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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Straßenmusiker
© Sabine Hausmann
Als sie es wusste, als sie es erkannte, lauschte sie der Musik der Straßenkünstler. Sie erkannte es einfach. Wie töricht war sie doch gewesen, es so lange Zeit nicht erkannt zu haben?! Doch nun! Es hatte sie eingeholt. Der Bus war ohne sie gefahren. Der Schweiß auf ihrer Haut zog die Schuluniform fest an. Bei den Klängen der Musik, den samtweichen Worten der fremden Sprache, unter der durch und durch dringenden, prallen Mittagssonne erkannte sie den Unterschied. Den Unterschied zwischen sich und der Welt, in
der sie bis jetzt gelebt hatte. Verstand sie auch die Bedeutung des Gesanges nicht, sah sie sich ganz deutlich im Hier und Jetzt. Nirgendwo anderes wollte sie sein. Hier! Jetzt! Und ihre Familie? Und ihre Familie war auf der anderen Seite, weil sei nicht hinüber kommen konnten. Weil sie es nicht wollten. Weil sie sie nicht hörten, die sanften Töne der Musik in den Gassen Havannas. Ihre Familie war ganz einfach taub. Sie waren ohne Sinne. Lachten ihr nur zu, um sie hinüber zu locken. Auf ihren Pfad zu führen.
Zerfleischt waren sie. Zerfleischt und durch und durch mit konservativem Blut, mit längst überwundener Scham, aber ihre Eltern hielten daran fest. Und nicht nur sie, sondern auch ihre Mitmenschen, ihre Gesellschafter, ihre Mitläufer. Der offensichtliche Unterschied zwischen ihr und ihrer Familie hatte verschleiert hinter diesem Luft befeuchtenden wahren Lied der Straße gewartet. Hatte sich versteckt. In einer Straße ohne Ende. Eine Straße, die man nicht sehen konnte und ungewiss blieb bis man sie beschritt. Aber
diese Straße galt als vollkommen und so empfand sie sie auch. Eine Straße, die ihre Familie niemals erahnte, doch sie, ihre Tochter, war nicht taub. Und dieser Unterschied war ein Beweggrund, um zu handeln - zu gehen oder zu bleiben. Schlicht handeln! Entscheiden! So einfach! Die Musiker waren der Grund, lockerten einen Stein in ihr, einen Fels. Und er fiel so tief, dass es sie zunächst schmerzte. Das Gesicht des Straßenmusikers. Sein Gesicht! Sein Gesicht! So - unendlich! So unendlich vollkommen! Empfand sie
es! Der Musiker - hatte Alles. In seinen eigenen Augen hatte er Alles und in denen der tanzenden Menschen auf den Straßen ebenso. Sie wollte es auch sehen, in ihrem Gesicht, morgens im Spiegel. An jedem Tag ihres Lebens. War das zu viel verlangt? Ihre Eltern hatten niemals dieses Alles in ihren Gesichtern gesehen. Sie waren mit weniger zufrieden. Mit Nichts! Das war das Alles ihrer Eltern! Nichts zu sehen! Doch sie, ihre Tochter, musste es haben. Es sehen können. Jeden Tag! Jede Stunde! Also, entscheiden, bitte!
Entscheiden, was zu tun war! Wo war ihr Alles? Entscheidung!
Ihre Gedanken kreisten nur um ihn, Raphael, sein Sein, seine Gestalt, sein Flüstern. "Er ist Alles", sagte sie zu sich, während ihrer Gedanken an ihm und ihre Augen an diesem Musiker hafteten. Dort am Straßenrand. Sie liebte! Was konnte sie mehr verlangen als das Geschenk wenigstens einmal in ihrem Leben lieben zu dürfen? Liebe ist so einfach. Im Grunde. Liebe fragt nicht danach, wer der Geliebte ist. Liebe akzeptiert. Menschen fragen nach dem Wer, Woher, Warum? Menschen verleiten sich. Verirren sich.
Verlieren sich.
