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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Foto

© Michael Schneider


Katrin kam aus dem Einkaufzentrum. Gerade hatte sie wieder das Nötigste gekauft, und Bilder aus dem Fotoshop abgeholt. Letzteres konnte bei ihrer finanziellen Lage zwar überflüssig erscheinen, und Katrin hasste Verschwendung, aber hatte sie nicht auch irgendwann Geld für diesen Film ausgegeben? Und ihn noch sechs Monate in der Küchenschublade liegen lassen mochte sie nicht. Tatsächlich wusste sie nicht einmal mehr genau, was sie überhaupt alles fotografiert hatte. Trotzdem regte sich ein wenig das schlechte Gewissen in ihr. "Oh, Mann" dachte sie. "So viel Geld für ein paar Bilder. Das hätte auch einmal etwas mehr Fleisch und Wurst sein können!" Der herbstliche wolkenverhangene Himmel ließ die Welt um sie herum in einem unwirklichen Licht erscheinen, traurig und deprimierend. Und obwohl es erst drei Uhr nachmittags war, fühlte Katrin sich so müde, so erschöpft. In letzter Zeit ging es ihr öfter so. Sie sah sich auf dem halbleeren Parkplatz um. Ein leichter, zarter Nieselregen ließ ihre Kleidung kalt und klamm werden. Die Menschen hetzten geschäftig mit ihren Einkaufstaschen umher, bemüht mit ihren Erledigungen fertig zu werden bevor es richtig anfangen würde zu schütten. Die Flaggen mit der Aufschrift des Einkaufszentrums hingen schlaff an den Fahnenmasten herunter, und spiegelten damit wider wie es in Katrin aussah.
Mit ihren schlanken Fingern öffnete Sie das Fotokuvert, auf dessen Rückseite eine glücklich lachende Familie mit buntem Wasserball und Sonnenschirm an einem Strand abgebildet war. So stand Katrin auf dem Parkplatz und schaute sich langsam Bild um Bild an. Nichtssagende Fotos von irgendwelchen Menschen, die einst ihre Freunde waren, und Plätzen die sie aus glücklicheren Tagen kannte. Der Film war wohl doch schon erheblich älter gewesen als sie gedacht hatte. Immer, wenn sie sich das oben liegende Bild genug angesehen hatte, nahm sie es weg und schob es auf die Unterseite des Stapels. "Hätte ich doch lieber etwas Sinnvolleres stattdessen eingekauft!" Diese Worte murmelte sie leise und gedankenverloren vor sich hin, bis ... ja, bis Katrin dieses eine Foto in der Hand hielt. Es zeigte ihren Sohn Pascal. "Ja, genau!". Das musste nun fast ein Jahr her sein. Pascal war damals zur Kur in Tirol, und Katrin hatte ihn dort besucht.
Er kam behindert zur Welt. Spina bifida lautete die Diagnose der Ärzte.
Allerdings konnte Katrin damit herzlich wenig anfangen. "Dein Sohn ist mit einem offenen Rückenmarkskanal geboren worden." Seit ihre Mutter sich ein Medizinlexikon zugelegt hatte, schien es ihr liebstes Hobby zu sein mit bedeutungsvollem Gesicht Diagnosen zu stellen.
Pascal kann keine zwei Schritte alleine laufen, und obwohl er bereits zehn Jahre alt ist, blieb seine geistige Entwicklung bei dem eines Zweijährigen stehen. Schon als Katrin schwanger war, sagte ihr Gynäkologe dass aufgrund des Ultraschallbefundes eine Behinderung nicht auszuschließen wäre.
Ihre Freunde, ihre Mutter und auch Frank, Pascals Vater, versuchten Katrin davon zu überzeugen, dass eine Abtreibung das Beste wäre. Und zwar für alle Beteiligten. Pascal würde nie so sein können wie andere Kinder. Das wäre doch kein lebenswertes Leben. Außerdem solle sie doch auch an sich selbst denken. Als allein erziehende Mutter mit einem schwerstbehinderten Kind. Auf Frank konnte sie nicht zählen. Zwar war er Katrins große Liebe gewesen, allerdings war er nur auf der Suche nach einem schnellen Abenteuer mit ihr ins Bett gestiegen. Und die Verantwortung für ein Kind wollte er nicht übernehmen, schon gar nicht wenn das Kind ein "Spasti" ist. Vielleicht waren sie auch noch etwas zu jung gewesen, damals.
Als Pascal zur Welt kam war Katrin gerade achtzehn geworden, und Frank mit neunzehn war auch noch nicht viel reifer, im Gegenteil. Aber Katrin wollte das Kind haben. Erstens war ihr die Auskunft einer möglichen Behinderung zu vage, und zweitens (oder besser vor allem) wollte sie etwas von Frank behalten, den sie doch so geliebt hatte.
