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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Das Reichsgebiet ist feindfrei
© Ulli Renk
Wie gebannt hockten sie um den Volksempfänger. Immer zur vollen Stunde kamen die Nachrichten über die aktuelle Lage. Vorhin hatte es Fliegeralarm gegeben und Frank war zusammen mit den anderen in den Bunker gegangen.
Die Frauen trieben die Kinder an, aber Frank mit seinen zwölf Jahren voller Erfahrung konnte nur darüber lächeln.
Vor einer Woche war er mit seiner Mutter nach einer langen Odyssee hier angekommen. Fast fünf Tage hatte die Flucht aus Frankfurt an der Oder gedauert. Da kamen sie her und nun waren sie im Sauerland. Erst hatte er ungläubig gelacht, als seine Mutter ihm sagte, dass sie zur Tante ins Sauerland fliehen wollten. Doch dann war die Aufforderung zur Evakuierung gekommen und alle Frauen und Kinder hatten Frankfurt zu verlassen. Auf der Ostseite war die rote Armee in Position gegangen und westlich der Stadt sammelten
sich die deutschen Verbände. Schon begannen einzelne Artilleriescharmützel über die Stadt hinweg.
"Aber Mutti, wir können hier nicht weg. Wir können doch nicht ins Sauerland. Wo ist das denn überhaupt?" "Natürlich können wir." Sie packte eilig die wenigen Sachen zusammen. "Wir müssen sogar. Alle müssen die Stadt verlassen und ich werde den Teufel tun und in ein Sammellager gehen, solange es die Möglichkeit gibt, woanders unterzukommen." "Aber Vati weißt doch dann gar nicht, dass wir bei Tante Luise sind. Wie soll er uns denn dann finden, wenn er wiederkommt?" Seine
Mutter wischte sich schnell über das Gesicht, verrieb eine Träne in die Wange und meinte wohl, er hätte es nicht gesehen.
Immer fing sie zu weinen an, wenn die Sprache auf Vati kam, das verstand er nicht. Sein Vater wurde in Russland vermisst. Das bedeutete doch nur, dass er irgendwie in dem großen Land den Anschluss an seinen Verband verloren hatte. Irgendwann würde er sie schon wiederfinden oder sie ihn. Dann würde er sicherlich nach Hause kommen. Vielleicht war er sogar schon auf dem Heimweg. Wie sollte er dann wissen, wo sie waren? Sie konnten nicht weg, schon gar nicht ins Sauerland. Wie das alleine klang.
"Ich bleibe!" Er verschränkte trotzig die Arme.
Doch alle Proteste nutzten nichts. Onkel Jupp, der bei der Bahn arbeitete, hatte ihnen Fahrkarten besorgt und sie in den Zug gesetzt. Die Gefechte wurden stündlich heftiger und zum Schluss war Frank trotz seiner Bedenken froh, die Stadt zu verlassen.
Er war bisher erst einmal länger mit der Bahn gefahren. Das war vor zwei Jahren, als sie die Großmutter in Berlin besuchten. Damals war es lustig und aufregend. Diesmal war die Zugfahrt fürchterlich. Viel mehr Leute drängten sich in den Zug, als Platz war. Es stank und er bekam kaum Luft.
Andererseits fror er auch. Immer wieder hielt der Zug an, wenn es Fliegeralarm gab und alle sprangen hinaus, suchten verzweifelt Schutz in Gräben oder unter Bäumen. Zweimal wurden sie beschossen. Wenn der Alarm vorbei war, mussten sie zusehen, dass sie schnell wieder in den Zug kamen, denn der fuhr ohne Rücksicht auf Trödler los. Sie wurden oft umgeleitet, auf Nebengleise abgestellt, denn natürlich hatten die Armeetransporte Vorrang.
Frank konnte das verstehen. Die Armee verteidigte das Vaterland. Sein Vater war auch Soldat, er hatte Vorrang.
Trotzdem war die Fahrt anstrengend und beängstigend. Er konnte spüren, wie erleichtert seine Mutter war, als sie nach fünf Tagen schließlich den Ort erreichten, in dem Tante Luise wohnte. Ihr Mann, Onkel Fritz, hatte eine Fabrik, in der kriegswichtiges Material hergestellt wurde. Was das war, schien niemand so genau zu wissen, jedenfalls wurde nicht darüber gesprochen. Frank versuchte ein paar Mal herauszufinden, was denn da oben in der zugemauerten Höhle im Berg hergestellt wurde, aber er gelangte weder hinein
noch bekam er Antworten.