Audrey! Sie liebte! Ihn! Das wusste sie bereits. Sie akzeptierte es! Dazu hatte sie sich nun entschlossen. Wegen dem Musiker und seinem Gesicht. Wegen der Sanftheit seiner Stimme, die ihre Gedanken streichelten und in den Straßen Havanna schallte. Ihre Augen tanzten unbemerkt. Auf einem Absatz drehte sie sich um und rannte, die Straßenkünstler und das Gesicht des Musikers im Rücken. Es war so klar! So deutlich vor ihr, dass sie es hätte berühren können: Was sie wollte! Während sie lief, sprach die Erinnerung
seiner Stimme zu ihr. Seine Stimme, beinahe ohne Akzent, vollkommen, ermunterte sie zu Schmunzeln, flüsterte. `Glück, Liebe ist ein ... wie sagt ihr! Gabe! ... Privileg! Ein Geschenk! Nicht jeder hat es und ... manchmal, wenn man es ... gefunden hat, darf man es nicht immer behalten!` Aber ich will, dachte sie! Ich will behalten! Das Café. Hier arbeitete er, aber er war nicht da. "Raphael! Der ist zu Hause!" rief der Inhaber, ein gutherziger Mann. Weiter rennen, den Wind einholen. Um tausend Ecken.
Stürmisch durch das Tor in den Hof, dessen gelb goldene Mauern ihre neuen ungewöhnlichen Gedanken schützten. Dann waren ihre Beine taub, unbeweglich, aus Stein. Ein Türspalt öffnete sich und er stand im Rahmen. Da! Da vorne stand er! So unwirklich war es, dass er dort stand! Verwirrt, verloren, versucht.
Seine Augen sahen! Sie! Eigenartigerweise erinnerte er sich bei ihren Antlitz im Hof in diesem Moment an einen längst vergangenen Tag. Der Tag vor der Schule, die sie besuchte. Der Tag an dem sein Blut brodelte, wie eine heiße Brühe über dem Herdfeuer. An diesem Tag, an dem er auf sie gewartet hatte, vor dem hohen Zaun. Eine Stunde, zwei, drei, vier. Zeit! Unwichtig! Dann kam sie und fragte, was er hier zu suchen hätte und wie lange er denn schon dort stehen würde? So lange es nötig war, hatte er geantwortet.
Er musste so lange warten. Um sie zu sehen! Er hatte nicht genau gewusst, wann ihr Unterricht vorüber war. Doch als sie aus der Tür trat, in ihrem Schulgewand, mit einem haselnussbraunen Haarzopf, der mit ihren Bewegungen tanzte. Als er sie sah, ihr Kleid, wie ein Rosenblatt um sie gelegt, da war Alles vollkommen. Er hatte warten müssen. Drei Stunden und sechsundfünfzig Minuten hatte er gewartet, vor dem Tor gestanden, ohne sich auch nur einmal hinzusetzen. Er hätte noch länger gewartet. So lange es eben nötig
gewesen wäre. Um sie zu sehen.
Dies war seine Erinnerung, als sie im Zentrum des Hofes stand. Auf ihn wartete, wie er auf sie gewartet hatte.
Raphael! Er liebte! Sie! Und die Versuchung griff nach ihm. Krallte ihn! Immer und immer wieder. Zerrte an ihm. Nicht nur die Versuchung sie zu halten, sie zu tragen, zu lieben. Denn noch gegenwärtiger war die Versuchung ihre Gedanken zu sehen, zu lesen wie ein offenes Buch, zu hinter fragen - Alles zu wissen! Über sie! Was sie dachte? Woher sie kam? Wie sie fühlte? Warum sie ihn liebte? Warum sie nicht einfach fortgeblieben war, wie in den letzten beiden Wochen?
