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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Atlantic Transfer

© Christian Zolles


"Sie haben uns umgebracht, ohne dass wir etwas dagegen tun konnten. Schau uns an - abgenagt bis zum letzten Gedanken." Der Inhalt des Weinglases, über den er mit rundem Rücken hängt, stellt sich dem leichten Wanken des Schiffes entgegen. Ein Schopf seines dunklen Haares steht ihm vom Hinterkopf ab und lässt ihn so zerstreut oder betrunken erscheinen, wie er ist. "Sie haben uns um unsere Gefühle gebracht ... unseren Blick, unser Leben, unseren Ausdruck und was weiß ich noch." Er lässt sich in den grün gepolsterten Sessel zurückfallen, schnauft leise und sieht sie mit seinen braunen, kurzsichtigen, glasigen Augen an. Die Brille lugt aus der Hemdtasche hervor.
"Was haben wir bisher anderes erlebt als Selbststilisierung und Rechtfertigung, Mode, Kunst, Meinungen, Egoismus und Elite. Über allem eine Blase aus Vernunft, die so undurchdringlich ist, dass einem permanent das Kotzen kommen müsste, wenn man nur halbwegs bei Verstand ist … Apropos, ich komme gleich wieder." Damit steht er auf, richtet sich das graue Hemd am Hosenbund, streicht beim Vorbeigehen mit den Fingerspitzen über ihre linke Schulter und bahnt sich zwischen besetzten Tischen und Bänken den Weg zur Toilette.
Fort ist er mit den Gesten, die sie schon oft gesehen hat, und heute stellt sich ein angenehmes Gefühl ein, wie sie ihm nachblickt, weiß zwar, dass eine Veränderung der Zustände nicht schlagartig zu erwarten ist, dass aber solche Abende wenigstens noch hoffen lassen können. Der Wein wirkt heute angenehm auf den Körper, und die gedämpften Lichter und Gespräche von anderen Tischen im Saal sind passend mit Musik aus dem Flügel untermalt. Sie atmet fest aus, zupft dann an ihrer Bluse, zündet sich eine Zigarette an der Kerze an und bestellt noch eine Runde, da sie ihn kennt und selbst noch keine Lust hat, in die Kabine hinab zu gehen. Im Taschenspiegel richtet sie ihre blonden Strähnen und fährt sich mit dem Finger über die Unterlieder. Es sind müde Augen, schlimmer noch als sonst. Der Spiegel wird in die Tasche geschoben und der Kellner um 'une bouteille d'eau sans gaz' gebeten, die er wieder zu bringen vergessen hat. Das Piano setzt zu einem schnellen Brel-Stück an, etwas, das ihm bestimmt gefällt, wenn er zurückkommt, und ihn vielleicht beruhigen wird. Und so ist es auch: Kurz nach der Flasche Wasser kommt er an den Tisch, setzt sich gemächlich in den Sessel und heftet dann seinen Blick auf gelbe bauschige Blumen unter einem Wandleuchter. Alles in seinem Gesicht wirft scharfe Schatten: Die spitze, schiefe Nase, die Haarsträhne auf der Stirn, das rasierte Kinn, die Wangen, die Stirnhöhlen oder gar die Augen selbst. Er ist mager geworden, genauso wie sie selbst, und sie beide können das Gefühl nicht verleugnen, sich wohl damit zu fühlen.
Mit dem neuen Klavierstück reckt er seine Glieder und zündet sich eine Zigarette an. Er summt, während er in die Flamme der Kerze vor ihm stiert.
Die Rotweinspuren an seiner Unterlippe hat er abgewischt.
"Du bist heute dran mit dem Reden", sagt sie und lehnt sich zurück.
Normalerweise nicht gerade das wirksamste Kommentar, ihn dazu zu bringen, den Mund aufzumachen, beginnt er langsam mit leiser Stimme und ausdruckslosen Augen: "Verdammt sollen sie sein, die ganzen Intellektuellen und verkappten Esoteriker, die nichts anderes können, als sich mit Gedanken und sich selbst zu beschäftigen. Maler, Schriftsteller, Musiker, Künstler.
Was sind das denn für Berufe? Und warum sollte man die anderen ernst nehmen - Wissenschafter, Priester, Ärzte, Lehrer, Richter, alle, die für eine Macht stehen, an die sie glauben, und alles andere wie den Teufel fürchten … Die Institutionen. Männer. Wirtschaftsgrößen und Parteipolitiker. Verflucht all die öffentlichen Meinungen, überhaupt alle Meinungen, dieser Schwall an Fäusten, der auf deinen Schädel herabprasst, wenn du den Kopf heben willst.
Der deine Eltern so bemitleidenswert macht. Das ist krank, alles krank. Ob es längst vergessene Bilder, Gedanken oder Seelen sind, die Europa bevölkern, entweder alles oder nichts hat sich in die Körper der Lebenden gefressen und spukt darin herum. Der Westen ist von einer Krankheit befallen, die sich in die Köpfe der Männer und in die Mägen der Frauen hineinfrisst. Ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr..."
Das bleiben auch die letzten Worte für diesen Abend. Als er sich irgendwann zurücklehnt, nehmen sie sich an der Hand, lassen sie zwischen ihren Sesseln baumeln, trinken weiter den Rotwein, der regelmäßig gebracht wird, und sitzen so noch weit über eine Stunde in dem Saal. Er verlässt schließlich den Tisch vor ihr, und als sie ihm nach einiger Zeit nachgeht, findet sie ihn mit fahlem Gesicht auf die Reling gestützt, die Augen mit der rechten Hand bedeckt und rundherum eine weite und sternenklare Nacht, wie sie noch nie eine gesehen oder bemerkt hat. Der kühle Wind lässt kein Haar auf dem anderen und fährt durch die Kleidung bis in die Knochen. Wenn sie sich die Mühe machen würde, könnte sie das Rot- und Grünliche in seiner Aura erkennen, die in jeden Raum, den er betritt, entweder Ruhe oder Unruhe bringt, je nachdem. Aber sie macht sich heute nichts daraus. Sie geht langsam das offene Deck entlang, trinkt die mitgenommene Wasserflasche aus und bleibt außer seiner Sicht- und Hörweite stehen. Er wird alleine zurechtkommen. Auch sie fühlt sich gehörig betrunken, hat aber rechtzeitig mit dem Wein aufgehört. Mit schweren Lidern und sich in ihren weiten Frühjahrsmantel verkriechend findet sie das Meer in Kindergeschichten, die Sterne in kitschigen männlichen Allegorien wieder. Sie bleibt wie versteinert stehen, schaut, schließt die Augen und versucht, mit einem eigenen Bild die Stimmen in ihrem Kopf auszuwischen. So wird sie an die zehn Minuten gestanden haben, bis sie in einer plötzlichen und unvermuteten Bewegung die Glasflasche in hohem Bogen so weit in die Nacht hinauswirft, wie sie kann, so wie man eine Liste verbrennt und die Asche ins Meer kippt, so wie man ein Taschentuch zum Abschied schwenkt oder eine letzte Zigarette raucht.



Eingereicht am 12. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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