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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Kattes Kopf

© Walter Landin


Der Friederich war kein Wüterich. Ein zurückhaltender, sensibler, etwas schwächlicher Junge. Als Friedrich zwölf Jahre alt war, konnte jeder sehen, dass er mit seinem Vater auf denkbar schlechtestem Fuß stand. (Vater-Sohn-Konflikt, die alte Leier, wir kennen das.) Die werden nichts, die nichts taugen. Handschuhe im Winter sind was für Memmen, bläut der Gürtel Friedrich ein. Hoppe, hoppe Reiter, wehe er schreit, wenn er fällt.
Um den Misshandlungen und Demütigungen des Vaters zu entgehen, will der Achtzehnjährige mit den Freunden Keith und Katte außer Landes fliehen. (Außer Landes hört sich leicht angestaubt an in einer Zeit, in der die Erde zu einem Tennisball zusammengeschrumpft ist.) Die Flucht misslingt, der Vater schäumt vor Wut. Hochverrat. (In was für einer Geschichte befinden wir uns überhaupt?) Das Kriegsgericht besteht aus fünfzehn Generalen und Offizieren und weigert sich, Friedrich zu bestrafen. Leutnant Katte und Leutnant Keith werden zu lebenslanger Haft verurteilt. Friedrich Wilhelm der Erste, König von Preußen und Friedrichs Vater, missachtet das Urteil. Alle drei sollen sterben. Auch sein Sohn, der Kronprinz Friedrich, der als Friedrich der Große in die Geschichte eingehen wird. Keith flieht aus der Haft und setzt sich nach England ab. Katte und Friedrich werden in Küstrin eingekerkert. Vor den Augen des Kronprinzen wird Katte hingerichtet. Ein einschneidendes Erlebnis. (In der Tat!) Jedes Kind kennt die Geschichte. (Das ist nur so dahingesagt.)
"Ich bitte Sie um Vergebung, mein lieber Katte."
Friedrich umklammert die Gitterstäbe. Als Katte vor dem Fenster des Kronprinzen vorbeigeführt wird, wirft Friedrich ihm Kusshände zu.
"Der Tod ist süß für einen so liebenswerten Prinzen."
Die Hände lösen sich von den Gitterstäben. Friedrich sinkt ohnmächtig zu Boden. (Pathos, gewiss, aber wir dürfen nicht vergessen: Es ist der sechste November 1730.)
Genau hier stand der Richtblock. Direkt unter dem Fenster des inhaftierten Kronprinzen wurde Katte geköpft. Während der Scharfrichter das Schwert hebt, steht Friedrich bleich hinter dem Fenster. (Eigentlich müsste er zu diesem Zeitpunkt bewusstlos sein.) Alle Deutschen, die nach Küstrin kommen, wollen diesen Platz sehen. Hier wächst kein Gras mehr.
Einspruch! Friedrichs Gefängniszelle lag nicht im Eckturm. Kattes Kopf fiel nicht bei der Hagebutte dort. Friedrich konnte die Hinrichtung gar nicht verfolgen. Sein Zimmer befand sich in der linken Ecke der Wasserfront im Hochparterre. Und Katte wurde bei den drei Birken da drüben enthauptet. Es gab überhaupt keinen Richtblock. Katte kniete vor einem Sandhaufen und hielt den Kopf frei vorgestreckt. Er zitterte kein bisschen. Als der Scharfrichter zuschlug, flog Kattes Kopf in hohem Bogen durch die Luft, fünf Meter weit. Der Schlosskommandant wollte dem Kronprinzen den Anblick der Hinrichtung ersparen. Dem König wurde gemeldet, es sei alles nach seinen Anweisungen geschehen.
Ein Dutzend Versionen sind in Umlauf. Legionen von Historikern haben Winkel und Entfernungen zwischen mutmaßlichen Kerkerfenstern und angeblichen Richtplätzen vermessen. Zentimeter und Winkelgrade entscheiden über die Wertung des Geschehens. Je näher, desto grausamer der König, desto verzweifelter Friedrich. Treuer Katte. Das steht außer Zweifel. Natürlich ist jede Version die einzig richtige.
Was spielt es für eine Rolle, eine Hinrichtung aus zehn, zwanzig oder fünfzig Metern zu verfolgen? Was spielt es für eine Rolle, ob der Kopf auf einem Richtblock liegt oder frei vorgestreckt wird? Bei der Hagebutte oder unter den drei Birken, Sandhaufen oder Richtblock, Erdgeschoss oder Hochparterre, was spielt es für eine Rolle. (Rolle für wen? Für den, der einen Kopf kürzer gemacht wird?) Was spielt es für eine Rolle, den Kopf zu Boden fallen oder durch die Luft fliegen zu sehen? Was spielt es für eine Rolle, dem fliegenden Kopf in die Augen zu schauen oder dem Treiben der Enten im Wassergraben zuzusehen, zu wissen, jetzt, gerade in diesem Augenblick passiert es. Auf jeden Fall: ein einschneidendes Erlebnis.
Apropos Vater-Sohn-Konflikt. Der war mit einem Schlag beendet. Nehme ich mal an. Aber das ist auch nur eine Version. Natürlich ist sie die einzig richtige.



Eingereicht am 13. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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