Tante Luise und Onkel Fritz wohnten in einem großen Haus im Dorf. Das war es, ein Dorf. Überhaupt nicht zu vergleichen mit der Stadt, der großen Stadt, aus der Frank kam.
Allerdings stellte er schnell fest, dass das Dorfleben auch Vorteile hatte.
Jeder baute in seinem Garten Obst und Gemüse an, es gab Schweine und Schafe, frische Milch. Dinge, die Frank fremd geworden waren.
Auch wurde selten Fliegeralarm ausgelöst und die rote Armee war weit weg.
Aus irgendeinem Grund war nicht bekannt, dass hier kriegswichtiges Material hergestellt wurde, denn das Dorf war noch nie beschossen worden.
Die größeren Städte in der Nähe wurden bombardiert und dann gab es Alarm.
Jedoch war hier noch nie eine Bombe niedergegangen.
Seine Mutter und er wohnten nicht in dem großen Haus. Tante Luise war auch nicht wirklich Franks Tante, sondern nur die Cousine dritten Grades seines Vaters. Sie waren unwillkommene Gäste, das war schnell klar. Zurückschicken konnte man sie aber auch nicht. Deshalb bekamen sie ein winziges Zimmer in den Baracken auf dem Werksgelände, in denen auch die Fremdarbeiter wohnten.
Frank rümpfte die Nase. Er hatte Heimweh nach Frankfurt, wollte sein Zimmer haben und seine Wohnung. Dort roch es nach Zuhause, hier stank es nach Kohl und Bohnerwachs. Doch seine Mutter zuckte nur müde mit den Schultern und räumte die wenigen Sachen ein, die sie hatten mitbringen können. Es gab nur ein Bett, das sie sich teilten. Er schlief am Fußende, seine Mutter am Kopfende. Die kleine Kommode reichte völlig für die wenigen Kleidungsstücke, die sie noch hatten.
Auf dem kleinen Tischchen fand das Photo des Vaters seinen Ehrenplatz und natürlich die Nähsachen der Mutter. Sie war Näherin und bald nach der Ankunft warb sie mit ihrer Tätigkeit. Tante Luise lächelte leicht angesäuert, etwas, was Frank missmutig stimmte.
Ebenso missmutig wie Adolf, Tante Luises Sohn, ihn machte.
Jener war ein knappes Jahr älter als er, aber dachte wohl, er hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen. Adolf behandelte ihn von oben herab, dabei war Frank es doch, der das wirklich harte Leben schon gesehen hatte. Ihm hatten die Artilleriegeschosse um die Ohren gepfiffen, sein Zug war bombardiert worden. Was hatte Adolf dem entgegenzusetzen? Nichts.
"Puckelige Verwandtschaft", seufzte seine Mutter manchmal leise. Frank wusste nicht, was das bedeutete, aber das brauchte er auch nicht. Der Tonfall reichte, sie hatte sicher Recht.
In den Baracken waren auch Russen untergebracht. Als Frank das erfuhr, konnte er nicht einschlafen vor Empörung. Russen. Untermenschen.
Diejenigen, die dafür verantwortlich waren, dass sein Vater vermisst wurde.
Wut kroch in seinem Hals empor und setzte sich dort fest. Ein fetter Kloß, den er einfach nicht hinunterschlucken konnte.
Am nächsten Tag schickte Tante Luise ihn auf das Feld hinter die Baracken, Frühkartoffeln auslesen. Er hatte so etwas noch nie gemacht, die Müdigkeit steckte ihm in den Knochen und ihm war immer noch irgendwie schlecht. Die Tante hatte ihm eine große Grabharke in die Hand gedrückt und mit der versuchte er nun den Boden aufzulockern, um an die Kartoffeln heranzukommen. Einen Eimer sollte er füllen, vorher brauchte er gar nicht nach Hause zu kommen. Die wenigen Tage hier bisher reichten aus, um Frank klarzumachen,
dass sie es ernst meinte.
Verzweifelt drückte er die Harke in den lehmigen Boden. Sie wollte einfach nicht tief genug eindringen. Er stöhnte verzweifelt auf, hob die Harke an, rammt sie mit aller Wucht in den Boden. Ihm wurde schwarz vor Augen.
"Njet, njet!"
Eine Stimme drang an sein Ohr und er zuckte zusammen, als hätte er eine ganze Reihe von Stromschlägen erhalten.
