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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Entscheidung in Afrika

© Maria Fangerau


Als ich noch eine sehr junge Frau war, voller Illusionen und Idealismus, ohne Angst vor der Realität und mit Mut zur Veränderung, machte ich meine erste Reise nach Afrika. Ich hatte gerade mein Abitur mit nur mittelmäßigen Noten bestanden - denn es gab ja soviel wichtigeres auf der Welt. Von irgendwoher hatte mich eine innere Lähmung ergriffen, als ich mein Leben mit all seinen Möglichkeiten vor mir liegen sah. Ich konnte mich nicht entscheiden, was daraus zu machen sei. Wozu konnten all die zukünftigen Lebensjahre dienen, was wollte ich erleben, welcher Mensch wollte ich sein?
Ich beschloss, auf Reisen zu gehen.
Kaum in meinem Hotel in Nairobi angekommen, lernte ich Angelika kennen. Sie war zwanzig Jahre älter als ich und Krankenschwester. Wir trafen uns zweimal beim Frühstück, danach nahm sie mich mit. Sie war nur einige Tage zum Einkaufen in der Hauptstadt gewesen, wir kehrten gemeinsam in ihr kleines Dorf im Massaigebiet zurück, wo der heiße Wind den Staub in Kreisen über die Straße blies und das Wasser rostig aus dem Hahn vor ihrem Haus lief.
Dort lebte sie mit Ngoy, ihrem Koch, Mechaniker, Dolmetscher, Mädchen für alles, vielleicht auch Geliebter, wer weiß.
Wir benötigten zwei Tage, um alles für die Überlandtour mit ihrem leicht verrosteten weißen Toyota-Jeep, auf dessen Türen ein ausgeblichenes rotes Kreuz prangte, vorzubereiten. Angelika musste einige entlegene Dörfer besuchen. Es war Regenzeit. Am nächsten Morgen sollte es losgehen.
Das Prasseln hatte irgendwann in der Nacht aufgehört. Der tropische Sturm, der über das flache Haus hinweggefegt war, hatte sich gelegt und eine Spur hühnereigroßer, grüner Früchte am Fuße des alten Mangobaums hinterlassen.
Die noch hängenden Exemplare würden erst im November mit orangegelber Schale herabfallen und ihren aromatischen Duft verbreiten. Als ich das Fenster öffnete, schob sich die Luft schwer herein. Sie ließ sich nur widerstrebend einatmen, angereichert mit den Dünsten von Nässe, Fäulnis und Fruchtbarkeit.
Die rote Erde dampfte wie ein Saunaofen nach dem Aufguss und verströmte den Geruch eines frisch aufgeworfenen Grabes. Einige Vögel hatten mutig mit ihrem Morgengesang begonnen, obgleich die Sonne sich noch hinter einem Schleier feuchten Nebels versteckte. Zu dieser frühen Stunde war es bereits sehr warm.
Dieses große Land, so reich an Bodenschätzen und so arm an Infrastruktur, durchquerten wir auf unbefestigten Lehmstrassen und machten Halt in einem abgelegen Ort namens Kiyuti. Am Ende der holperigen Straße, die von Rinnen und Kratern durchzogen war wie eine Mondlandschaft, erhob sich der Kegel des Kilimanjaro. Über seinem schneebedeckten Gipfel türmen sich bereits neue dunkle Regenwolken.
Wir bauten eine provisorische Versorgungsstation im Schatten einer kleinen, mit Schilf gedeckten Hütte, deren wackeliges Holzkreuz am Giebel an die seltenen Besuche katholischer Missionare erinnerte. Sobald der Motor verstummte, strömten die Dorfbewohner zusammen. Frauen in grellbunten, mit Rüschen verzierten Oberteilen und Wickelröcken aus demselben Stoff. Ihre Haare, zu komplizierten Gebilden geflochten, gedreht und zusammengesteckt, trugen sie mit majestätischen Blicken zur Schau. Eine Horde Kinder, im Alter zwischen vier und sechs Jahren, barfuß, mit roten, grünen oder blauen Fetzen am Leib, rannte herbei. Teilweise balancierten sie ihre jüngeren Geschwister auf keck gekippten Hüften, kaum dass sie selber laufen konnten.
