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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ein steiniger Weg ins Licht

© Doris Wichert


Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzigen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden; ebenso rasch, wie der letzte Funken Lebenslust des Mannes, der dastand wie angewurzelt und mechanisch an seiner Zigarette zog. Er war wieder allein, all die Jahre hatte er auf diesen Tag gewartet, seine Kraft aus der Vorstellung gezogen und sich ausgemalt, in den buntesten Farben, den Moment der Begegnung.
Zum ersten Mal hatte er ihn gesehen, seinen Sohn Tobias.
"Und nun habe ich ihn gleich wieder verloren", dachte Paul Fichtemann und seine ihm gut bekannten düsteren Gedanken breiteten sich wieder aus.
Mit Erinnerungen so schwer, wie die Schritte auf dem Asphalt der menschenleeren Straße ging Paul ziellos in der finsteren Stadt umher. Einige der am Straßenrand stehenden Laternen flimmerten, als ob sie gleich für immer erlöschen würden.
Es war wieder da. Das Gefühl der Sinnlosigkeit nagte spürbar an Paul, so dass er es nicht ignorieren konnte.
Paul kannte es gut aus der Zeit, als er mit seiner Mutter und seinen jüngeren Brüdern zusammenlebte. Damals fühlte sich für vieles verantwortlich. Seine Mutter war so zart und allein. Oft war sie überfordert und er half ihr, wo er konnte.
Das Geld war knapp und der Jüngste war stets etwas kränklich, so dass häufig der Notarzt geholt werden musste.
Paul war fleißig und hatte auch in der Schule gute Noten, nur an den konkurrierenden Spielen seiner Mitschüler nahm er kaum teil, denn er hatte andere Verpflichtungen und andere Sorgen. Wenn Gleichaltrige sich zusammen rotteten und so taten, als läge ihnen die Welt zu Füßen, so war Paul eher ein Außenseiter und ging seine eigenen Wege.
Manchmal, wenn er allein da saß und Ruhe um ihn war, spürte er eine wehmütige Sehnsucht in seinem Herzen und das Ziel dieser Sehnsucht hätte er sicherlich nie kennen gelernt, wenn die Zeit mit Waltraut nicht gewesen wäre.
Anfangs konnte er, 17-jährig, es nicht fassen, dass sich dieses lebenslustige Mädchen mit dem zauberhaftesten Lächeln und dem Wesen eines Engels für ihn interessierte. Doch sie meinte es ernst.
"... und es waren die schönsten Jahre meines Lebens", erinnerte sich Paul in Gedanken versunken. "Ein Gefühl als schwebten wir mit Leichtigkeit gemeinsam durch die Zeit."
Waltraut und Paul waren glücklich. Paul fühlte sich wie nie zuvor, geliebt und gesehen, anerkannt und geschätzt zu werden. Diese Zeit hätte nie vorbei gehen sollen, doch ein Ereignis warf Schatten über die Leichtigkeit. Waltraut wurde schwanger. Und obwohl das überhaupt nicht so geplant war, konnte sich Waltraut und sogar ihre Eltern nach einem kurzen Moment der Sprachlosigkeit freuen, während Paul ohne Worte blieb. Es nagten Zweifel an ihm, innere Stimmen erinnerten ihn an seine eigenen Kindheitserlebnisse und je mehr Paul versuchte, wenigstens in Waltrauts Gegenwart freudig und locker zu wirken, desto verkrampfter wurde er.
"Freust du dich denn nicht ein kleines bisschen", fragte ihn Waltraut so oft und legte seine Hand auf ihren Bauch.
"Spür doch mal, es bewegt sich schon."
Und wenn er dann spürte, liefen vor seinem inneren Auge Filme ab. Er sah seine verzweifelte Mutter, die angeschlagen durch die Herausforderungen ihres Daseins auf dem Sofa lag und sich nichts sehnsüchtiger wünschte, als ihren Söhnen einen positiven Start ins Leben zu ermöglichen. Dann sah er in die Augen seines kleinen, kranken Bruders, die ihn anflehten, er möge ihm helfen.
"Nein", sagte Paul, "ich kann nicht."
Es kam zur Trennung. Waltraut konnte seine Schwere nicht aushalten und Paul begab sich wieder in seine Rolle, in die ihm wohl bekannte Rolle, nicht dazu zu gehören. Er war traurig, aber auch ein wenig erleichtert.
Paul lebte allein und bescheiden. Er konnte selbst nicht verstehen, warum er nicht innerlich habe "ja" sagen können, aber es ging nicht und er wollte ähnliche Erfahrungen nicht noch einmal machen.
Die Jahre vergingen, die Erinnerung erblasste. Nur noch selten wälzte sich Paul nachts schlaflos im Bett und dachte über seine Versäumnisse nach.
Doch eins wusste er die ganze Zeit, er wollte unbedingt seinem Sohn begegnen, obwohl er merkte, dass sein Mut ihn verließ, je mehr Zeit er verstreichen ließ.
Erst an jenem Abend, etwa 20 Jahre später, hatten sie sich nun getroffen und wieder hatte Paul das unhaltbare Gefühl, falsch gehandelt zu haben.
Nach all den Jahren des Schweigens hatte er geredet, die ganze Zeit, Tobias konnte kaum was sagen. Er wollte alles erklären und Tobias sollte es verzeihen. Dabei fiel ihm wieder ein, dass er Tobias keine Chance geben wollte, zu fragen oder es zu verstehen, denn Paul wusste, dass er es bis heute selbst nicht verstanden hatte.
Die Ärzte nannten es "Depression", die Psychologen "Regression". Die Nachbarn nannten ihn feige und verantwortungslos. "Schaut her, er ist mit seiner Mutter und Brüdern allein aufgewachsen, da fehlte auch der Vater, was will man denn von so einem erwarten."
Paul gestand sich ein, dass seine Angst war, sein Sohn würde ihn auch feige nennen.
In seiner möblierten kleinen Wohnung angelangt, sah er das Lämpchen seines Anrufbeantworters blinken, drückte auf Starten, das Band lief schleppend zurück und dann hörte er: "Hallo Vater. Hier ist Tobias. Wie haben uns erst heute kennen gelernt, doch mein Vater bist du schon seitdem ich lebe. Ich muss unbedingt mit dir reden, sicher kannst du mir helfen. Meine Freundin kriegt ein Kind von mir, und ich habe sie so lieb und habe auch große Angst. Bitte, melde dich bei mir!"
Ein Strahlen huschte über Pauls Gesicht, er erfasste schlagartig seine Chance und sagte zu sich: "Du machst nicht das gleiche wie ich!"



Eingereicht am 12. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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