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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der große Traum des kleinen Gänseblümchens
© Wolfram Martin
Es war vor ein paar Jahren - ich war so dreizehn oder vierzehn - da half ich meinem Onkel - ein alter Mann, so vierzig oder fünfzig - beim Rasenmähen (also ich half eigentlich nicht richtig, vielmehr schaute ich ihm beim Mähen zu) und bemerkte, dass er um jedes Büschel Gänseblümchen einen sauberen Bogen fuhr. Sie also nicht abmähte. Auf meine Frage, auf die ich eigentlich eine biologisch fundierte Antwort erhoffte, warum er dies denn tue, antwortete er ein wenig nachdenklich und glücklich in sich hineinlächelnd,
dass er mir dies ein anderes mal erzählen werde, später, wenn ich einmal etwas älter wäre ...
Heute schaue ich ihm wieder zu und abermals mäht er ganz akkurat und wie selbstverständlich um die Gänseblümchen herum. Als er fertig ist und wir ein wenig abgespannt unter dem Kastanienbaum sitzen, frage ich ihn erneut. Und nach einer kleinen Weile des Nachdenkens, Grübelns, des abermaligen In-sich-hinein-Lächelns - was ich an ihm so liebe - beginnt er. "Also, meine Liebe, das war so. Es war einmal ein junges hübsches Mädchen - so wie du - und ein junger netter Mann, heute würde man sie ein sympathisches
Liebespaar nennen, die bummelten Arm in Arm und eng umschlungen durch die Wiesen. Auf einer bunt blühenden Almwiese taten sie sich nieder und machten das, was alle Liebespaare machen, sie liebten sich. Heiß und inniglich und mit der vollen, unschuldig-wilden Leidenschaft der Jugend. Als sie schwer atmend voneinander ließen und sich nebeneinander auf den Rücken legten, sie den Wolken nachschauten und beide von einer gemeinsamen Zukunft träumten, da bat sie ihn zärtlich, doch etwas Liebes zu sagen oder zu erzählen.
Er rollte sich auf den Bauch, sie auch, und dann sagte er: ‚Warum ich, warum soll ich dir etwas erzählen? Schau dieses kleine Gänseblümchen an, schau genau hin, beug' dich ganz tief und nah zu ihm und sei ganz still, dann kannst du hören, was das Gänseblümchen zu erzählen weiß ...' Und sie beugten sich ganz nah und ganz eng, ihrer beiden Körper berührend, zu dem kleinen Blümchen hinab und waren still. Und tatsächlich, nach einer kleinen Weile begann das Gänseblümchen ganz leise wispernd zu sprechen:
‚Ich bin ein armes, kleines, unscheinbares Blümchen, Bellis perennis genannt, allein, so sollte man meinen, auf einer großen Wiese. Doch wenn man genau hinsieht, sind wir eine richtig große Familie. Und wenn wir uns unterhalten, sagen wir nie Ich oder Du, sondern immer nur Wir, denn wir lieben die Gesellschaft und sind nie allein. So unscheinbar wir auch aussehen, so sind wir doch vital und voller Lebensenergie. Ohne unsere Lebensenergie wären wir schon längst ausgestorben. Kühe, Rinder und Pferde trampeln auf
uns herum. Das Weidevieh, sowie fast alle Wildtiere, also Rehe, Hirsche, Muffel, Hasen und Kaninchen äsen unsere Blütenköpfchen ab, dies schmerzt, doch wachsen sie wieder nach. Wenn wir unsere Blattrosetten nicht so eng an den Boden schmiegen könnten, würden sie auch noch gefressen. Manchmal laufen auch Menschen achtlos über uns hinweg und Kinder - und Liebende - pflücken Blütenstängel samt Kopf, um aus uns Kränze zu flechten. Ganz gefährlich sind Wildschweine, die uns nächtens, wenn wir mit geschlossenen Zungenblüten
schlafen, ausgraben, um dann am nächsten Morgen, sofern es nicht regnet, zu vertrocknen.
Dies ist nun mal die Natur, damit haben wir zu leben gelernt, doch ganz, ganz furchtbar ist das zwei-, drei-, ja mancherorts viermalige Mähen im Jahr mit dem Kreiselmäher. Dann schlagen die Rotoren alles bis auf die Wurzeln ab und auf allen Wiesen ist ein großes Wehklagen - das aber keiner hört. Kreiselmäher sind schlimmer als Frost, Schnee, Hochwasser oder Dünger. Den Überlebenden des Kreiselmähermassakers, kaum dass sie sich von den Wunden erholt haben, steht eine neuerliche Tortur bevor, die fast noch schlimmer
ist, weil sie immer Verletzte oder Verwundete, zumindest aber Geschädigte trifft: Die Gülle! Brrr!
Entsetzlich! Der Gestank, der einem die Luft zum Atmen nimmt, das Brennen, das Ätzen, einfach schlimm! Kommt dann Trockenheit und Gülle zusammen, sterben die restlichen Überlebenden an Verbrennungen.
Aber es gibt auch schöne Seiten, zumal, wenn man auf Wiesen wohnt, die nicht oder selten gemäht oder gegüllt werden. Dann freut man sich und ist erregt, wenn Fliegen oder Bienen über die gelben Röhrenblüten wuseln und an den Zipfeln der Kronröhren zutzeln. Das höchste an Genuss und Befriedigung, wenn Hummelzeit ist.
Hummeln sind die wahren Lustritter der kleinen Blümchen. Herrlich ...
Aber auch Regenwürmer und Schnecken sind angenehm, wenn sie sich schleimig-glitschig unter die Rosetten schieben und dort den Tag oder die Nacht verbringen. So schön und angenehm das Leben in der Wiese mit Hummeln und Regenwürmer auch ist, der ganz, ganz große Traum, der Lebenstraum eines jeden Flachwiesen-Gänseblümchens ist, einmal an einem Hang zu leben, das Morgenerwachen zu erleben, etwas von der Welt zu sehen, weit in das Leben zu blicken - ach, das wäre schön, das wäre zu schön...'
Damit endete das Gänseblümchen, drehte sein Köpfchen in die untergehende Sonne und schloss mit einem leisen Seufzer ihre Zungenblüten zu einem hübschen, weiß-rosafarbenen Gute-Nacht-Käppchen. Die beiden küssten sich noch einmal lang, lieb und inniglich, zogen sich an und wanderten Hand in Hand nach Hause. Am nächsten Morgen ging der junge Mann mit einem Spaten zu genau der Stelle, an der sie sich geliebt und wo sie die Rede des Gänseblümchens vernommen hatten, grub großflächig und tief den gesamten Wurzelstock
des kleinen Blümchens aus und pflanzte ihn zu Hause in seinen Garten, denn dies war, genau wie hier, eine Hanglage."
"Und seitdem mähst du keine Gänseblümchen mehr ab?"
"Zumindest nicht im zeitigen Frühjahr und ich mähe auch nur einmal im Jahr ..."
"Warst du der junge Mann?"
"Hm ..."
"Und wer war die junge Frau?"
"Da musst du das Gänseblümchen fragen."
Eingereicht am 13. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.