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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
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© Lenno Harris
Nehmen wir an, das Leben ist nichts anderes als der Weg von der Todeszelle zum Elektrischen Stuhl. Man hat seinen Ausgangspunkt, den ein anderer gewählt hat und von diesem aus geht man direkt auf seinen Tod zu. Es gibt keinen Aufschub, es gibt keinen Umweg, es gibt kein Entrinnen. Man geht auf sein sicheres Ende zu und beginnt nachzudenken.
Meter für Meter wird einem immer bewusster, dass man sterben wird und man versucht so viel Leben aus jedem einzelnen Schritt, den man noch hat, zu ziehen wie möglich. Und so wird der Gang subjektiv gesehen immer langsamer, desto näher man dem Ort seines Ablebens kommt. Am Schluss bewegt man sich kaum noch sichtbar, aber davon merkt man nur selbst etwas, kein anderer. Und wovon auch kein anderer etwas merkt, außer einem selbst, sind der Wandel und die Bewegung, die sich im Innern vollziehen. Denn auch wenn das
Äußere immer lebloser erscheint, im Innern war noch nie soviel los.
Das ist natürlich nur ein Bild für das Leben. Nicht jeder haucht seine Existenz auf diese Art und Weise aus und für diejenigen, die das nicht tun, wird dieser Vergleich vielleicht schwer zu verstehen sein, aber er ist angebracht. Schon deshalb, weil die bewusst gelebten Momente eines jeden Sonntag in die Kirche gehenden, eine sichere Arbeit findenden, heiraten und Kinder kriegenden, mit Freunden sich, während des Betreibens eines Hobbys, betrinkenden Durchschnittsmenschen zusammengezählt auch nicht länger sind
als die Zeit, die es braucht, zum Stuhl geleitet, festgeschnallt und hingerichtet zu werden. Viel wesentlicher als das ist aber, es gibt viele Parallelen und ich muss es wissen, für mich ist es nämlich nicht nur ein Bild. Ich war bis gerade eben noch in der Todeszelle wegen dreifachen Mordes.
Das erste was das Leben und der Gang zur Exekution gemeinsam haben, ist, dass niemand ohne Karma dorthin kommt. Das heißt man hat eine Vorgeschichte und Voraussetzungen oder auch eine Begegnung mit Gott, für diejenigen, die das Prinzip des Karmas ablehnen. Kein Kind wird völlig frei und in Freiheit geboren. Es bekommt einen bestimmten finanziellen und sozialen Background, Religion mit eingeschlossen. Bei mir ist das nicht anders.
Sie hatten mich gefragt, welcher Religion, welcher Konfession ich angehöre und ich hatte ihnen gesagt: " Keiner", aber das war nicht das, was sie hören wollten. Das sah nicht gut aus und passte nicht zum abschreckenden und erziehenden Strafvollzug, ich meine, zu seiner erziehenden und abschreckenden Wirkung. Jemand, der in der Todeszelle sitzt, bereut und klammert sich dazu verzweifelt an Gott, wie er es schon vorher in seinem Leben hätte machen sollen, denn dann wäre nichts von alledem passiert in
einem wunderschönen, freien Land wie diesem. So jedenfalls hätten sie es gern, aber da es so nicht ist, wollen die wenigen, die das wissen, dass es zumindest so aussieht und deshalb sahen sie in meine Akten und fanden dort, was sie suchten, den Anker zur Befreiung meiner Seele.
Ich war getauft, also bekam ich einen Priester, der meine Seele erretten und mein Gemüt erleichtern sollte, ob ich wollte oder nicht. Dieser Priester, ist bis gerade eben bei mir in der Zelle gewesen, vielleicht ist er sogar immer noch in der Zelle, vielleicht läuft er aber auch gerade hinter mir und wirft seinen kirchlichen Schatten symbolisch über mich, wie es die Kirche in der Außenwelt, dem Ort außerhalb dieser Gefängniswände, macht.
"Mein Sohn", sagte er zu mir in der Zelle mit einem warmen und doch deutlich distanzierten Tonfall und ich antwortete ihm ebenso distanziert: "Ich bin nicht dein Sohn."
"Du bist ein Sohn Gottes und ich bin sein Vertreter", fuhr er fort und sah mich an, wie meine Lehrer früher, wenn sie pädagogisch ihre Überheblichkeit getarnt hatten.
