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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Am Ende des Regenbogens

© Stephanie Maharaj


Freitagabend. Wie immer um diese Zeit ist der Bus voll mit jungen Leuten, die in Richtung Stadt fahren, um sich zu amüsieren. Zufrieden sitzt sie am Fenster, zwischen dem fröhlichen Geplapper, dem Piepen, Klingeln und Singen der Handys. Düfte nach süßem, billigem Parfüm, aufdringlichem Rasierwasser und frisch gewaschener Wäsche drängeln sich aneinander, machen die Luft schwer und schleichen sich uneingeladen in die Nase. Sie nimmt das alles nur flüchtig wahr. Lieber schaut sie nach draußen in die Landschaft, lässt ihren Blick im Licht der Abendsonne baden und bewundert das Leuchten der Herbstfarben, die den Hügeln und Wäldern ein buntes Gewand übergestreift haben. Der Bus schiebt sich langsam über die wenig befahrene Landstraße und gibt ihr Zeit, die Fahrt zu genießen. Eine gute Stunde braucht er bis in die Stadt. Sie könnte es sich bequemer machen und sich jetzt ein Auto leisten, aber sie fährt gern mit dem Bus. Jeden Freitagabend bringt er sie zurück in die Stadt, jeden Montagmorgen zurück ins Dorf an ihre Arbeit.
Die meisten Leute machen es umgekehrt. Sie arbeiten in der Stadt und leben auf dem Land. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, sich Arbeit auf dem Land zu suchen. Es ist ihr sozusagen im Traum eingefallen. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht bei diesem Gedankenspiel. Es ist fast genau ein Jahr her, seit sie die Fahrt zum ersten Mal gemacht hat.
Noch heute kommt es ihr wie ein Wunder vor. Nein, wie ein Geschenk. Ein Geschenk des Himmels.
Ihre Erinnerungen schweifen weiter zurück in die Vergangenheit, in die Zeit vor diesem erstaunlichen Ereignis. Das Lächeln auf ihren Lippen verschwindet und hätte sie jemand beobachtet, wäre ihm bestimmt die Traurigkeit aufgefallen, die die Freude in ihren großen, grünen Augen zur Seite schiebt.
Es war eine schwere Zeit. Zäh und schwer wie Blei.
Sie erinnert sich gut an die Hoffnung, die sie mit jeder Briefmarke mit auf den Umschlag einer Bewerbung klebte. Der Briefkasten unten im Hausflur bekam in dieser Zeit eine magische Anziehungskraft. Zumindest während der ersten Hälfte des Tages, bis der Postbote gegen ein Uhr kam. Sie wartete auf das Klappern der Briefkastendeckel, um dann auf Strümpfen die Treppen hinunter zu laufen und nachzusehen, ob etwas für sie dabei war.
Sie sperrte den Kasten auf, hastig, begierig, bis ihr die Leere entgegen sprang. Dann knallte sie das Türchen wieder zu. Doch die Enttäuschung war schon entwischt, gab der Hoffnung einen Tritt und setzte sich auf ihren Platz.
An manchen Tagen behielt die Hoffnung für einen Moment die Oberhand. Ein Brief lag im Kasten. Er wurde hastig aufgerissen, zuerst überflogen, dann noch einmal Zeile für Zeile gelesen und landete am Ende zusammen mit der Hoffnung im Papierkorb.
Zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir zurzeit keine Neueinstellungen vornehmen.
Ob die alle von einander abschrieben?
Niemand wollte sie, niemand brauchte sie, niemand lud sie zum Vorstellungsgespräch ein.
Sie hatte doch eine ordentliche Ausbildung, gute Zeugnisse und jede Menge Zusatzqualifikationen. All diese Arbeit konnte doch nicht umsonst gewesen sein! Sie wollte etwas Schönes, etwas Sinnvolles in ihrem Leben tun. Sie hatte so viel gelernt. Sie wollte dieses Wissen nutzen und das Beste daraus machen. Sie wollte stolz sein auf das, was sie tat.
Nach ungezählten Wochen und Monaten ohne erfreuliche Nachrichten wurde aus der Enttäuschung Resignation. Resignation war leichter zu ertragen, als das ewige Schaukeln zwischen Hoffnung und Enttäuschung, das ihr Magenschmerzen verursachte.
Sie verschickte weiter Bewerbungsschreiben, doch die Hoffnung blieb zu Hause. Sie wartete nicht mehr. Das Klappern der Briefkastendeckel verschwand unbemerkt zwischen anderen Geräuschen im Haus.
Drei Jahre lang schwamm sie ziellos in ihrem Leben umher und all die schönen Pläne und Träume, die sie während ihres Studiums geschmiedet und geträumt hatte, wurden Stück für Stück in der Mühle des Alltags zermahlen. Sie hielt sich mit kleinen Jobs über Wasser, die sie weder ausfüllten noch interessierten.