"Paschalsta!"
Der Mann griff nach der Harke und nahm sie Frank aus der Hand. Mit geübten Bewegungen und spontaner Entschlossenheit grub er den Boden um. Frank brauchte die Kartoffeln nur aufzulesen. Schnell war der Eimer voll. Der Mann gab grinsend die Harke zurück.
"Kak tebja sawot?" Er zog die Augenbrauen fragend hoch.
"Volodja!" Er zeigte auf sich. "Volodja! Kak tebja sawot?" Frank biss sich auf die Lippe. Der Mann nannte seinen Namen und fragte nach Franks, das war ihm klar. Ein Russe. Ein Untermensch. Er hatte ihn schon mal gesehen. Volodja wohnte auch in den Baracken.
"Frank." Die Antwort kam zögernd heraus, und er überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, den Namen zurückzuholen.
"Ah, da, da, Frank!"
Der Mann wischte sich die Hände an der Hose ab und lächelte freundlich.
Frank zog die Stirn kraus, schaute verlegen zu Boden. Der Mann hatte ihm geholfen, er hatte die Hilfe angenommen. Das war nicht richtig, das sollte nicht so sein.
Volodja nickte ihm freundlich zu und ging. Einen Moment schaute Frank hinter ihm her, mit einem leeren Gefühl im Magen.
Mühsam schleppte er den schweren Eimer ins Haus. Am Küchentisch saß Adolf mit einer geöffneten Schachtel.
Frank warf einen Blick auf den Deckel.
"SS-Schach! Das taktische Spiel für die ganze Familie!" Das Spiel hatte er sich schon lange gewünscht, aber es war nie Geld dafür übrig gewesen.
"Darf ich mitspielen?"
Adolfs Blick ging abschätzig über ihn hinweg, blieb an Franks erdigen Händen hängen. Ein hämisches Grinsen, wie mit Gummiband gezogen, legte sich über sein Gesicht.
"Du? Na, ganz sicher nicht. Das ist ein taktisches Spiel. Dazu muss man überlegen können. Bleib du mal bei den Kartoffeln." Es waren gar nicht so sehr die Worte, die eindrangen und wehtaten, es war der herablassende Tonfall.
Frank zog die Schultern hoch, drehte sich um und ging in den Hof. Auf einmal hasste er das ganze Leben. Warum hatte es ihn überhaupt hierher verschlagen müssen? Warum konnte er nicht in Frankfurt bleiben? Wann würde sein Vater endlich zurückkommen und alles wieder einrenken, was schief ging? Denn das würde er ganz sicher.
Missmutig kickte er ein paar Steine über den Hof. Lieber hätte er Fußball gespielt, oder Schach. Doch er besaß keinen Ball. Adolf hatte einen, einen echten Lederball. Damit durfte Frank ebenso wenig spielen, wie mit den anderen Sachen, die Adolf gehörten. Seine Mutter saß in der Barackenküche. Ihr gegenüber hockte Volodja auf einem Stuhl und beide lachten. Das konnte doch nicht sein! Wie konnte sie mit diesem Menschen an einem Tisch sitzen und auch noch lachen?
"Na, Frank? Kennst du Volodja schon? Er hat uns eine große Überraschung mitgebracht." Seine Mutter übersah den missbilligenden Ausdruck in seinem Gesicht.
"Frank! Da, da! Kennen uns!" Der Mann nickte lächelnd.
Die Worte klangen hart und fremd. Frank biss sich auf die Lippe. Eine Überraschung, was konnte das schon sein?
"Er hat bei einem Bauern gearbeitet und der hat ihm eine halbe Seite Speck mitgebracht. Heute Mittag gibt es Bratkartoffeln mit Speck, Zwiebeln sind auch noch da. Fast ein Festmahl, oder? Frank, nun sag doch was!" Doch ihm fehlten die Worte. Er ging in das winzige Zimmer, das auf einmal keine Zuflucht mehr war, sondern ein Gefängnis. Mit dem Bild seines Vaters in den Händen legte er sich auf das Bett. Heiße Tränen der Wut und Verzweifelung schossen in seine Augen.
Hier würde er liegen bleiben, so lange, bis der dumme Krieg vorbei war und sie nach Hause konnten.
Dann kam der Fliegeralarm. Feindverbände über Hagen. Das war nicht weit, schnell konnte sich ein Bomber hierher verirren.
