, denkt Monika. Ansonsten wäre die Natur ausgesprochen ungerecht mit der Verteilung ihrer begehrenswerten Gaben verfahren. Na ja, jeder Mensch muss selbst zusehen, dass er das Beste aus sich macht, versucht sie sich mit positivem Gedankengut mental
über Wasser zu halten.
Sie winkt dem Kellner, um zu zahlen. Bevor es in der Stadt so richtig heiß wird, möchte sie noch ein paar Einkäufe erledigen.
Auf dem Weg in die Innenstadt misst sie sich in Gedanken unentwegt mit ihren Geschlechtsgenossinnen, denen sie unterwegs begegnet. Früher ist ihr das nie sonderlich aufgefallen, aber in letzter Zeit ist sie sich dessen bewusster geworden. Im Prinzip befindet sie sich in ständiger Konkurrenz. Mit den Jahren wird sie bei ihren Vergleichsmaßstäben immer mehr ins Hintertreffen geraten. Ob es anderen Frauen ähnlich geht? Manchmal ertappt sie sich bei dem Gedanken, dass es ihr lieber wäre, eine unscheinbare oder gar
unattraktive Frau zu sein, die jedoch mit sich und der Welt zufrieden ist. Kann so etwas überhaupt funktionieren? Unattraktiv, nicht besonders begehrenswert, eine graue Maus, physisch kaum präsent, vom anderen Geschlecht nur selten beworben - alles in allem ein komplimentloses Leben. Wie können solche Frauen denn glücklich sein?
Sie steht vor der roten Fußgängerampel an einer viel befahrenen Hauptstraße. Es wird etwas dauern, bis das Signal auf Grün umschaltet. Geduldig wartet sie, während die Autos an ihr vorbeifahren. Sie gehört nicht zu denjenigen, die einfach bei Rot über die Ampel gehen.
Beinahe unbemerkt wartet ebenfalls eine junge Frau neben ihr an der Ampel. Monika ist sich nicht sicher, ob die Frau bereits vor ihr da war oder erst nach ihr gekommen ist. Plötzlich rast ein Auto mit außergewöhnlich hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Erlaubt sind 50 Stundenkilometer, der Raser hatte mindestens 80 drauf, wenn nicht gar 100. Etwa 10 Meter vor der Ampelanlage verläuft eine ziemlich scharfe und unübersichtliche Rechtskurve, weshalb das Fahrzeug fast den Bordstein gestreift hätte. Nicht selten
laufen hier auch Kinder bei rot über die Straße. Die Frau neben ihr schüttelt den Kopf, als der Raser vorbeifährt.
"Was dadurch alles passieren kann - diese Leute sind sich gar nicht darüber bewusst, dass sie durch ihr rücksichtsloses Verhalten schreckliche Unfälle verursachen können", sagt die Frau entrüstet, aber gleichzeitig ohne Aggression in ihrer Stimme.
"Da haben sie Recht! Diesen Idioten sollte man gleich den Führerschein entziehen", erwidert Monika.
Die Frau nickt zustimmend. Für einen kurzen Moment blickt sie zu Monika hinauf und lächelt ihr freundlich zu. Was für lebensfrohe und sanfte Augen diese Frau hat, denkt Monika sogleich im selben Augenblick. Von dieser Frau geht ein Frieden aus, den sie selbst, wenn überhaupt, nur bei wenigen Menschen in einer solchen Intensität gespürt hat. Wie schafft diese Frau das nur, fragt sich Monika. Die Fremde ist weder geschminkt noch sonst irgendwie besonders zurechtgemacht. Vielleicht liegt es ja gerade daran? Sie
hat glatte, etwa schulterlange Haare und trägt ein schlichtes weißes T-Shirt. Der etwas dunkle Teint und die haselnussbraunen Augen lassen auf eine südländische Herkunft schließen. Möglicherweise eine Griechin oder Türkin, vielleicht aber auch eine Deutsche. Doch all dies ist uninteressant, denn die Ausstrahlung dieser Frau lassen all diese einschätzenden und zugleich abschätzenden Fragen in den Hintergrund treten. So sehen Madonnen aus, denkt sich Monika, als die Ampel auf Grün schaltet.
"Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch", sagt die Frau, während sie beim Überqueren der Straße nach links abbiegt.
"Ihnen auch", grüßt Monika ein wenig gedankenverloren zurück.
Monika geht geradeaus weiter. Was für eine bewundernswerte Frau, denkt Monika, als sie den Weg in Richtung Innenstadt einschlägt. Nicht oft in ihrem Leben ist sie einem Menschen begegnet, der sie dermaßen in den Bann zog. Und dies alles in nur wenigen Minuten - an einem Ort, der nicht gerade dazu prädestiniert scheint, erwähnenswerte menschliche Begegnungen zu ermöglichen.
Ich muss diese Frau wiedersehen, schießt es ihr durch den Kopf. Kurz entschlossen dreht sie sich um, mit dem Ziel, diese Frau zu wiederzufinden. Das kann schließlich nicht allzu schwierig sein, denn es ist ja erst kurze Zeit her gewesen, als sich ihre Wege trennten.
Das Stadtparkcafe ist nun ziemlich gut besetzt. Trotzdem ist der Tisch, an dem sie vor einer guten Stunde gesessen hatte, noch frei gewesen. Sie trinkt ein Glas Rotwein und schaut dabei den Spatzen zu, die um die am Boden liegenden Brotkrümel konkurrieren.
Ihr ist es nicht mehr gelungen, die Frau an der Ampel wiederzufinden. Nur allzu gerne hätte sie mit ihr den übrigen Nachmittag verbracht. Doch auch wenn diese zwischenmenschliche Begegnung nur kurze Zeit dauerte, so war sie doch von immenser Wirkung. Ihr wurde auf einmal klar, dass sie sich das Leben selbst zur Hölle machte. Das Leben ist nicht abhängig von irgendwelchen Äußerlichkeiten, die sie glaubte, um beinahe jeden Preis verkörpern zu müssen. Es ist einfach vergeudete Zeit, sich selbst idealisierten Vorstellungen
hinzugeben, die zudem nicht einmal von einem selbst stammen, sondern vielmehr von der oberflächlichen Gesellschaft an einen herangetragen werden. Ein ungeheuerer Druck baut sich dadurch auf, an dem die Seele immer mehr zugrunde geht. Was nützt einem das tollste Aussehen und der größte Erfolg, wenn man selbst nicht im Frieden mit sich ist? All diese Äußerlichkeiten sind nur Nebensächlichkeiten. Wie sonst könnte diese Frau neben ihr eine solche auffallende innere Ausgeglichenheit ausstrahlen? Nicht, dass sie etwa
nicht gut ausgesehen hat, nein, ganz im Gegenteil. Doch ihre Schönheit kam von innen, und dies übertraf alles, was Monika bisher an schönen Frauen gesehen hat.
Vielleicht wird sie dieser Frau ja wieder einmal begegnen - dieser wunderschönen Frau ohne Beine, die an der Ampel neben ihr im Rollstuhl saß.
Sie würde es sich wünschen.
Eingereicht am 14. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.