Eines Morgens wachte sie auf und erinnerte sich an einen Traum. Nein, eigentlich erinnerte sie sich nicht daran. Das war ja das Problem. Alles, was in ihrer Erinnerung hängen geblieben war, war eine Zahl - 513 - und ein Satz: "Achte auf die Bäume!"
Hinter diesem Satz versteckte sich eine Dringlichkeit, die sie aus dem Schlaf rüttelte. Sie wühlte in ihrer Erinnerung herum und wollte nach den Fetzen des Traumes tasten. Doch je mehr sie versuchte sich zu erinnern, desto schneller schien er im dunklen Meer ihres Unterbewusstseins zu versinken. Am Ende blieb ihr nur die Zahl und der Satz.
Was sollte sie damit anfangen? - Es schien unsinnig, aber sie kam von dem Gefühl nicht los, dass sich dahinter eine wichtige Nachricht verbarg. Ein Geheimnis, das ihr aus ihrer misslichen, unglücklichen Lage heraus half.
Sie glaubte an Träume. Sie konnte sich vorstellen, dass sich irgendwo in dem anscheinend ungenutzten Teil des Gehirns ein Schatz an Weisheit versteckte, zudem sie in wachem, bewusstem Zustand keinen Zugang hatte. Träume öffneten die Türen zu diesem Schatz und wenn man klug genug war, die Symbolik des Traumes zu verstehen, konnte man auf Antworten stoßen, die sich durch logisches Nachdenken nicht finden ließen. Davon jedenfalls war sie überzeugt. Und diese Überzeugung machte einem neuen Hoffnungsschimmer Platz, der sich lange Zeit nicht hatte blicken lassen. Sie hieß ihn dankbar willkommen und begab sich auf die Suche.
Tagelang verkroch sie sich in ihrer kleinen Wohnung und versuchte heraus zu finden, was es mit der Zahl auf sich hatte. Sie nahm jedes Buch in die Hand, das mindestens 513 Seiten hatte, - versteckte sich dort vielleicht ein Hinweis? - durchforstete jede Anzeige in der Zeitung, verglich Telefonnummern und Geburtstagsdaten.
Sie lief wieder und wieder in den kleinen Stadtpark. Es war der einzige Ort in ihrer Nähe, an dem es Bäume gab. Sie suchte die Baumstämme nach angehefteten Zetteln ab, die eine wichtige Nachricht enthalten könnten. Sie zählte alles, was sich zählen ließ und wusste schließlich sogar, wie viele Bäume (216), Bänke (17) und Blumenbeete (36) es in diesem Park gab.
Ihr Freund Paul machte sich schon über sie lustig: "Kennst du die Geschichte vom Schatz am Ende des Regenbogens?", hatte er sie einmal gefragt.
Natürlich kannte sie diese Geschichte. Niemand findet diesen Schatz, weil das Ende des Regenbogens verschwindet, wenn man ihm nahe kommt. Er ist ein Hirngespinst für Träumer. Doch sie glaubte an Schätze und Wunder - und an Hinweise und Hilfe von oben oder von woher auch immer. Man durfte nur nicht aufhören daran zu glauben.
Eines Tages lief sie über den Busbahnhof. Es war ein wunderschöner Herbsttag wie heute. Sie kaufte sonst nie am Bahnhofskiosk die Zeitung. Nur an diesem Tag tat sie es, weil die Zeitung woanders schon ausverkauft gewesen war.
Sie hatte es nur in den Augenwinkeln wahrgenommen und war schon daran vorbei gelaufen, als sie die Erkenntnis wie ein Blitzschlag traf. Sie blieb abrupt stehen und drehte sich um. Da stand es! Da, auf dem Bus: 513 - Eichenwald. - Da hast du deine Bäume! -dachte sie fassungslos und starrte auf die Aufschrift. Vor Aufregung fing ihr Herz an zu hämmern und ihre Hände wurden feucht. 513. Es ist eine Buslinie!
Mit zitternden Knien eilte sie auf den Bus zu, die Tür stand offen, ein Busfahrer saß mit einer Kaffeetasse in der Hand über einer Zeitung gebeugt.
"Verzeihung, wo liegt bitte Eichenwald?" fragte sie atemlos.
"Eine gute Stunde außerhalb der Stadt, Richtung Süden", antwortete der Busfahrer über seine Brillengläser hinweg.
"Was gibt's denn da?", fragte sie weiter und ärgerte sich im nächsten Moment. Wie sollte denn dieser Mann wissen, wonach sie suchte. Das wusste sie ja selbst nicht genau. Ein verständnisloser Blick des Fahrers bestätigte ihr, dass er ihre Frage tatsächlich merkwürdig fand.
"Nix. Eine kleine Kirche mit ein paar Häusern drum herum. Da sagen sich die Füchse gute Nacht", antwortete er.
