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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Kirschkerne

© Gabriele Korn


Der Zug ratterte durch die sommerliche Landschaft. Schweißtropfen rannen in schmalen Streifen Sabines Rücken hinunter. Kurz hatte Johannes' dunkelbrauner Blick sie am Bahnhof von oben bis unten gemustert, so wie er alle Frauen taxierte. "Drei Kilo zuviel. Die Hüftknochen zu breit. Das Kleid zu rot" las sie in seinen Augen. Gesprochen hatte er kein Wort, sich im Zug gleich hinter der FAZ verschanzt. Der Geruch nach Druckerschwärze, Rexona Sport und seinem frisch gewaschenen blauen Hemd kitzelte ihre Nase.
Wie sollte sie es ihm sagen? Heute war die letzte Gelegenheit.
Sie ließ ihren Blick aus dem Fenster pendeln, betrachtete schwarzweiße Kühe, flache Wiesen, dunkelrote Backsteinhäuser. Unerträglich blau war der Himmel, unerträglich hell das Licht. Es erschien absurd, an einem solchen Tag trübe Gedanken zu wälzen.
Eine Stunde Zeit gab sie sich noch.
Ihre Hand kramte im Rucksack, dessen Umfang eher an eine Polarexpedition als an einen Sommerausflug denken ließ. Kirschen hatte sie gekauft, rotprall glänzend und viel zu teuer. Sie verströmten den Duft von Optimismus. Sie bot Johannes die Früchte in der braunen Papiertüte an. Kurz nur hob er den Blick, und noch während seine gepflegten Finger ein wehrloses Kirschenpärchen ergriffen und es hinter kräftigen Zähnen verschwinden ließen, zogen sich seine Augen wieder auf die Börsenseite zurück. "Lecker", murmelte er, während er das Fruchtfleisch zermahlte. Ein winziger Speicheltropfen erschien im Winkel seiner trotzigen Lippen. Sie hätte ihn gerne geküsst. Aber er war so weit weg wie der Mars.
Zwei Kirschkerne wanderten ordentlich aus seinem Mund in die Serviette, dann in den Abfalleimer.
Die Kerne weckten unangenehme Assoziationen in ihr.
"Johannes, ich muss mit dir reden", presste sie heraus. Er reagierte nicht. Sie legte ihm die Hand aufs Knie, spürte, wie feucht ihre Handfläche war. Das konnte er nicht leiden. Ängstlich zog sie ihren Arm zurück, starrte auf die Zeitungswand vor ihr. "Johannes", wiederholte sie, lauter.
Unwillig sah er hoch. "Was ist?"
"Ich muss dir was sagen."
"Später", brummelte er, "jetzt lese ich."
Eingeschüchtert schob sie ihr Kleid zurecht, schlug ihr Buch auf. Ihr Blick huschte über die Seiten, ohne etwas aufzunehmen. Sie tupfte mit einem Taschentuch die Stirn ab, fühlte feuchte Haarsträhnen.
Johannes faltete pedantisch seine gelesenen Zeitungsteile wieder zusammen, Kante auf Kante, raschelte sie ins Gepäckfach. Für einen anderen Reisenden. Sabine bot er seine FAZ nicht an.
Sehr aufrecht, fixierte er sie mit zusammengekniffenen Lippen und schmalen Augen. "Was gibt's?" Alle von ihm ausgespuckten Kirschkerne schienen sich in ihrer Kehle zu stauen.
"Können wir uns nächsten Donnerstag ausnahmsweise sehen? Ich habe einen Kliniktermin."
Sein Gesicht war ein zugefrorener See. Sein Widerwillen brach einen Riss ins Eis.
"Wieso Klinik?"
Ihr Gesicht rötete sich. "Ich hab einen Knoten in der Brust. Links. So groß wie ein Kirschkern. Hab ich vor drei Wochen entdeckt. Muss untersucht werden." Ärgerlich schluckte sie Tränen.
Aus einer Maske von grauer Pappmaché starrte er sie kurz an, dann wanderte sein Blick aus dem Fenster. Er räusperte sich. "Donnerstag kann ich nicht. Bettina hat Geburtstag."