"Dann hab ich ein paar Fragen an sie, *Vater*" entgegnete ich und versuchte ihm dabei so viel Zynismus entgegen zu werfen wie möglich. "Hat Gott sie persönlich als einen seiner Vertreter berufen und ist das vertraglich geregelt? Und was mich noch interessiert, könnte ich einfach so der Vertreter ihres leiblichen Vaters werden und sie statt seiner Sohn nennen? Oder könnte ich nur ihre Mutter werden?"
Er schwieg und blieb relativ gelassen, was kein Wunder war, da ich in ein paar Minuten gebraten werden würde und nicht er. "Sie haben keine Antworten?", fragte ich weiter und sah mich in meinem trostlosen, blaugrauen Zuhause um.
Er schwieg weiter.
"Das dachte ich mir, Priester. Geh und rettete jemand anderes. Jemand, der gerettet werden will und der an dich und deinen Verein glaubt. Ich habe jetzt einfach keine Zeit mehr für Märchen über gute Geister und die Errettung von etwas, das wahrscheinlich nicht existiert."
"Du bist wütend und zornig und das ist schlecht", war sein geistreicher Kommentar dazu.
"Was sie nicht sagen", war meine geistreiche Retour.
"Lass das alles gehen und du wirst den Glauben finden und in Frieden und Liebe gehen."
"Ich werde gleich geröstet, Priester. In mir ist nichts friedlich", fuhr ich ihn an und ließ dann den Kopf baumeln. Auch in der Trostlosigkeit gibt es zwar Momente des selbstvergessenen Mutes, leider dauern sie da nicht sehr lange.
"Vertraue auf Gott, mein Sohn. Er wird dir vergeben, genau wie ich."
Schon wieder dieses "Sohn" und wieder eine dämliche Moralfloskel. Ich hasse das. Aber na ja, er konnte ja nichts für meine Lage und vielleicht war er auch gar kein so schlechter Mensch. Vielleicht wollte er mir wirklich helfen, vielleicht glaubte er sogar wirklich daran, dass er es konnte. Vielleicht hielt er das für einen dieser Wendepunkte im Leben, bei den sich in deinem Innern alles ändern konnte. Einer von uns beiden war verblendet, mit Sicherheit. Ich wusste nur nicht genau wer.
"Beichte! Es geht dir dann besser", sagte der Priester zu mir und diesmal klang es wirklich menschlich, was aus seinem Mund kam und nicht wie die Verkaufspropaganda des Vatikan. Er sah anscheinend jetzt den Menschen und nicht eines seiner, wie sagt die Kirche das doch so passend, verlorenen Schäfchen. Trotzdem oder gerade deshalb hätte ich nicht beichten sollen. Nichts als die Wahrheit ist nicht die beste Politik im Leben und es gibt Wissen, das man nie erlangen sollte. Denn wenn man bestimmte Dinge
weiß, ist es schwer weiter zu leben, zumindest so wie man es gewohnt war. Ich weiß das und der Priester, der wusste es nach der Beichte auch. Da hatte er seinen Wendepunkt, nur eben anders, als er erwartet hatte. Sein Gesicht wurde bleich und das ganze religiöse Pathos verschwand aus seinen Augen, dafür begannen sie zu zittern und suchten in meinen Augen nach Halt, vielleicht sogar nach Lüge. Wenn das, was ich gesagt hatte, unwahr gewesen wäre, wäre es einfach zu vergessen gewesen, aber es war nicht gelogen und
er sah es.
"Wieso? Wieso haben sie das gemacht?" stammelte er, während die Wärter die Zellentür öffneten und mich mitnahmen. Ich habe ihm nicht geantwortet. Warum, weiß ich auch nicht so genau. Ich glaube, ich wollte, dass er leidet. Ich wollte mir noch sicherer sein, dass ich den Stuhl auch wirklich verdiene.
Ich bin mir ziemlich sicher, er sitzt noch in der Zelle und denkt über das nach, was er nun weiß und nicht sagen darf. Und jetzt ist er gespalten zwischen dem, was er weiß und dem, was von ihm erwartet wird.
Es geht ihm da jetzt wie den meisten draußen. Nur ist es hier komprimierter, extremer und dadurch deutlicher. Es würde mich überraschen, wenn er jetzt hinter mir wäre und so täte, als hätte er nichts erfahren.
Und so, wenn wir den Priester hier drin als Symbol für Gott draußen nehmen, begehe ich jetzt meinen Pfad ohne Gott, auch wenn er wahrscheinlich gerade an mich denkt und deshalb habe ich Angst. Ich habe Angst, und das ist nicht nur hier so, das war auch in meinem Leben draußen so, weil ich alleine bin. Nicht unbedingt körperlich, denn das ist man fast nie. Man begegnet permanent Menschen und ist eigentlich ständig von irgendjemand umgeben. Ich laufe auch jetzt nicht alleine.