Dann, plötzlich begann sie zu weinen. Sie weinte so sehr, dass sie mit aller Kraft nach Luft ringen musste, aber sie schlug ihre Hände nicht vor die Augen oder wandte ihr Gesicht ab. Sie weinte, wie sie war. Nicht aus Trauer, nicht aus Elend, sondern aus Seelenfrieden, aus Liebe, aus Bekenntnis. Sie verlor viele Tränen und Worte flossen ebenso in Mengen. "Der Musiker, Raphael! Der Musiker!" Überzeugt und sicher, wie sie war, musste sie ihm Alles erzählen. Die Versicherung ihrer Liebe musste hinaus.
Hinaus geschrien, hinaus geweint, hinaus gelebt werden. Das Leben, die Zukunft mit ihm, den sie liebte, mehr als Alles, die Bekenntnis, die sie ihrer Familie zu Liebe zurückgehalten hatte. Sie redete, für ihn, damit er es wusste und für sich selbst, damit sie es belauschen konnte, wie ihre Worte innerhalb der Hofmauern schallten und zum Leben erweckt wurden.
Aber! Seine Augen sahen! Nur! Sie! Nur sehen! Sonst Nichts! Sahen nur Alles! Nur sie! Keine Stimmen! Die überwältigten Sterne ihrer Augen, das famose Zucken der kleinen Fältchen, die sich um ihren süßroten Mund legten, wenn sie erregt sprach, wenn sie sich bekannte, zu ihm. Worte, Worte und Worte flossen, Schritt für Schritt für Schritt kam er nahe. So nah bei ihr, dass sich ihr Zittern auf ihn übertrug. Damit er es besiegen konnte. Damit er es stillen konnte. Weil nur er fähig war, ihr ein Gesicht so vollkommen,
wie das des Musikers zu schenken. Sie war dazu nicht in der Lage es sich selbst zu schenken. Als sie verstummte und keine Worte mehr flossen und keine Träne mehr sprach, konnte sie ihn nicht ansehen. Reaktionen fürchtete sie! Weil sie sie nie verstanden hatte. Die Reaktionen ihrer Eltern! Sie hatten in ihrer Vergangenheit niemals einen Sinn ergeben. In der Vergangenheit als sie noch in der anderen Welt gelebt hatte. Starr bannte sie seine Kehle, gerade auf ihrer Augenhöhe. Und er?! Sträubte sich hinab zu sehen!
Erhaben und stolz und aus Angst, es wäre nur ein Trugbild seiner in Liebe schwellenden Begierden. Sie könnte erneut verschwinden, fort laufen und sie würden niemals mehr sein. Sein Atem strich ihr über die Stirn. `Nein! Vor zwei Wochen war sie fort gegangen. Zwei Wochen! Nein! Noch einmal? Zwei Wochen? Unmöglich!`, dachte er. Er hatte in den Wochen ihren Namen nicht einmal ausgesprochen. Er hatte ihn nicht aussprechen könnten, konnte ihn nicht hören. Er wollte ihn erst wieder sagen, wenn er ihn ihr zuflüstern
konnte. Einmal! Er japste nach Luft und flüsterte.
"Audrey!" Der Name verfing sich einer Haarsträhne. "Audrey! Warum ... bist du ... zurück?"
"Der Musiker! ... Auf der Straße!" Sie sah hinauf. Er sah hinab. Sie sahen Alles.
Weltenwechsel!
"Es ist kein Fehler! Ich glaube daran! Willst du mich etwa dazu zwingen meine Gefühle einfach zu vergessen und weiter zu leben, wie bisher? Das kann ich nicht. Ich kann einfach nicht! Und ich will es auch nicht! ... Es ist meine Entscheidung. Meine Entscheidung, ob ich es will oder nicht ... und ich will es! Ich will ... ich ... wünsche es mir, Mom! So sehr! Ich kann beinahe nicht atmen, wenn ich nur daran denke ihn zu verlassen ... ich ... ich habe mich so entschieden, Mom! Ich werde es tun. Ich muss!
Ich ... ich kann einfach nicht anders. Ich heirate ihn ... Ich liebe ihn! ... Ich muss einfach!"