Im Bunker hockte Adolf mit bleichem Gesicht in der Ecke und hielt die Schachtel mit dem Spiel umklammert. Frank mit seinen Erfahrungen richtiger Kämpfe fühlte sich das erste Mal wirklich überlegen.
Die Fremdarbeiter waren auch bei ihnen im Bunker. Volodja saß bei Franks Mutter. Beide redeten leise, während sie mit flinken Fingern etwas nähte.
"Ruhe jetzt!" Onkel Fritz stellte den Volksempfänger an.
Es knackte und rauschte, dann ertönte die zackige Stimme des Sprechers.
"Das Reichsgebiet ist feindfrei!"
Frank hob den Kopf. Das konnte doch nicht sein! Sie hatten Fliegeralarm, er hatte das Herannahen der Bomber doch gehört. Ein dumpfes Brummen, das die Luft erzittern ließ.
Die Reichsmeldungen konnten doch nicht falsch sein, oder?
"Mutti, wie kann das sein? Wir sind doch nicht feindfrei, warum sagen die das dann?"
"Ach Junge. Man kann nicht alles glauben, was die sagen. Eigentlich gar nichts mehr." Sie flüsterte ihm zu, wohl wissend, dass dies ketzerische Töne waren.
"Aber ... aber ...?"
"Psst. Mach dir keine Gedanken. Alles wird gut. Bestimmt." Volodja beugte sich zu ihm, zwinkerte und sagte verschwörerisch: "Und gleich wir gut essen, da? Speck! Macht stark!" Frank biss sich auf die Lippen. Das Reichsgebiet war feindfrei. Das waren die Worte, die Stimme, der Sender ... all die Dinge, die für seine Überzeugung standen. Für das und für den Vater.
Seine Mutter hatte sie gerade mit einem bitteren Lächeln weggefegt. Seinen Glauben an die Welt damit erschüttert. Unsicher suchte Frank den Blick des Onkels, der kein echter Verwandter war. Onkel Fritz wich seinem fragenden Blick aus. Das war Frank nicht neu, der Mann sah einen selten direkt an, aus Angst man könne ihn um etwas bitten, was wohlmöglich in seiner Macht stand.
Doch diesmal wollte Frank keine milde Gabe, sondern die Bestätigung, dass seine Überzeugungen immer noch richtig waren. Dass das Reichsgebiet wirklich feindfrei war und dort niemand ihn anlog.
Doch Onkel Fritz erwiderte den Blick nicht und verweigerte ihm damit die Lossprechung.
Später saßen sie gemeinsam am Tisch. Frank zögerte erst noch. Konnte er das? Durfte er das? Mit dem Feind an einem Tisch sitzen?
Im Hof hörte er Adolf seinen Lederball gegen die Barackenwände kicken. Sein Cousin erschien ihm auf einmal der viel größere Feind.
Na gut, er würde einen kleinen internen Frieden schließen mit Volodja und Adolf den Krieg erklären.
Sie aßen schweigend und genussvoll. Kauten langsam, kosteten den wunderbaren Geschmack ausgelassenen Specks. Jedes Mal wenn der Ball die Wand traf, zuckte Frank vor Wut und Neid zusammen.
Seine Mutter bemerkte das.
"Ach, der Adolf. Er ist ein Kind dieser Familie. Luise und Fritz Kosterz. Adolf Kosterz. Vorne K hinten Z, das passt doch!" Sie murmelte nur, aber Volodja hatte die Worte gehört und lachte los. Es brach aus ihm heraus, als wäre es gegen seinen Willen, stark und plötzlich.
Nach dem Essen zog seine Mutter ihre Nähkiste hervor.
"Ich habe etwas für dich, Frank." Sie sprach zögerlich, so als wenn es ihr irgendwie peinlich wäre. "Er ist nicht so toll wie Adolfs, aber immerhin ist es ein Ball!" In ihren Händen war ein Stoffball, den sie aus Resten genäht und fest ausgestopft hatte.
"Komm!" Volodja stand auf und nickte ihm zu. "Lass uns Fußball spielen. Du und ich! Ohne Adolf!" Frank wurde vor Verlegenheit ganz rot, aber er nahm den Ball und hielt ihn, als wäre es ein kostbarer Schatz.
Ja, dachte er froh, unser Reichsgebiet ist diese Baracke und sie ist feindfrei! Sein Blickwinkel hatte sich verändert. Von nun an war nichts mehr wie zuvor.
Eingereicht am 13. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.