Vier Wärter umgeben mich und wir passieren die Zellen der anderen Todeskandidaten und ich begegne wie in der Außenwelt allen Facetten von Menschen und Gefühlen. Da ist zum Beispiel Tony, der Wärter links von mir. Er ist ein sympathischer Mensch. Er ist nicht der attraktivste Mann, den man je gesehen hat, mit seiner Halbglatze und der offensichtlich starken Körperbehaarung, aber er ist definitiv einer der gutherzigsten. Er weiß, warum ich zum Tode verurteilt wurde und dennoch behandelte er mich wie kein anderer
hier. Natürlich saßen wir nicht da und haben zusammen Karten gespielt und uns über unsere Familien unterhalten, das wäre gegen die Vorschrift gewesen, außerdem ist es schlecht, wenn man jemanden, den man umbringen muss, in sein Herz schließt, aber er hat mich oft aufrichtig angelächelt und ab und an mal einen Witz erzählt.
Man braucht solche Menschen, sonst erträgt man das Leben nicht. Und deshalb begegnet man ihnen. Bei mir waren es weiter Kunta, der etwas exzentrische Riese, dem sie die Zelle neben mir gaben und Tim, der hier eigentlich nichts zu suchen gehabt hatte. Der arme Kerl war erst achtzehn gewesen. Ja, er hat seine Eltern umgebracht, aber was sie vorher mit ihm gemacht hatten, war auch nichts anderes als Mord gewesen.
Vor drei Tagen haben sie ihn zum Stuhl gebracht. Das war das dritte Mal gewesen, dass ich als Erwachsener geweint hatte.
Denen, bin ich hier drin begegnet, aber draußen gab es natürlich auch positive Begegnungen, aber nur eine die ich jetzt als erwähnenswert betrachte. Meine Frau, Sarah. Ich habe nie einen Menschen getroffen, dessen Liebe so nahe an die Bedingungslosigkeit kam, wie die ihre. Und ich kenne keinen Menschen, den ich mehr lieben gelernt … und verletzt habe als sie. Ich verdiene den Stuhl.
Die Kugel hatte sie in den Kopf getroffen und ihre Augen waren auf mich gerichtet. Ich sah zu wie ihr Körper langsam zusammenbrach und leblos wie ein Puppenkörper neben die toten, blutenden Körper ihrer Freundinnen Jules und Vera fiel. Blut, das aus einer tiefen Wunde strömt, ist erst tief schwarz. Ganz allmählich wird aus dem schwarz, das gewohnte rot.
Bei Sarah war es noch schwarz. Bei Jules und Vera schon rot. Und trotz allem was hier gerade geschehen war, schien draußen die Sonne und die Bäume raschelten ganz sachte im Wind. Die Welt war sichtlich unbeeindruckt vom erlöschen dieser kleinen Lebenslichter und ich muss zugeben, der Tod von Jules und Vera berührte mich eigentlich auch nicht, aber ihrer, ihrer schon. Sehr sogar. Oh, mein Gott, was hab ich getan.
Ich fühle wie ich zusammenbreche und auf meinen Knien lande. Der Boden ist hart, aber ich spüre den Aufprall nicht. Tony greift aufgeregt nach mir und hilft mir auf.
"Alles in Ordnung. Pass auf sonst brichst du dir noch was." Ihm wird bewusst, was er da gerade eben gesagt hat. Ich sehe ihn an und er mich und wir beide lachen.
"Klar Tony, wäre schrecklich, wenn ich mir jetzt was brechen würde."
"Na, hat der schweigsame Jeff Panik? Buhuu. Fahr zur Hölle", ertönt eine Stimme aus der Zelle vor der ich zusammengebrochen bin. Es ist Jack. Er beginnt zu lachen und macht Gesten als würde er von Elektroschocks getroffen, aber das ist in Ordnung. Denn man begegnet im Leben nicht nur Menschen, die einem wohl gesinnt sind. Ganz im Gegenteil. Den meisten ist man im Grunde egal, so wie ich den zwei Wärtern hinter mir, die kaum erwarten können zu ihren Familien nach Hause zu kommen, und den meisten anderen
Gefangenen hier, die damit beschäftigt sind, ihr Schicksal zu tragen. Und dann gibt es noch ein paar, wie meinen Freund Jack hier, die hassen einen. Aber die sind nicht wichtig. Die meisten füllt nur ihr eigenes Leben nicht aus oder es stellt sie einfach nicht zufrieden, deshalb beschäftigen sie sich mit einem. Es gibt sogar ein paar, die hassen einen nur, damit man ihre Gefühle erwidert und sie so irgendeine Beziehung zu einem anderen Menschen haben, die auf starke Emotionen basiert. Das klingt armselig und
das ist es auch. Bei Jack ist das etwas anders. Er ist einfach ein kranker Mistkerl, der sich an Kindern vergriffen hat.