"Bist du von allen guten Geistern verlassen? Hast du mal an uns gedacht? An deinen Vater? Was die Leute sagen werden? Worüber sie sich bereits jetzt schon das Maul zerreißen? Es genügt schon, das du dich mit diesem Kerl überhaupt abgegeben hast, aber das du ... nein. Nein!!! Das ist vollkommen absurd! Keine Vorstellung, was wir ... nein! Bist du denn blind? Hast du ihn dir nicht mal genauer angesehen, diesen Gauner!?"
"Oh, ja! Das hatte ich vergessen. Sein Aussehen! Sein gesellschaftlicher Stand! Ist es so wichtig für dich? So ausschlaggebend? Für uns? Ist es so dermaßen erniedrigend, bloß weil wir alle ein bisschen blasser, ein bisschen hell haariger und blauäugiger sind. Weißt du, er hat auch zwei Hände und zwei Füße und wenn ich mich recht entsinne, glaube ich sogar ein Paar Augen gesehen zu haben. Aber ich werde es doch lieber morgen noch mal nachprüfen!"
"Das wirst du nicht!"
"Und ob! Das werde ich! Morgen und für den Rest meines Lebens! ... .Mein Gott, ich versteh dich einfach nicht. Du hast doch mit Sicherheit auch irgendwann mal so empfunden oder tust es vielleicht immer noch!? Ich kann mich doch nicht nach anderen richten ... ich ... ich meine ... na und, ich bin Amerikanerin! Und er? Nicht! Was soll's? Ich liebe ihn. Er ist es! Er - ist - es! Er ist ... Alles!"
"Ach, Kind! Wenn du dich hören könntest! So ein Unsinn! Versteh doch endlich, dass es unmöglich ist. Wie stünde dein Vater da?! Was sollte er zu seinen Vorgesetzten sagen? Was sollte ich ... Nein! Wir können das nicht erlauben! Du kannst diesen ... diesen ... diesen ... !"
"Kubaner, Mutter! Diesen Kubaner! Ich kann ihn niemals heiraten. Das willst du mir sagen?! ... Aber das werde ich tun ... ich werde ... ich ... heirate doch nicht für die Gesellschaft. Ich heirate, wenn ich liebe und das tue ich. Das tue ich wirklich, Mom!"
"Ach, Schatz! Ist dir denn noch nicht in den Sinn gekommen, dass er dich vielleicht nur ausnutzt!? Bist du denn so töricht?"
"Was soll das? Das kann nicht dein Ernst sein. Nein, Mom!"
"Er, ein mittelloser Kubaner und du, eine ...!"
"Nein!"
" ... junge Amerikanerin mit dem ...!"
"Nein!"
" ... mit dem entsprechenden Vermögen!"
"Nein! Ich liebe ihn und das ist Alles! Ich liebe ihn!"
"Nein, das tust du nicht! Du bist überhaupt nicht fähig dazu. In deinem Alter! Er ist nur irgendein ungebildeter kleiner Gauner, der weiß, dass du eine wohlhabende Familie hast. Die wollen doch alle hier raus. Aus Kuba! Oder wollen sich lediglich an uns rächen. Verstehst du denn nicht, worum ´s hier geht? Das ist keine Liebe. Das ist Politik! Ein Wettkampf ist das!"
"Hör auf mit mir zu reden, als würde ich nicht wissen, wie die Lage aussieht. Ich weiß das! Und es ist mir gleich! Ich weiß, wie es um Kuba steht. Ich lebe auch im Hier und Jetzt und wenn du von mir verlangst, dass ich mich für eine Seite entscheide ... bitte!! Dann werde ich das tun! Ich entscheide mich! Hab ich schon! ... Und ich entscheide mich für diese Welt!"
"Dann entscheidest du dich gegen Alles was du bist?"
"Nein, Mom! Das bin nicht ich und bin´s auch nie gewesen. Bloß wusste ich das nicht, weil meine Augen immerzu verschlossen waren ... und nun sind sie offen. Und ich bin nicht mehr taub. Ich kann zum ersten Mal in meinem Leben hören und es ist unbeschreiblich."