Ihr wurde schlecht. Bettina! Die süße Blonde aus Köln! Seine Affäre des letzten Jahres. Belogen und gequält hatte er Sabine damit; erst nach einem missglückten Urlaub mit der Schönen war er mit reumütigen Treueschwüren zurückgekehrt. Sabine hatte ihm großzügig verziehen, so wie immer.
"Bettina?" ,stammelte sie . "Ich dachte, das ist vorbei."
"Mach bloß keine Szene!", dröhnte er. "Sie ist nur noch eine gute Freundin. Ihr Geburtstag ist wichtig für sie; da will ich bei ihr sein."
"Und ich? Bin ich nicht wichtig?", konnte sie nicht zurückhalten.
Mit kalter Stimme schleuderte er ihr entgegen "Krankenhäuser halte ich nicht aus; und dir könnte ich doch nicht helfen. Dafür gibt es Ärzte."
Sabine sprang auf; das Kleid klebte an ihren Oberschenkeln. Sie rannte an Johannes vorbei zum Speisewagen, rutschte dabei aus ihrer Sandale.
Eine Lolita mit schwarzem Lidstrich hinter der Theke starrte sie an. Sabine bestellte Kaffee und Cognac, stützte sich ohne Kraft auf den Bistrotisch. Es war ihr egal, dass die Leute hersahen. Zum Glück hatte sie noch ein Päckchen Zigaretten eingesteckt. Sie inhalierte tief. Die Rauchschwaden begannen sie zu beruhigen. Der Cognac und die Hitze lullten sie langsam in eine wohlige Gleichgültigkeit.
Johannes hatte Recht. Sie sah alles viel zu eng. Bestimmt ginge die Untersuchung gut aus. Sie hatte wieder viel zu viel Angst. Und was war schon dabei, wenn er Bettina traf? Sicher war da nichts mehr, worauf sie eifersüchtig sein müsste. Er liebte Sabine, das hatte er ihr einmal gesagt. War eine Weile her ... Er war eben kein Mann der großen Worte.
Sie musste sich kämmen und frisch schminken. Dann würde sie zu ihm zurückgehen und sich entschuldigen, dass sie davongerannt war. Johannes war kein Mann, den man bedrängen durfte. Sie war zu fordernd gewesen, wie so oft.
Ihr Mund schmeckte nach Alkohol, Nikotin und Angst; sie wühlte in ihrer Tasche nach Kaugummi.
Johannes kam die Treppe herunter. Na also, hüpfte ihr Herz erleichtert, er hatte es eingesehen. Er würde ihr jetzt sagen, dass er mit in die Klinik fahren würde, dass Bettinas Geburtstag nicht wichtig wäre. Sie strich die Haare zurecht; ihr Lächeln zitterte ihm entgegen. Sein missbilligender Blick fiel auf den vollen Aschenbecher und das fast leere Cognacglas.
Er räusperte sich. "Du, wir sind gleich in Kassel; ich steige aus. Habe mich spontan entschlossen, Werner zu besuchen. Deine miese Stimmung nervt."
Er winkte ihr lässig zu und schritt energisch Richtung Tür. Sie blickte fassungslos seinen breiten Schultern hinterher.
Die Bedienung hinter dem Tresen grinste. "Noch einen Cognac?", fragte sie spöttisch.
Sabine kämpfte sich durch Wolken aus Schweißgeruch, süßem Parfüm und quengeligen Kindern zurück ins Abteil. Sie konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Schwindelig war ihr. Sie fühlte sich völlig unwirklich.
Die FAZ okkupierte Johannes' Sitz. Ein dunkler Schmerz breitete sich langsam in Sabines Bauch aus. Sie legte die Zeitung geistesabwesend auf ihren Schoß und klammerte sich daran fest. Ohne dass sie es merkte, rissen ihre Hände schmale Papierstreifen ab, formten kleine Kugeln, warfen sie aus dem Fenster.
Neben die Schienen tropfte eine Spur aus Papierkügelchen, jedes etwa so groß wie ein Kirschkern.



Eingereicht am 12. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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