"Fahr zur Hölle", wiederholt er und grinst mich an.
"In Ordnung, ich warte dann dort auf dich", gebe ich ihm als Antwort und spüre prompt einen Schlagstock, der mich in die Rippe trifft. Das ist Reinert. Mein vierter Begleiter, einer der Menschen, die mich nicht leiden können.
"Beweg dich Jeff. Der Stuhl hat keine Lust mehr auf dich zu warten."
"Wissen sie Reinert, normalerweise ist jemand, der so ist wie sie, ein Arschloch, aber mir gegenüber ist das ok. Ich bin hier ja nicht umsonst."
"Pass auf was du sagst, Sträfling."
"Sonst was? Wollen sie mich umbringen."
Tony schmunzelt und Reinert wirft ihm einen wütenden Blick zu. "Auf geht's", sagt Tony und greift mich am Arm, um die Kolonne wieder zum Laufen zu bringen. Wir gehen an den letzten Zellen vorbei und ich sehe in die einzelnen Gesichter Sie spiegeln meine eigenen Gefühle wider:
Angst, Wut, Trauer, Verzweiflung, Entsetzen, Resignation. Nur wenige zeigen noch Kampfeslust. Es ist erstaunlich was das Leben und die Zeit aus wilden Männern machen. Wild sind jetzt nur noch die, die ihren Verstand eingebüßt haben und die, die noch nie einen besessen haben. Die anderen sind zu zahmen, verstörten Jungen verkümmert. Ich finde bei den meisten von ihnen ist es schwer, ihnen ihre Taten noch übel zu nehmen, wenn man sieht, was aus ihnen geworden ist. Draußen war das auch so, dass man Menschen ihren
Werdegang am Erscheinungsbild und an der Ausstrahlung ablesen konnte. Zum Beispiel an ihren verkniffenen Mundwinkeln oder den Augen mit den geschwollenen Tränensäcken. Draußen hab ich nie darauf geachtet, aber hier drin kann man es eigentlich nicht ignorieren. Und da liegt auch der einzige gravierende Unterschied zwischen draußen und drinnen. Hier gibt es keine Ablenkung. Nur du und dein Gewissen, das dich Tag für Tag frisst und zur Unterstützung noch seine Freunde dabei hat, Trostlosigkeit und Langeweile. Gesegnet
sind jene, die kein Gewissen haben, aber das ist ja draußen auch nicht anders. Wenigstens ist man hier einen Großteil der Heuchelei los, die man früher jeden Tag ertragen musste. "Wie geht es ihnen?", fragen sie, obwohl sie es nicht wissen wollen. Sie grüßen dich, damit sie das Gefühl haben, dass sie Leute kennen und wichtig sind. Sie huldigen Religionen und Rechtschaffenheit, aber nur so lange man sie sieht und es was bringt. Und sogar die meisten Bekannten, die man hat, halten den Kontakt nur Aufrecht,
damit sie jemand zum Spielen haben, wenn sie sich langweilen. Man ist ein lebender Zeitvertreib.
Keiner, nicht ein einziger, meiner Freunde hat mich besucht, seitdem ich hier drin bin. Es kam nicht mal Post. Ach doch, einen Brief habe ich bekommen. Eine Woche, nachdem ich verurteilt worden war, kam eine Karte meines so genannten besten Freundes. Es war eine dieser Karten, mit denen sich Frischvermählte bei allen bedanken, die irgendwie zum gelingen der Hochzeit beigetragen haben, wem mach ich was vor, sie würgen den anderen ihr neues Glück rein oder gaukeln es vor. Auf der Karte waren ein Bild von Viktor
und seiner neuen Frau, Susan, und ein paar Zeilen für mich. Erst das Höffliche: "Schade, dass du nicht hier sein konntest, Kumpel", dann das Ehrliche: "Ich werde den Kontakt wahrscheinlich abbrechen müssen wegen Susan, verstehst du. Nach dem, was du getan hast, findet sie, du wärst, wie soll ich es ausdrücken, nicht der richtige Umgang für mich, für uns" und dann noch mal das Höffliche: "Es tut mir Leid, aber du weißt, ich bin dein Freund". Damals war ich enttäuscht, aber jetzt nehme
ich es ihm nicht mehr übel. Welche Zukunft hat die Freundschaft mit einem Todeskandidaten schon?! Das schlimmste ist, ich weiß nicht, ob ich im Großen und Ganzen anders gehandelt hätte als er. Immerhin war er mal mein Freund gewesen und wir hatten viel gemeinsam gehabt. Das vermute ich jedenfalls.
