Die Bombenlöcher muss sie noch gesehen haben, dort am Mittellandkanal, nicht weit von der Brücke. Aber sie weiß nichts davon, sie erinnert sich nur an Bauern, die bei flimmernder Hitze die Felder mähten.

Von Vergewaltigungen hat sie geträumt, oft, aber passiert sind keine in ihrer Umgebung, es müssen andere Leben gewesen sein, doch noch immer raunen die Motoren der schwarz geteerten Schiffe, die mal hoch mal niedrig über den Kanal schepperten und in tief liegender Lage leicht zu erklettern waren.

Deutlich sieht sie den angeschwemmten Koks am Ufer und die anderen halbnackten Kinder, die ihn in Körbe sammelten und heim trugen. Die Waffen und Geschosse, die die Größeren heimlich neben der Brücke aus dem Kanal tauchten, erscheinen nur noch Grau in Grau, erst recht der halbe Finger des Nachbarjungen, der so lange auf die Geschosse klopfte, bis der Finger fort war.

Der Weg über die Steine ins Wasser verletzte die Kinderfüße, das weiß sie, doch das Spüren ist abhanden gekommen. Sie hört das pfeifende Switsch, Switsch, wenn die glatten unter den Steinen übers Wasser sprangen und immer kleiner werdende Kreise bildeten.

Fern sind die Sirenen und Worte, die die Luft durchschnitten. Nur ein paar Sätze der Eltern, die nie viel sprachen, sind noch da.

Am Himmel muss sich viel getan haben in dieser Zeit, doch sie weiß es nicht, stattdessen brummen Maikäfer in ihrem Kopf. Mal ist es ein Kaiser, mal ein Müller, der schmerzt, und mal gräbt sie einen fetten Engerling aus der Erde.

Niemand wollte in das Kellerloch, in das es auf ausgelegten Steinen durchs eingesickerte Wasser zum Koks und zu den Ratten ging, schon gar nicht die Kinder, aber was blieb ihnen übrig? Die kleinen, gestoppelten Kartoffeln in der Kohlsuppe schwimmen ungetrübt in ihren Augen, auch der Vater, der jeden Morgen im Dunkeln davon radelte - bis heute sagt er kein Wort.

Die Soldaten sind fort, lange schon, übrig geblieben ist das Bild eines Onkels, das ein Leben lang im Schlafzimmer der Tante hing. Er trug eine Uniform und die Tante zwei Eheringe, die sie mit ins Grab nahm.

Sie weiß, dass sie wach wurde vom Poltern und den Donner-Stimmen, aber sie verstand nichts, gar nichts. Bis heute ist es so. Gab es ein letztes Wort? Nur das hektische Summen der Bienen und Grillen. Wie viele Namen und Leben sie verloren hat, ist ihr entfallen.

Der Schulweg liegt schon unter viel Grau, doch den Geruch von Dung und Kühen auf den Feldern nimmt sie noch wahr. Auf dem Heimweg sieht sie ein Mädchen Löwenzahn sammeln, für die Kaninchen zu Haus, doch in Wirklichkeit kennt sie das Mädchen nicht, das ihr ähnlich sieht. Auch die Lehrerinnen in plissierten Röcken, die ihre Gesichter nicht zeigten, kann sie erkennen, dazu den aufgetürmten Schnee im Winter, verharscht und unbarmherzig - und rundherum diese erschlagende Mattigkeit der Gedanken.

Die Gesichter verändern sich im Laufe der Zeit, am Abend, nach der Arbeit hängen sie tiefer als sonst. Eine Gefahr, die nie vergeht, aber zu beweisen vermag sie das nicht.