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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Hansi
© Nicole Marquis
Jonas, mein Jüngster, hat sich verliebt. Seine Flamme heißt Jeanine, hat einen fehlenden Schneidezahn und blonde Rattenschwänze. Seit zwei Wochen sind die beiden unzertrennlich. Kurz vor drei Uhr klingeln wir zum ersten Mal an der Tür des Reihenhauses, wo Jeanine zu Hause ist.
Jonas an meiner Hand ist ganz zappelig vor lauter Vorfreude. Jeanine reißt die Tür auf, fällt ihrem Freund um den Hals und zieht ihn in die Wohnung. Gabriela, Jeanines Mutter, erscheint im Flur und bittet mich hinein. Jonas' entzückter Schrei "Mami, komm und schau, was Jeanine hat" lässt mich ins Wohnzimmer eintreten. Da steht auf einem Tisch unter dem großen Panoramafenster ein Vogelkäfig mit zwei Wellensittichen. Einer ist grün, der andere blau. Vögel in Käfigen zu halten finde ich verabscheuungswürdig,
ein Verbrechen gegen die Natur sozusagen. Aber der Anblick von gefangenen Wellensittichen ist für mich schlicht und einfach unerträglich. Trotzdem kann ich nicht anders und starre die Vögel wie hypnotisiert an. Augenblicklich falle ich in ein Zeitloch.
Es war der erste Sonntag im Monat, der Tag, an dem unsere gesamte Familie bei Oma, der Mutter meines Vaters, zum Mittagessen eingeladen war. Warum wir immer wieder dort hin mussten, war mir nicht so ganz klar, denn Oma beklagte sich jedes Mal, wie viel Arbeit und Umstände ihr diese Besuche doch machten, und meckerte dann den ganzen Nachmittag an allem und jedem herum. Mein Bruder und ich protestierten immer in seltener Einigkeit, wenn dieser Besuch wieder anstand, doch mein Vater mahnte uns zu Geduld und Nachsicht.
Er erklärte uns, seit Opa gestorben sei, sei seine Mutter eben einsam. Außer ihren Wellensittichen sähe sie kaum jemanden mehr und deshalb hätte sie verlernt, wie man mit Menschen normalerweise umginge. Trotz diesen pädagogischen Worten, die wohl nicht nur uns, sondern auch meinen Vater nicht restlos überzeugten, waren die Besuche bei meiner Großmutter immer ein Ärgernis, ein verpatzter Sonntag eben. Und ganz besonders schlimm war es, wenn sie, extra wegen uns, wie sie nie müde wurde zu betonen, sich die große
Mühe mit Kochen gemacht hatte und Pastetchen mit Pilzrahmsauce auftischte. Ich hasste dieses Gericht!
Als Einzige saß ich noch an dem großen Esstisch, vor mir ein noch beinahe voller Teller mit einem Berg von ekligem Pastetenmatsch. Die Brätkügelchen und den knusprigen Deckel hatte ich schon längst gegessen, als sich das verkniffene Gesicht meiner Großmutter zu mir herüber beugte. Das dicke, schwarze Barthaar, welches ihr schrumpeliges Kinn zierte, hatte unheilvoll gezittert, als sie mir mit schneidender Stimme unmissverständlich klar machte, dass ich den Tisch erst dann verlassen dürfe, wenn ich restlos aufgegessen
hätte. "Und wenn in einer halben Stunde dein Teller noch nicht leer ist, gibt es keinen Nachtisch für dich, hast du das verstanden, mein Fräulein?" fauchte sie. Dann verließ sie, bösartiges Gemurmel über die Essgewohnheiten heutiger Kinder aus ihren Mundwinkeln hervorstoßend, das Esszimmer mit stampfenden Schritten. Ich schickte einen flehenden Blick zu meiner Mutter, doch diese schaute nur betreten weg. Erstaunt und ein wenig verwirrt stellte ich fest, dass sie offenbar mindestens ebenso viel Angst
vor der alten Hexe hatte wie ich. Jedenfalls setzte sie sich nicht für mich ein, sondern flüsterte, ohne mich richtig anzusehen: "Du tust jetzt, was die Oma sagt". Dann stand auch sie auf und verschwand mit den restlichen Tellern in Richtung Küche, um dort ihrer Schwiegermutter beim Abwaschen zu helfen.