"Aber was redest du denn da?"
"Aber, Mom, glaub mir bitte! An dem Morgen, vor zwei Wochen ... auf der Straße. Da hab ich es gesehen. Ich wusste es. Die Musiker auf der Straße ... .jetzt hör mir doch mal bitte zu!"
"Ach!"
"Nein, hör zu! Das Gesicht des Mannes. So etwas hab ich vorher noch nie gesehen. So ein Gesicht. Es war so voll ... .jetzt hör mir doch bitte zu!"
"Nein! Wenn du dich so entscheidest, dann entscheidest du dich eben gegen uns. Deine Familie. Deinen Vater, Eve und mich!"
"Nein! Ich ... !"
"Du glaubst doch nicht, dass wir irgendetwas damit zu tun haben wollen?!"
"Nein! Sag das nicht! Ihr würdet mich doch nicht ... das würdest du nicht!?"
"Darauf kannst du Gift nehmen!"
"Mom, ich ... bitte! Ich kann nicht anders!"
"Nein, Audrey! Schluss jetzt! Ich will Nichts mehr hören!"
"Dann wirst du´ s eben erleben!"
"Nein, dass werde ich nicht! Bleib gefälligst hier! Bleib stehen! Wo gehst du hin?"
"Ich heirate, wenn ich liebe und das tue ich!!"
"Nein, tust du nicht! Komm sofort zurück! Wage es nicht die Tür zu knallen!"
Weltenwechsel?
Die Tür im Schloss und die Gedanken allein. Eingesperrt. Ohne Halt flüchten sie unter Bett, Schrank und Stuhl. Sie vereinen sich mit gemischten Gefühlen, die aufsteigen. Was war zu tun? Wie musste entschieden werden? Der Musiker tänzelte als Gespinst in ihr umher. Sein vollkommenes Gesicht strahlte erneut auf. Ihre Mutter schrie herrisch vor ihrer Tür. Sie ließ sie nicht ein. Das Gesicht! Entscheidung!
Sie tat es. Noch in derselben Nacht war sie sich sicher und es bestand keinerlei Zweifel, dass sie ihn liebte. Sie wandte sich von ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Eve ab. Der Wind wütete durch ihr Haar, unter ihren Füßen trug er sie auf seinen Schwingen und ließ sie sanft zu ihrer Liebe schweben. Und die Tränen in ihren Augen und in seinen, als sie dort stand, im Hof, erneut. Diesmal für immer. Noch Wochen später nahm er sie unentwegt in den Arm, um sich zu vergewissern, dass sie es war und kein Phantom,
das ihn nur beirren wollte. Der Tag ihrer Hochzeit war der schönste in ihrem Leben, würde sie sich erinnern. Mit vierundachtzig Jahren, in einem Krankenbett in einem Seniorenheim in Baltimore, kurz bevor sie starb. Eine kubanische vollkommene Hochzeit bei der die Luft heiß und schwül an ihrer Haut klebte. Ein Tag des Tanzes. Gelbgold der Tanz, schwarz und silbern der nächtliche Schutz, kleine Schweißperlen überall an ihnen. Der Dunst griff nach den Perlen. Der Tag an dem sie Alles gewann und sie bereute Nichts.