Trotzdem hat mir das alles, die Abstinenz von Besuchen und Nachrichten, etwas über meine Freunde und unsere sozialen Bindungen gezeigt. Das war alles falsch, gelogen, oder besten Falls, nur Illusion. Nur Sarah, meine Sarah, war echt. Alles was von ihr kam, jedes schöne Wort, jede zärtliche Geste und jeder intime Blick, war echt und das ist etwas, und das habe ich hier drin gelernt, unglaublich Seltenes und dadurch umso wertvoller.
Ich war nicht bei ihr, um ihr die Zeit zu vertreiben oder damit sie sich besser fühlte. Sie war auch nicht bei mir, um von mir und meinen Leistungen zu leben. Um ehrlich zu sein, hätte sie dafür bessere haben können als mich. Es war sogar so, dass sie das Meiste zum Lebensunterhalt beisteuerte. Sie war einfach bei mir, ohne dass unser Beisammensein für sie irgendeinen richtigen Zweck hatte. Sie war nur bei mir, weil sie mich liebte. Mehr nicht.
Und erst jetzt begreife ich, wie wunderbar dieser Grund gewesen war und was für ein Geschenk sie mir damit gemacht hatte. Sie war der einzige Mensch gewesen, für den ich unersetzbar gewesen war, der einzige Mensch, der mich unter diesen Milliarden verlorenen Geistern zu etwas Besonderem gemacht hatte … und wegen mir, nur wegen mir, ist sie nicht mehr da.
Der Stuhl ruft nach mir und Reinert hat Recht, er hat keine Lust mehr zu warten.
Wir kommen jetzt durch das große Eisentor, das das Gebäude mit den Todeszellen von dem Gebäude der eigentlichen Hinrichtung trennt und ich freue mich, denn wir sind kurz draußen. Also nicht wirklich, wir sind eigentlich in einem kurzen Gittergang, der die beiden Gebäude verbindet, aber trotzdem sind wir irgendwie im Freien, denn es sind nur dünne Gitterstäbe, die mich die nächsten fünf Schritte von der Außenwelt trennen. Das ist wunderschön. Die Sonne scheint. Zum letzten Mal sehe ich das Licht des Tages und
die Sonne scheint. Ein schöner Anblick und mir ist er noch mal gegönnt. Göttlichkeit zeigt sich nirgends so stark wie in den alltäglichen Wundern der Natur und wenn man in eine extreme Situation geworfen wird, dann übersieht man vielleicht diese Alltäglichkeit und wirft die Gewöhnung von sich ab und vielleicht hat man dann die Chance diese Göttlichkeit zu sehen, so wie ich jetzt. Was hat der Tod nur an sich, dass er aus jedem Taugenichts einen poetischen Romantiker macht. Ich weiß nicht, ob es an den Lichtstrahlen
liegt, die Endorphine in mir frei setzen, oder an meinen jüngsten lyrischen Anwandlungen, aber gerade jetzt habe ich das Gefühl, so pervers das in meiner Situation auch zu sein scheint, dass es gut ist hier zu sein. Ja, seltsamerweise hat mich dieses Erlebnis zu einem besseren Menschen gemacht und mich der meisten meiner Ängste entledigt. Ich will damit nicht sagen, dass ich keine Angst vor dem habe, das mich noch erwartet, ganz im Gegenteil, aber die Ängste, die mich mein ganzes Leben lang mehr oder weniger
blockierten, haben hier drin die Bedeutung verloren.
Hauptsächlich deshalb, weil ich ihnen ausgesetzt wurde. Angst vor Einsamkeit, vor Verlust, vor dem Leben und der großen Welt an sich und Angst vor Unfreiheit. All das hat jetzt keinen Sinn mehr und macht mich, paradoxerweise, freier denn je. Schade, dass ich das nicht mehr wirklich nutzen kann, andererseits wer weiß, ob ich das draußen auch gelernt hätte. Vielleicht wäre ich immer noch von diesen Trivialitäten geplagt zugrunde gegangen. Die einzige Urangst die noch in mir ist, ist die Angst vor dem Tod oder vielleicht
ist es eher die Angst vor dem Sterben.