Ratlos ließ sie die Schultern hängen. Eine Welle der Enttäuschung kühlte die begierige Aufregung in ihrem Bauch unversehens ab. Was hatte sie denn erwartet?
Und trotzdem - 513 - Eichenwald - das war doch kein Zufall! Entschlossen stieg sie ein und kaufte eine Fahrkarte. "Das muss ich mir selbst ansehen", sagte sie und ignorierte das Schulterzucken des Fahrers.
Sie erinnert sich gut an die Fahrt hinaus aus der Stadt, als die Häuser zurückblieben und den Maisfeldern Platz machten. Dann der Wald, das Dorf, die Endstation: Eichenwald. Sie erinnert sich an das Kribbeln im Bauch, die Unruhe in ihr und die Frage: Was nun?
Plötzlich kam ihr das ganze Unternehmen unsinnig vor.
Was mache ich denn hier? Wonach suche ich überhaupt?
Niemand war mit ihr ausgestiegen. Sie kannte niemanden in diesem Ort, sie sah keinen Menschen in der Nähe der Haltestelle. Nur einen Hund, der schnüffelnd den Straßenrand erforschte. Wie der Busfahrer gesagt hatte: Eine Kirche, ein paar Häuser und sonst nichts.
"In einer Stunde fahr ich zurück. Dann fährt erst heute Abend wieder ein Bus", sagte der Busfahrer, als sie ausstieg. Sie nickte. Eine Stunde. Das war genug Zeit, sich in Ruhe an diesem Ort umzusehen.
Ziellos wanderte sie die Hauptstraße entlang, schlenderte über den Kirchplatz, bemerkte die Bäckerei und den kleinen Supermarkt, bog in Seitenstraßen ein, begegnete misstrauischen Blicken und erwiderte sie mit einen schüchternen Lächeln. Es war ein hübsches, kleines Dorf mit gepflegten Gärten und gemütlich aussehenden kleinen Häusern. Ordentliche Leute harkten die ersten herab gefallenen Blätter vom Rasen oder standen auf Leitern und ernteten lecker aussehendes Obst.
Doch sie fand nichts, was ihre Aufmerksamkeit weckte und aussah wie ein himmlisches Zeichen, oder gar ein möglicher Arbeitsplatz.
Enttäuscht machte sie sich auf den Rückweg zur Bushaltestelle. Ein paar Meter vor ihr kam eine ältere Dame durch ein Gartentor. Sie schob ein Fahrrad, auf dessen Gepäckträger ein dicker Korb mit Äpfeln gefährlich schwankte. Der Korb war zu dick, blieb am Tor hängen und fiel zu Boden. Die Äpfel kullerten in alle Richtungen davon.
"Ach, wie ungeschickt!", ärgerte sich die Dame.
"Kann ich Ihnen behilflich sein?", fragte sie und machte sich daran, die Äpfel einzusammeln.
"Das ist wirklich sehr liebenswürdig! Vielen Dank!", sagte die Dame lächelnd und hob den Korb wieder auf den Gepäckträger. Dann drehte sie sich nach ihr um und reichte ihr die Hand. "Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Sind Sie neu zugezogen?", fragte die Dame und die freundlichen blauen Augen gefielen ihr sofort.
"Nein, ich wollte mich hier nur mal umsehen.", sagte sie und fühlte sich ungemütlich. Die Geschichte mit dem Traum wollte sie lieber nicht erzählen.
Dann sah sie das Haus. Die Fenster standen offen. Es war sehr groß, alt und heruntergekommen, doch die alte Pracht, die es einmal gehabt haben musste, ließ sich noch deutlich erahnen.
"Ein schönes Haus. Gehört das Ihnen?"
"Ja. Es ist ein Jammer. Das ist das Haus meiner Eltern. Es soll neu wieder aufgebaut werden, aber in der Baufirma meines Mannes ist so viel zu tun. Er kommt einfach nicht dazu, wissen Sie. Wenn das so weitergeht, wird es noch verrotten."
"Darf ich es mir einmal ansehen?", fragte sie und wunderte sich über ihren Mut.
Die Dame sah sie interessiert an. "Sicher, gern. Kennen Sie sich denn damit aus?"
"Ja, ich bin Architektin", hört sie sich sagen.
Damit hatte es angefangen.
Das Haus ist inzwischen fertig und darin gibt es ein Büro, in dem sie als Mitarbeiterin der Baufirma neue Projekte bearbeitet, nachdem ihr die Wiederherstellung des alten Hauses so gut gelungen war.
Die Sonne winkt mit den letzten Strahlen zu ihr herüber und in ihren Mundwinkeln findet sich das Lächeln wieder.
Es gibt doch einen Schatz am Ende des Regenbogens, denkt sie und freut sich auf das Wochenende in der Stadt.



Eingereicht am 14. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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