Dank des Musikers! Keine einzige Sekunde, keine einsame Minute, keine arbeitsreiche Stunde, keinen Brot armen Monat und keines der neun Jahre. Keine Reue! An einem Freitag kamen sie ihn holen, die Polizei, nahmen ihn ihr und ihren Kindern, ihren Vieren. Fort, fort von ihr. Sie holten ihn, weil er ein Freidenker war, sein musste, ein Tänzer, ein Sänger, ein Dichter, ein Belesener, ein Diskussionsfreund, ganz gleich. Sie nannten es einen Revolutionär. Er wurde geholt und sie blieb zurück. Sie konnte nie wieder
einen anderen Mann lieben, danach, nachdem er fort war. Fort von Allem. Jeden Abend beim Einschlafen wartete sie, dass er zu Bett kam, und jeden Morgen war er der Erste ihrer Gedanken. An ihrem Esstisch stand stets ein Stuhl leer. Kein Gast nahm je auf ihm Platz. Sie wussten es eben alle und respektierten es. Es war ihr nicht vergönnt noch einmal zu lieben und gewollt hätte sie es ohnehin nicht. Sie hoffte auf seine Rückkehr. Auf sein Flüstern. Sie hoffte bis zu ihrem Tod. Und sie dankte für neun Jahre und den
Musiker und jedes "Audrey!" in ihrem Ohr.
Ihre Kinder waren frei. Carlos, der Älteste, wurde Arzt, ein guter und sein Bruder Schriftsteller. Er zog lange Zeit nicht von zu Hause aus. Die Brotlosen Schriftsteller eben! Seine Mutter war glücklich darüber - sein Gesicht war das seines Vaters. Die Töchter heirateten Amerikaner. Später! Sie waren vollkommene Töchter und gütige Mütter mit festen Prinzipien. Wussten ihren Willen zu erkennen. Später! Als eine ihrer Töchter noch klein war, vielleicht fünf oder sechs, stellte sie ihrer Mutter die Frage der
Liebe. Woran man sie erkennen würde? Was sie ausmachte? Audrey wusste im ersten Augenblick nicht, was sie antworten sollte und sah ihre kleine Tochter grübelnd an. "Das ist eine schwere Frage! ... Ich kenne die Liebe nur, kann sie aber nicht erklären, mein Schatz." Das schien ihr Töchterchen nicht zufrieden zu stimmen. "Aber ich werde mir etwas überlegen!" Und sie wühlte in einer bodenlosen Kiste der Vergangenheit. Den ganzen Tag und die halbe Nacht grübelte sie. Raphael war zu dieser Zeit
bereits fort, fortgerissen worden von ihr und es fiel ihr noch schwerer über die Liebe nachzudenken. Wie könnte die Anwort lauten? Sie dachte an den Musiker und sein Gesicht und ob er wohl schon gestorben sei oder ob er noch spielte oder gar vollkommen ein Liedchen trällerte? Unwichtig! Er tanzte als Gespinst durch sie hindurch und sein Gesicht schwebte vorüber. Sein Gesicht! ... Sein ... Gesicht! Vollkommen ... ohne Wahl! Er musste singen, musste spielen, musste ein Musiker sein! Kein Willen! Er konnte aufhören
zu trinken, zu qualmen, zu essen, zu leben, aber nicht zu spielen. Keine Wahl! Kein Wille! Noch in der nächtlichen Stille schlich Audrey zu ihrer Tochter und flüsterte ganz leis "Ich weiß es jetzt!" Die Kleine regte sich nicht, hielt Augen zu und Ohren offen. "Und? Wann liebt man?" "Es ist ganz simpel ... Wenn der Wille seinen eigenen Willen bekommt." Die Kleine mümmelte kurz im Halbschlaf. "Wenn du keine Wahl hast, liebst du! ... Keinen Willen!" Die Kleine nickte friedlich
und Audrey legte sich ebenso zu Bett und ruhte offenen Auges in den Hof starrend. Eine gute Antwort, dachte sie! Noch mehr als zuvor, bereute sie Nichts. Sie schlief nicht ein.
Ihre Schwester Eve war lange Zeit kein Teil ihres Lebens. Eve konnte nicht davon ablassen ihre geflohene Schwester als Idol, als Ikone anzusehen. Einen Held, der seiner Überzeugung folgte. Es war viel Mut nötig, um einen Kubaner zu ehelichen. Damals! Diese unerschütterliche Liebe war zu Eve's Vorbild heran gewachsen. Dieses Vorbild, ihr Alles. Eve heiratete. Einen Mann außerhalb der Gesellschaft. Einen Amerikaner! Doch konnte sie trotz Haus und Hof und Kinder und Katzen nicht glücklich werden. Ihr Held,
ihre Schwester stand ihr im Weg, eh und je. Eine Liebe kann man nicht nach ahmen. Das wusste Eve nicht. Ihre Scheidung dauerte lang und schmerzte unermesslich. Sie kehrte zurück zu ihrer Schwester, um bei ihr zu sein. Schwestern eben.