Ich stocherte weiter in meinem Essen herum und überlegte gerade, ob eine Kugel Vanilleeis mit Karamellsauce es überhaupt wert waren, die Pampe auf dem Teller hinunterzuwürgen, als mein großer Bruder feixend im Türrahmen erschien. Ich streckte ihm schnell die Zunge heraus und versuchte dann, ihn nicht weiter zu beachten. Das unmittelbare Erscheinen großer Brüder bedeutete selten etwas Gutes, jedenfalls meiner bescheidenen siebenjährigen Erfahrung nach. Wenn Daniel so aus dem Nichts auftauchte, hieß das wahrscheinlich,
dass er sich langweilte und mich benutzen wollte, um etwas Aufregung in die endlosen, öden Nachmittagsstunden zu zaubern. Solche Aktionen gingen beinahe immer auf meine Kosten. "Ich helf dir, deine Pastete aufzuessen, wenn du dich traust, einen der Wellensittiche aus dem Käfig herauszuholen und auf deinem Arm spazieren zu lassen", sagte er in einem drohenden Befehlston, der mir nicht viel Handlungsspielraum ließ. Ich wusste, ich würde am Ende mit einem Vogel auf der Hand dastehen, und wenn ich nicht
höllisch aufpasste, würde Daniel sich vor seinem Teil der Abmachung drücken. Dem Vogelbauer näher als auf einen Meter heranzukommen, hatte uns unsere Großmutter strengstens untersagt. Ihre gefiederten Lieblinge waren ihr heilig. Da verhießen so tollpatschige und rücksichtslose Kinder, wie wir es in ihren Augen nun einmal waren, in der Nähe ihrer Wellensittiche höchste Gefahr. Bis jetzt hatte ich mich immer an ihr Verbot gehalten, die Vögel hatten mich noch nie weiter interessiert und die angedrohten Strafen verursachten
mir Albträume. Trotzdem konnte ich kaum glauben, dass ich meine Pastete nach zähen, fünfminütigen Verhandlungen mit meinem Bruder so leicht losgeworden war. Der Vielfraß würde meinen Teller leer essen, aber erst, nachdem ich einen Vogel aus dem Käfig geholt hatte. Auch mit schärfstem Nachdenken konnte ich keinen Haken an dieser Abmachung finden. Dass diesmal nicht mein Bruder, sondern das schöne Wetter mein Verderben sein würde, ahnte ich in diesem Moment natürlich noch nicht.
Es war ein warmer Maitag, das Fenster des Esszimmers stand weit offen.
Trotz der frischen Luft, die hereinströmte, roch es in der Nähe des Vogelkäfigs irgendwie seltsam. Der schleimige, weiße Vogelkot, der das schmuddelige Zeitungspapier am Boden des Käfigs sprenkelte, verströmte einen dumpf fauligen Geruch, der sich mit dem leicht süßlichen Duft des neuen Plastiktuches, das unter dem Käfig lag, auf ekelhafte Weise vermischte. Rund um den Vogelkäfig verstreut lagen unzählige Schalen von abgenagten Körnern. Sogar bis auf den Boden waren sie gespickt, ich hörte sie bei jedem Schritt
unter meinen Fußsohlen leise knacken. Das Türchen klemmte, ich zog und zerrte, der Käfig wackelte, das kleine Glöckchen, das unten an dem bunten Vogelring angebracht war, bimmelte unheilvoll und in meinen Ohren viel zu schrill und laut. Wenn nur meine Großmutter nichts gehört hatte! Doch es näherten sich keine stampfenden Schritte dem Esszimmer, und schließlich hatte ich den Vogelkäfig geöffnet und streckte meine Hand hinein. Hansi, der blaue Vogel, hüpfte neugierig darauf und ließ sich problemlos aus dem Käfig
holen. Ich stand mit dem munter auf meinem Arm auf und ab hüpfenden Hansi da und drehte mich triumphierend zu meinem Bruder um. Doch mein Hochgefühl hielt nicht lange an. Dummerweise stand ich genau unter dem weit geöffneten Fenster. Laue Luft strömte herein, die Sonne schien verlockend, fröhliches Vogelgezwitscher drang ins Zimmer. Kurzum:
Draußen schien das pure Glück zu herrschen. Das spürte wohl auch Hansi und er folgte dem Ruf nach Freiheit und Abenteuer unverzüglich. Kurz legte er noch den Kopf, ganz nach Wellensittichmanier, leicht schräg, zwitscherte munter und war im Nu aus dem Fenster geflogen. Ich erstarrte. Auch mein Bruder blieb einen Moment regungslos sitzen. Der Löffel, gut gefüllt mit kalter Pastetenpampe, war kurz vor seinem Mund abrupt zum Stehen gekommen. Doch er hatte sich schneller wieder gefasst als ich. Der Löffel fiel mit
lautem Geklirr zurück auf den Tisch neben den immer noch vollen Teller und hinterließ einen hässlichen braunen Fleck auf dem weißen Tischtuch. Daniel verschwand blitzartig in Richtung Küche. "Monika hat den Hansi freigelassen", schrie er aus vollem Hals. Sekunden später stand meine Großmutter hinter mir, riss mich am Kragen vom Vogelbauer weg, schloss mit einem Knall die Käfigtür und versetzte mir eine schallende Ohrfeige. "Du böses Kind, was hast du nur getan!" schrie sie. Auf mein verzweifeltes,
