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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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© Almut Greiser


Es fing damit an, dass ehemalige Schüler von ihr, zu denen sie ein loses freundschaftliches Verhältnis hatte, angeführt von einem gewissen Jens, sie gefragt, gebeten, ja gedrängt hatten, ihnen doch während ihrer Abwesenheit über Silvester das Haus, in dem sie derzeit alleine wohnte für eine Silvesterparty zu überlassen.
"Warum nicht, Frau Gruber, nur wir und ein paar Freunde, damit wir mal, nein, nicht was Sie denken, keine Drogen und so, wir möchten einfach nur einmal, mit den Eltern, Sie wissen ja, wie das ist und wo sollen wir denn hin, wir passen schon auf, da passiert nichts, und falls etwas, dafür kommen wir dann schon auf."
Ja, warum eigentlich nicht. Und sie hatte diesem Jens ihren zweiten Schlüssel übergeben.
Aber dann fing sie an, es war noch etwa eine Woche bis zu ihrer Abreise, mitten in der Nacht aufzuwachen und zu grübeln und dieses unklare panische Gefühl zu entwickeln, das ihr alle möglichen Katastrophen vorspielte: Ein riesiges Besäufnis, und Mädchen, die vielleicht noch nie so viel gesoffen und wenn sie nun doch Drogen, und immer dazwischen die Mädchen, die nicht wissen wie ihnen geschieht, und überall Kotze und herumliegende Leiber und Gekreische und diese Musik, aber die Nachbarn sind ja weit, und keiner erkennt, dass dieses Mädchen jetzt schon dringend Hilfe, ach was, wahrscheinlich nur fürchterlich besoffen, tja, für jeden ist irgendwann das erste Mal, und keiner kommt auf die Idee, und schon gar nicht Notarzt. Und dann doch Notarzt und vielleicht zu spät oder nicht zu spät, und die Eltern, und wie konnte das überhaupt, und dann plötzlich alle Finger auf sie, das hätte sie doch vorher wissen müssen, das weiß doch jeder, und gerade sie als Lehrerin, wie konnte sie nur.
Und in der nächsten Nacht wurde sie wieder aufgeschreckt, diesmal von Feuerphantasien, es braucht bloß jemand seine Zigarette wegzuwerfen oder eine von den überall aufgestellten Kerzen, runter gebrannt bis zum Docht, brennt sich in den Boden oder setzt eine herumliegende Zeitung in Brand und dann Hektik und Chaos und Schreie und Fenster auf und alle raus und wo ist denn Anja.
Und so rief sie kurz vor ihrer Abfahrt in die Silvestermeditation den Vater von Jens an. Dieser war, wie sich im Laufe des Gesprächs herausstellte, befremdet über ihre fast unbegreifliche Großzügigkeit den jungen Leuten gegenüber und sehr erleichtert, als sie ihn bat, den Schlüssel an sich zu nehmen, "denn ich möchte es nun lieber doch nicht." Den Schlüssel würde sie dann nach ihrer Rückkehr gelegentlich wieder abholen kommen.
Später, im späten Januar, ein kurzes Bild: Sie stürmt aus dem Haus, endlich kann sie losfahren, auf dem Weg zu ihm, dem Neuen, dem Silvestergeliebten, bin schon unterwegs, die Tür fällt ins Schloss, sie ist schon fast an der Gartentür, und beim Geräusch der zufallenden Tür weiß sie: ich bin ausgechlossen. Denn sie hat plötzlich, beim Geräusch der zufallenden Tür, einer Tür mit Einsatz aus schwerem Milchglas, das auf eine ganz bestimmte Weise scheppert, den Schlüssel auf dem Esstisch gesehen neben der Teekanne, wo sie ihn hingelegt hatte noch mit dem Gedanken, ich darf ihn ja nicht vergessen einzustecken. Aber dann war das Telefongespräch dazwischengekommen. "Wann meinst du, das du ankommst, natürlich warte ich." Jetzt also ausgesperrt, aber das lösen wir später, wenn ich wiederkomme, keine Bange, dafür gibt es dann schon eine Lösung, sonst hab ich ja alles dabei, bin schon unterwegs, Liebster.
Drei Tage später am frühen Abend nach endloser Fahrt zurück: sie und ein alter Freund, den sie bei ihrer Rückkehr mobilisiert hat.
"Du, ich habe mich ausgeschlossen und brauche deine Hilfe. Am besten wir schlagen das Kellerfenster ein" Sie hocken also vor diesem Fenster mit eingewickeltem Hammer bewaffnet, machen noch Witze darüber, was die Nachbarn wohl denken. "Also soll ich?" "Klar, nun mach schon."
Und in diesem winzigen Moment genau bevor die Scheibe zersplittert und die Scherben nach innen fallen, in diesem Bruchteil, bevor es passiert und nichts mehr zu ändern ist, fällt ihr der andere Schlüssel ein, den sie abzuholen vergessen hatte. Dem Freund kann sie natürlich nicht sagen, dass er eigentlich ganz umsonst die Scheibe eingeschlagen hat. Dann greift der Freund, "Vorsicht, dass du dich nicht an den Scherben schneidest", durch das Loch nach innen und öffnet das Fenster. Er klettert zuerst hinein und hilft ihr beim Hinabsteigen. Dann gehen sie die dunkle Kellertreppe hinauf. Und auf dem Küchentisch neben der Teekanne liegt der Schlüssel. Ganz einfach.
"Komm, darauf müssen wir einen trinken, du siehst ja ganz mitgenommen aus. Das kann doch jedem passieren. So was sollten wir vielleicht öfter machen?". lacht der Freund.
"Ja", sagt sie, "darauf müssen wir einen trinken."
Und sie versucht ihr Zittern zu unterdrücken. Denn in diesem winzigen Augenblick, als der Freund den Arm hebt, sie schon das Klirren hört, und alles zu spät ist, hatte sie noch etwas anderes gesehen, das Ende von etwas. Das Ende aller Vertrautheit, aller Zusammenhänge, aller Liebe. Und versprochen ist nicht versprochen. Als sei sie selbst in Stücke geschlagen und nie mehr zusammenzusetzen. Aber dieser winzige Augenblick war vorübergegangen, alles wurde wieder fest und vertraut, und das ist ihr Haus, und sie ist wieder drinnen, und jetzt trinken wir noch einen, und morgen lässt sie die Scheibe ersetzen.



Eingereicht am 14. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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