Wie oft hatte sie sich in den letzten zehn Jahren gefragt ob alle anderen nicht doch Recht hatten? Ob sie mit der Entscheidung für Pascal nicht zu egoistisch gehandelt hatte? Wie oft war sie schon bei den unterschiedlichsten Ärzten? Wie oft zur Physiotherapeutin, zum Ergotherapeuten? Sie wusste es nicht mehr. Ihre Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin musste sie abbrechen. Und da Pascal niemals alleine bleiben konnte, brach nach und nach der Kontakt zu all ihren Freunden ab. Das Geld war immer knapp, und es verging kaum eine Nacht in der Katrin sich nicht leise in den Schlaf weinte.
Dabei hatte das Leben doch so viel zu bieten gehabt. In der Schule war sie das hübscheste Mädchen. Die Welt stand ihr offen, und sie hatte so viele Träume. Vielleicht hätte sie heute ihr eigenes Geschäft, ihr eigenes kleines Haus mit Gartenzaun. Und Gartenzwerge. Katrin liebte Gartenzwerge.
Vielleicht hätte sie auch einen guten Mann kennen gelernt, der sie geliebt hätte. Katrin verlor sich gerne in solchen Träumereien.
Nun stand sie hier und betrachtete das Foto. Pascal in Tirol. Die Betreuer hatten ihm einen typischen Tiroler Hut mit Gamsbart aufgesetzt. Damit er auf der leicht abschüssigen grünen Wiese an der Almhütte stehen konnte, hatte er einen großen knorrigen Stab in der linken Hand. Ohne das T-Shirt mit dem aufgedruckten Bild der Dolomiten hätte er ausgesehen wie der leibhaftige Ziegenpeter aus Anna Spyris "Heidi". Was Katrin aber am meisten berührte war Pascals Gesicht. Alles an ihm schien zu lachen. Der Mund, in dem einige Zähne fehlten und andere unnatürlich groß wirkten. Die Gesichtszüge drückten eine Freude aus, die Katrin schon vergessen glaubte. Die Augen strahlten mit einer Glückseligkeit die an Katrins Herz griff, als ob eine feste warme Hand es umschließen würde.
An diesem regenverhangenen Tag schienen die einzigen wärmenden Sonnenstrahlen aus diesem Foto zu kommen, allein um Katrins Gesicht aufzuhellen. Katrin spürte nicht dass es mittlerweile zu regnen begonnen hatte Sie bemerkte auch nicht die Tränen die ihr Gesicht herunterliefen.
Wann ist ein Leben lebenswert? Wenn man ohne Hilfsmittel gehen, laufen und springen kann? Wenn man mit seiner geistigen Entwicklung der Norm entspricht? Oder wenn es nur einen Tag in diesem Leben gibt, an dem man sich aus vollem Herzen freuen kann? Wenn man der Welt, und dem Schicksal nur einmal ins Gesicht lachen kann?
Mit einem Schlag war es, als ob jemand den trüben Schleier vor Katrins Augen weggewischt hätte. Alles war mit einem mal so klar. "Wenn Pascal sein Leben so genießen kann, dann kann ich das doch auch." So dachte sie. "Und außerdem ist doch mein Leben nicht vorbei. Ich kann doch immer noch alles tun. Es ist alles nur eine Frage der Planung." Mit jedem Augenblick den sie auf das Bild sah und ihre Gedanken weiterspann wurde sie hoffnungsvoller. "Ja, jetzt werde ich es richtig angehen." Sie wusste zwar noch nicht genau wie sie es anstellen wollte, aber Katrin war fest davon überzeugt dass ihr nächster Schritt ein Schritt in eine bessere Zukunft sein würde.
"Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen? Geht es Ihnen nicht gut?"
Katrin brauchte einen Moment bis sie den jungen Mann registriert hatte, und verstand was er wollte. Innerlich lachte sie in sich hinein. Sie musste wirklich aussehen wie ein Fall für den Psychiater. Mit verheulten Augen stand sie, einen Stapel Fotos in der Hand haltend, im strömenden Regen auf einem Parkplatz. Dabei hatte sie ein verklärtes Lächeln auf dem Gesicht, und bewegte sich ansonsten keinen Millimeter.
"Nein. Nein, danke!", sagte sie schnell, ohne dass sie dabei aufhörte zu Lächeln. "Ich habe nur etwas vergessen. Ich muss noch mal in die Gartenabteilung, einen Gartenzwerg kaufen!" Katrin ließ ihr glockenhelles Lachen hören, um das sie in der Schule von allen Mädchen beneidet wurde.
Dabei drehte sie sich um, und ging mit schnellen, selbstsicheren Schritten zurück zum Eingang.



Eingereicht am 12. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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