Ein altes Weib, mit tief liegenden Augen und einer von Trockenheit grau gewordenen Haut, drängelte sich vor und grinste mit zahnlosem Mund, in dem ein einzelner, schief stehender Goldzahn von besseren Zeiten kündete.
Neuigkeiten aus der Stadt, Medikamente gegen ihre Leiden, Anteil haben am Leben einer fernen, fremden Welt, das wollten sie alle. Wir verteilten was wir hatten: Malariatabletten, Plastikschuhe, zaghaftes Lächeln. Ich lernte, den Schwangeren den Blutdruck zu messen, Angelika verband eine alte Verbrennung und säuberte verdreckte Wunden.
Da wurde ich plötzlich in eine abseits gelegene Hütte geführt. Begleitet von aufgeregten Gesten trat ich ein. Ich musste mich bücken, meine Hände berührten fast den Boden als ich mich in das Dunkel der Hütte vortastete.
Ich sah erstmal nichts. Meine Augen entwöhnten sich nur langsam vom grellen Sonnenlicht. Ich hörte Wimmern und Scharren und konnte die Umrisse im Halbdunkel nur erahnen. Dort hockte, zusammengekauert in der dunkelsten Ecke, eine Frau. Abgewandt, gesichtslos. Ein bärtiger Mann in fleckigem T-Shirt hielt mir ein Baby hin. Ein Neugeborenes mit klammer, kalter Haut von violett-blauer Farbe. Die Äuglein waren geschlossen, der Gesichtsausdruck entspannt. Als er es zu mir emporhob fielen die Ärmchen schlaff herab. Die Geburt war vor einer Stunde gewesen, teilte er mir in gebrochenem Englisch mit. Seitdem versuchte er, das Kind wieder zu beleben.
Er zeigte mir, wie er immer wieder die dünnen Arme auseinander gebreitet und vor der Brust gekreuzt hat. Auf und zu, auf und zu. Aber das Baby war tot.
Vielleicht schon tot geboren.
Bestürzt wich ich zurück. Ich traute mich nicht, das Kind zu berühren. Du bist doch eine Weiße, sprachen die Augen des Mannes. Die Frau im Hintergrund hatte aufgehört zu weinen, als hielte sie den Atem an, als warte sie auf das Wunder, den Schrei ihres Kindes. Aber ich konnte kein Wunder vollbringen.
Und dafür schämte ich mich. Wie komme ich hier bloß wieder raus?, dachte ich, machte eine bedauernde Handbewegung ins Dunkel der Hütte hinein, drehte mich um und schlüpfte in die Sonne. Ich blinzelte verstört in der Helligkeit.
Angelika lachte gerade mit dem Dorfältesten. Ich machte ihr ein Zeichen, sie kam, ging in die Hütte, und blieb sehr lange dort. Das Kind konnte auch sie nicht wieder lebendig machen, aber sie fand ein tröstendes Wort für die Familie. Ich flüchtete in den Jeep. Ich wollte nur weg, weit weg.
Auf dem Rückweg ruckelten und zuckelten wir von einem Schlagloch ins nächste. Das graubraune Wasser einer Schlammpfütze spritze an die vom Staub fast blind gewordenen Scheiben und machte den Durchblick völlig unmöglich.
So trüb wie die Scheibe waren auch meine Gedanken. Verwirrt zuckten und ruckten auch sie hin und her, im Takt mit dem schaukelnden Gefährt. Und während die Hitze des Tages abkühlte und die Dämmerung rasch heraufzog, entschloss ich mich dazu, Ärztin zu werden.



Eingereicht am 12. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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