"aber Daniel hat gesagt, ich soll.." folgte eine weitere Ohrfeige und der Kommentar, ich solle meine Schandtaten nicht auf meinen Bruder schieben. Den Tritt ans Schienbein, den Daniel mir versetzte, weil ich ihn verpetzen wollte, spürte ich schon fast nicht mehr. Das Geschrei meiner Großmutter hatte auch den Rest der Familie auf den Plan gerufen. Mit knallrotem Kopf und ohne ein Wort zu sagen, zerrte mich meine Mutter am Ohr in die Abstellkammer hinter der Küche. Dort sperrte sie mich ein und machte
sich mit den anderen auf die vergebliche Suche nach Hansi. Obwohl ich mir einzureden versuchte, dass es Hansi draußen in der Freiheit bestimmt besser ginge als eingesperrt in diesem engen Käfig, fühlte ich mich elend. Auch wenn ich meine Großmutter nicht besonders mochte, hatte ich doch nicht gewollt, dass der Vogel wegflog. Tränen stiegen mir in die Augen und ich heulte los. Sturzbäche flossen meine Wangen hinunter und ich hatte nicht einmal ein Taschentuch dabei, um mir den Rotz abzuwischen, der mir aus der
Nase lief. Na ja, der Ärmel tat es schlussendlich auch. Nach einer Ewigkeit spürte ich, dass meine Tränen langsam versiegten, ich hatte mich ausgeweint. Doch ich fühlte mich nicht unbedingt besser, denn ich hatte ein neues Problem. Beim Mittagessen hatte ich drei große Gläser Limonade getrunken, in der Hoffnung, den Pastetenmatsch damit etwas leichter die Kehle hinunter zu kriegen. Das hatte zwar nicht geklappt, aber dafür musste ich jetzt dringend aufs Klo. Zuerst presste ich die Beine zusammen und versuchte
mich in Geduld zu fassen. Bestimmt kommt gleich jemand und lässt dich hier raus, sagte ich mir. Doch nichts passierte und meine Blase schmerzte immer stärker. Ich pochte gegen die Tür. Erst leise, dann immer lauter. Ich schrie, forderte, befahl und bettelte schlussendlich, dass mich jemand rauslassen sollte. Doch niemand hörte mich in meiner Not. Wahrscheinlich waren immer noch alle draußen, um diesen blöden Vogel zu suchen. Meine Blase schmerzte mittlerweile unerträglich, der Druck war kaum auszuhalten. Und
schon wieder fing ich an zu heulen.
Diese erneuten Tränen waren offenbar auch ein Signal für meine Blase.
Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und es lief oben und unten aus mir heraus. Ich heulte und pinkelte und konnte mit beidem beinahe nicht mehr aufhören. Der Urin machte meine kurze Hose nass, floss mir an den Innenseiten der Beine hinunter, durch die Socken hindurch in die offenen Sandalen und von da auf den Steinboden, wo sich sofort eine Pfütze bildete. Die Pfütze wurde immer größer und noch immer floss es warm an meinen Beinen hinunter. Kurz hatte ich die schon fast angenehme Vision, ich würde in meiner
eigenen Pisse ertrinken und müsste so die Schande nicht miterleben, dass alle mich auslachten, weil ich mir in die Hose gemacht hatte. Doch dann war meine Blase leer und ich stand breitbeinig im Nassen, unfähig mich zu rühren. Erst war es noch ganz angenehm warm zwischen meinen Beinen. Doch die Wärme verwandelte sich viel zu schnell in klebrige, leicht säuerlich riechende Kälte. So stand ich immer noch da, als ich Jahre später, wie mir schien, endlich den Schlüssel im Schloss hörte. Schon wieder schossen mir
Tränen in die Augen, diesmal Tränen der Erleichterung. Doch die Erleichterung verwandelte sich ganz schnell in Entsetzen, als ich sah, dass mein Bruder in der Türöffnung stand. Sogar meine Großmutter wäre mir in diesem Augenblick lieber gewesen. Doch Daniel schaute mich kaum an. Wahrscheinlich hatte auch er unterdessen sein Fett abgekriegt, mein Vater hatte nämlich einen Hang zum Kollektivstrafen und deswegen bemerkte er auch meine nasse Hose nicht. "Du sollst raus kommen, wir fahren nach Hause", sagte
er knapp, wandte sich ab und marschierte zur Haustüre. Meine Großmutter bekam ich an diesem Tag nicht mehr zu Gesicht, was mir nur recht war. Meine Mutter scheuchte mich leise durch den langen Gang und wir warteten draußen auf meinen Vater, der einen letzten Versuch unternahm, meine Oma über den Verlust ihres Wellensittichs hinwegzutrösten.