Ihre Eltern gingen zu Bruch. In Heim, Ehe und Gesellschaft. Schuld - hieß es - waren diese beiden Kinder der Undankbarkeit, welche keinerlei Scham empfanden. Erst die Älteste und dann verschwand auch noch die Hoffnung auf eine gute Partie bei der Kleineren. Die Eltern mussten zu Bruch gehen. Es folgten Scheidung und die zweiten Ehen. Ein einziger Skandal!
Dann war da noch ein Paar, das von dem Mut dieser Verliebten, dieser jungen Amerikanerin und dieses Kubaners hörten. Dem Mut zu lieben und Alles vom Leben zu verlangen. Alles aufs Spiel setzten, um Alles zu erreichen. Und dieses eine ganz besondere Paar, Miguel und Lauren, machten es ihnen gleich und glaubten an sich und lebten gemeinsam bis zu ihrem Tod.
Sie tat es ... Sie tat es nicht!
Sie tat es nicht! Die Worte ihrer Mutter hatten in ihr endlosen Zweifel aufsteigen lassen. Bangend, voller Furcht, um ihre sichere Zukunft, tat sie es nicht. Ging nicht zurück zu Raphael! Was wenn ihre Mutter Recht behalten würde? Wenn er sie verließ und sie alleine wäre? Was wenn? Sie tat es nicht. Verlor Alles! Selbst die Erinnerung! An ihn und an den Musiker! Zunächst! Ihn und die kubanische Hochzeit mit ihrer schwül heißen Luft an ihrer Haut, den goldgelben Tag des Tanzes gab es nicht. Sie kehrte nicht zu
ihm zurück. Sie sah ihn nie wieder. Doch ein einziges Mal sah er sie noch. Er ruhte abseits. Zwei Tage! Und wartete. Er hätte noch länger gewartet, wenn er nur ihr Gesicht noch einmal sehen durfte. Er sah, wie sie die Stufen hinunter und ins Auto stieg, um nie wieder zurückzukehren. Er blieb!
Sie war fort! Nach Amerika! Sie wurde verheiratet. Sie schloss den Bund der ewigen Liebe für die Gesellschaft und starb mit zweiundsiebzig Jahren im Schlaf, während sie vom vollkommenen Gesicht des Musikers träumte. Ihr Ehemann lebte noch einige Jahre und glaubte, sie nach ihrem Tod zu vermissen. Dabei war bereits nach zwei Wochen Ehe der Musiker in ihren Gedanken wieder aufgetaucht und hatte ihn ihr mitgebracht - Raphael. Seine Gestalt, sein Flüstern, sein Warten. So war er ihr letzte Gedanke, wenn sie zu Bett
ging und der erste, der sie am Morgen begrüßte. Ihre Ehe, das Ebenbild ihrer Eltern. Zwei Kinder, Junge, Mädchen, Marc, Megan, Anwalt, hübsch anzusehende Ehefrau. Der Sohn Marc heiratete oft, denn er konnte sich nicht binden, nicht öffnen. Zu sehr war ihm offensichtlich geworden, wie sehr seine Mutter seinen Vater nicht liebte. Außerdem hatte Marc zu wenig Liebe von ihr offenbart bekommen. Ebenso wenig wie sie ihrem Ehemann keine wirkliche Liebe zeigte. Nur! Ihr Ehemann, der war blind. Er hätte eben niemals so
lange es nötig war auf sie gewartet. Ihre Liebe war gestorben und sie hatte Alles verspielt. Die Zeit hatte ihr dies offenbart. Ihr Herz verblasste und im hohen Alter sprach sie konfuses Zeug. Sprach von Kuba, er hatte gewartet, würde er immer noch, von langen Tagen im Bett und vom Flüstern. Vor allem sprach sie vom Flüstern und von diesem Gesicht, auf der Straße. Niemand verstand, von was sie sprach. Niemand wollte es!
