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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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An Engel glauben

© Siffer Adrian Merguhl


Erst dachte ich, der Streit ginge so los wie immer. Doch alles wurde anders.
Pa kam wieder mal spät nach Hause. Ich musste nicht dabei sein, um zu wissen, was abgeht. Nicht dick genug konnten die Wände sein, nicht laut genug das Radio. Zusammengekauert zwischen Bett und Schreibtisch konnten selbst meine langen Haare meine Tränen nicht verbergen. Ohnehin war niemand je gekommen, sie zu sehen. Ich hätte tot sein können, und keiner hätte es bemerkt.
Wie ich mir wünschte, dass es schnell vorüberging. Diesmal jedoch hatte er nicht nur die gewohnte Bierfahne, sondern obendrein Lippenstift am Kragen; das aber erfuhr ich erst viel später.
In der Hand hielt ich einen Engel. Es war eine dieser kleinen, billigen Keramikfiguren, handbemalt, und nicht mehr wert als so manches gegebene Versprechen. Ganz fest drückte ich ihn an mich, stets tat ich das. Die abgebrochenen Spitzen seiner Flügel können es euch erzählen. Diesen Engel hatte ich mal von Pa bekommen, damals, als er auszog, die Welt zu erobern. Nach drei Tagen war er heimgekehrt, mit einem Keramikengel für mich, seinen ‚wahren Engel', und einem Schnellkochtopf für Ma.
Draußen vor meiner Tür ebbte das Geschrei nicht ab. Ich versuchte, es zu ignorieren, zu verdrängen. Ich erträumte mir, ich lief davon, und draußen vor dem Haus stand dann mein richtiger Engel, der mich errettete vor dem Bösen dieser Welt, vor all den schrecklichen Dingen, die ich niemals hätte miterleben sollen. Er war in gleißendes Licht getaucht und viel schöner als der, den ich in Händen hielt. Er lächelte mich an, und ich vertraute ihm. Gemeinsam entschwanden wir dem Dunkel des Kosmos und kamen niemals zurück.
Doch ich lief niemals davon.
Plötzlich gab es einen dumpfen Knall, und die Schreie änderten sich. Aus Wut wurde Schmerz, aus Zorn wurde Angst. Eine Tür wurde geöffnet, eine andere zugeschlagen. Ich versuchte, mich noch weiter in meine Nische zurückzuziehen, doch weiter ging leider nicht. Dann wurde auch die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen, und mein Pa fiel förmlich herein. Sein Kopf, sein Gesicht, sein Hemd - alles war voller Blut, und er stammelte nur: "Hilf mir!"
Jetzt sind sie alle weg: Ma und Pa, die Polizei und der Arzt mit seinen Sanitätern, nur diese Frau vom Jugendamt mit ihrem gestrengen Blick sitzt mir noch gegenüber. Der unförmige Glasascher, der mindestens zwei Kilo wiegt oder mehr, steht wieder an seinem angestammten Platz, doch ich kann immer noch einige verkrustete Blutspritzer daran erkennen. Sie erklärt mir, ich käme jetzt in ein Heim. Irgendjemand hatte einen Kakao auf den Tisch gestellt - für mich, dabei trinke ich schon lange keinen mehr. Ich könne nicht zurück, erklärt sie mir, nicht zu meinen Vater und auch nicht zu meiner Mutter. Ich werde sie für lange Zeit nur selten zu Gesicht bekommen, vielleicht auch nie wieder. Letzteres sagt sie zwar nicht, meint es aber. Das verrät mir ihre Stimme. Mir kann sie nichts vormachen. Ich blicke überall um mich, weg vom Ascher zu all den anderen Gegenständen in diesem Zimmer, nur nicht in ihr Gesicht. All die Dinge, die mir so vertraut sein sollten, vermitteln mir plötzlich das Gefühl der Fremdartigkeit. Ich habe stets gedacht, ich könne nirgendwo mehr alleine sein als in meinem Zimmer, aber nun war ich es. Sie sagt zu mir, ich müsse jetzt stark sein. Ich soll einige Sachen zusammensuchen, denn wir müssen bald fahren.
Gut, sage ich und gehe zurück in mein Zimmer, um mich von ihm zu verabschieden. In Wahrheit hatte ich das schon längst getan, vor vielen Jahren schon. Das Notwendigste habe ich schnell beisammen. Ich zögere kurz und werfe einen Blick auf den Keramikengel, der nun auf meinem Schreibtisch steht. Er steht immer noch dort, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe.
Ich muss jetzt stark sein, und an Engel glauben nur die Schwachen.



Eingereicht am 13. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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