Im Auto, kaum waren wir losgefahren, fing Daniel plötzlich an, übertrieben laut herumzuschnüffeln. "Hier miefts, igitt, das stinkt ja nach Pisse." Er drehte schnüffelnd den Kopf in meine Richtung und ließ seinen fiesen Bruderblick langsam über meinen Körper gleiten. Er entdeckte den feuchten Fleck auf meiner Hose und rief in einem an- und abschwellenden Singsang immer wieder: "Monika stinkt, sie hat sich in die Hose gemacht, Monika stinkt, sie hat sich in die Hose gemacht!" Das war zu viel
der Demütigung für mich. Ohne zu überlegen holte ich aus und knallte meinem Bruder meine geballte Faust auf die Nase. So etwas hatte ich noch nie gewagt und ich wusste, dass ich das würde büßen müssen.
Man schlägt nicht ungestraft große Brüder ins Gesicht. Im ersten Augenblick allerdings war Daniel viel zu überrascht, um überhaupt reagieren zu können. Doch schon wenige Sekunden später kam die Retourkutsche. Mein Bruder warf sich quer über die Rückbank auf mich und schlug mit voller Kraft auf mich ein. Ich kreischte, schrie und versuchte verzweifelt, mich zu wehren. Mein körperliches Martyrium war glücklicherweise nur von kurzer Dauer. Mein Vater trat so abrupt auf die Bremse, dass Daniel und ich gegen die Vordersitze
des Autos geschleudert wurden. "Jetzt ist aber endgültig Schluss! Mir reicht es mit euch beiden! Wenn wir nach Hause kommen, geht ihr sofort ins Bett, ich will heute nichts mehr von euch sehen oder hören. Und sollte einer von euch es wagen, während der Heimfahrt nochmals laut zu werden oder sich zu prügeln, dann kann er gleich aussteigen und zu Fuß gehen!" Das wirkte.
Daniel und ich saßen für den Rest der Fahrt stumm und ohne uns anzusehen im Fond des Wagens und der Tag endete für uns beide damit, dass wir tatsächlich um sechs Uhr ohne Nachtessen ins Bett geschickt wurden.
Langsam komme ich wieder zu mir. Ich schüttle den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können, um den Geschmack der Pastetenpampe in meinem Mund und den Urinduft aus meiner Nase zu kriegen. Dann erkläre ich der verdutzten Gabriela, dass ich sofort gehen müsse, und dass ich Jonas so gegen sechs Uhr wieder abholen würde. "Nichts wie weg hier", denke ich und haste überstürzt hinaus. Dieser Sonntag im Mai liegt nun schon mehr als 25 Jahre zurück, und trotzdem verursachen mir Wellensittiche in
Käfigen immer noch akute Angstzustände und Alptraumhalluzinationen.
Bis heute hatte ich es in meinem Erwachsenenleben eigentlich immer geschafft, Leuten mit Wellensittichen erfolgreich auszuweichen. Durch diskretes Nachfragen kann man beim Kennenlernen von potentiellen Bekannten nämlich leicht herausfinden, ob sich jemand Vögel hält. Leute mit Wellensittichen wurden dann ganz automatisch von der Liste der möglichen Freunde gestrichen, egal wie sympathisch sie mir sonst erschienen waren. Doch offenbar war ich in letzter Zeit etwas unvorsichtig geworden. Immer noch leicht zitternd
nestle ich mein Handy aus der Handtasche und rufe meinen Mann im Büro an. Mit so resoluter Stimme, wie ich sie aufbringen kann, teile ich ihm mit, dass er heute Abend etwas früher Schluss machen muss, um so gegen sechs Uhr Jonas auf dem Nachhauseweg im Nachbardorf abzuholen. "Das geht heute nicht", gibt er mir verärgert zur Antwort, "wir haben um fünf noch eine wichtige Sitzung, die ich unmöglich sausen lassen kann." "Doch, du kannst", antworte ich " Jonas' neue Freundin hat
Wellensittiche." Ich unterbreche die Verbindung, schalte mein Handy aus und atme tief durch. Dann beschließe ich spontan eine Tüte Vogelfutter zu kaufen, um damit all die frei lebenden Vögel in unserem Garten noch glücklicher zu machen, als sie es ohnehin schon sind.
Eingereicht am 13. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.