Ihr Raphael, ihre Liebe, heiratete nicht, da er sich bewusst darüber war, dass er Alles verloren hatte. Er alterte zusehends schnell, von einem auf den anderen Moment war er gestorben. Er lebte bei seinem Bruder und dessen Familie. Er wurde ruhig, las viel, aber schwieg bei Diskussionen. War stumm bei jedem Abendmahl und erwähnte nie wieder ihren Namen. Er konnte es nicht. Verkroch sich in die Einsamkeit, im Dunkel des Zeitlosen. Damit er zurückkehren konnte. Vor die Schule, wo er wartete. Auf sie! Mit
ihrem haselnussbraunen Haarzopf, der sich an ihre Bewegungen schmiegte. Mit ihren außergewöhnlichen Einfällen und Ideen, mit ihren Gedanken. Er starb spät. Lange Zeit nach dem Tod seiner Sinne. Alt wie er war, hoffte er stets, sie noch einmal aus dem Schulportal kommen zu sehen. Oder ein Auto würde vorfahren und sie würde aussteigen und Alles wäre wieder da und er würde ihren Namen flüstern. Dann erst könnte er ihn wieder aussprechen. Einmal! Nur den Namen! "Audrey!" in ihrem Ohr.
Ihre Eve tat es ihrer älteren Schwester gleich. Ihrem Vorbild. Und sie wurde glücklich. Vier Kinder, zwei Hauskatzen und ihren Mann glaubte sie zu lieben. Das brachte Eve ihr Glück! Ihre Schwester hatte es vorgeführt. Es musste auf diese Art und Weise funktionieren.
Ihre Eltern waren angesehene Herrschaften. Diese reizenden Töchter. Erfolgreich in jeglicher Hinsicht. Die Eltern glaubten sich zu lieben, bis zum bitteren Ende. Ihre Gesellschaft wollte es so und deren Willen hätten die Eltern nie und nimmer angezweifelt. Sie glaubten, dass darin ihr Glück lag.
Dann war da noch ein Mann, Miguel, der sich im Alter von zweiundzwanzig Jahren das Leben nahm, weil sein Alles ihn verlassen musste. Lauren Baker hieß sie. Sein Alles! Sie musste in die Staaten zurückkehren. Ihr Vater verlangte es. Lauren fand keinen Anstoß ihren Mut offen zu zeigen. Sie wurde mit einem amerikanischen Firmenunternehmer verheiratet, der laut Gesellschaft gütig und ehrlich war. Lauren vergaß über die Ehejahre hinweg diese gutheißende Beschreibung ihres Gatten. Aufgrund seiner Fäuste und
ihrer grünlich blauen Blutergüsse an Armen und Beinen, glaubte sie schon in frühen Lebensjahren nicht mehr an Alles und an Glück am allerwenigsten. Die Treppe hinunter gefallen war Lauren, glaubten Gesellschaft und alle anderen.
Sie tat es nicht ... Sie tat es!
Ob ihr Tod nun mit vierundachtzig kam oder gar mit zweiundsiebzig war ganz gleich. Ob es Alles oder Nichts war, was sie erreichte. Sie wusste. Wusste, dass sie ihn geliebt hatte, ihn liebte, ihn immer lieben würde, bis zu ihrem Tod.
Und der kleine Musiker tänzelte stets als Gespinst in ihr umher, um sie dazu zu zwingen. Sich zu entscheiden. Es zu tun oder nicht! Das Gesicht! Entscheidung:
Sie tat es ... oder nicht?
Im Grunde: Keine Wahl!
"Audrey!" in ihrem Ohr.
Eingereicht am 09. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.