Der letzte Schritt und ich bin im Hinrichtungstrakt. Ein letzter Lichtstrahl trifft mein Auge und wirft mich zurück in die Vergangenheit.
Ich saß da auf dem Hocker, auf dem normalerweise die Katze lag, und hatte die Waffe in der Hand. Vor mir lagen die drei Toten Jules, Vera und meine Sarah. Sie waren alle voll Blut und dennoch, obwohl sie ein erschreckendes Bild ergaben, waren sie dennoch Frauen und hatten eine gewisse Eleganz oder Würde inne. Sarah war wunderschön. Auch wenn die Kugel ihren Kopf getroffen hatte, sie hatte ihr nicht die Schönheit nehmen können.
"Es tut mir Leid, es tut mir Leid, es tut mir Leid", murmelte ich und weinte. Das war das zweite Mal, dass ich als Erwachsener weinte. Im nächsten Moment brach die Polizei die Tür ein und stürmte ins Zimmer.
Als sie mich auf dem Hocker sitzen sahen, mit der Waffe in der Hand, war ihnen klar, was passiert sein musste.
"Lass die Waffe fallen", schrien sie und umkreisten mich dabei. Ich ließ die Waffe fallen, stand auf und ging auf die Polizisten zu.
"Verhaften sie mich", sagte ich und sie taten es und brachten mich weg.
Mein Anwalt wollte auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit plädieren, aber mein Geständnis und vor allem die genaue Beschreibung der Tat im Gerichtssaal zerstörten diesen Plan und jede Hoffnung der Todesstrafe zu entgehen und ich war zufrieden. Und mein Anwalt, so sehr er auch bei meinem Geständnis abwinkte und das Gesicht verzog, fand es im Endeffekt wohl auch besser, dass jemand wie ich dauerhaft unschädlich gemacht wurde. Wie sagen es Präsidenten doch so treffend, wenn sie über irgendein anderes Land, dass
sie aus irgendeinem Grund zum Feind erklärt haben, reden: Diese Gefahr für die freie Welt und unsere zivilisierte Nation muss gebannt werden.
Das ist auch etwas, was zu dieser neuen Freiheit gehört. Ich könnte jetzt alles sagen ohne die Folgen zu fürchten, denn was können sie mir jetzt noch schlimmeres antun. Ich habe alles verloren: Meine Liebe, meine Freiheit, meine "Freunde" und bald werde ich auch mein Leben verlieren. Ich bedaure so sehr, dass ich jetzt gerade keine Kamera habe und eine Live-Schaltung raus in die Welt.
Die Eisentür schlägt zu und ich bin in meinem letzten Gebäude. Hier sind keine Zellen mehr und die Wärter, die mich die ganze Zeit schon begleiten sind jetzt sehr still und angespannt, sogar Tony. Die Verlangsamung der Bewegung tritt ein von der ich am Anfang geredet habe und mein Kopf explodiert fast vor Gedanken. Und was für Gedanken, von der Frage "Gibt es einen Gott" bis zur Erinnerung, mit wie viel Frauen ich geschlafen habe, ist alles mit dabei und alles auf einmal. Und zwischendurch, durch das
Gedankengewirr und mein hemmungslos laut klopfendes Herz, höre ich immer wieder "Sarah". Es ist doch nicht zu fassen. Sogar jetzt ist sie noch für mich da. Jetzt, wo ich wegen Mordes an ihr und ihren Freundinnen zum Tode geführt werde. Ich könnte im Boden versinken. Sie war da, als ich vorübergehend arbeitslos war und sie war da, als ich meine Eltern verloren hatte und das Gefühl, nun wirklich alleine auf dieser Welt zu sein, mich übermannt hatte. Nicht, dass sie sich nicht manchmal beschwert hat und
anstrengend war, aber sie war immer da gewesen. Ich bin ihr so dankbar und zu gleich so beschämt.
Wenigstens bestätigt das, dass der Stuhl und ich zusammen gehören.
Jetzt sind wir im letzten Gang und alles ist noch stiller als vorher.
Tony und die anderen Wärter sind auch stiller geworden und angespannter, was wahrscheinlich an der erhöhten Gefahr in diesem Augenblick liegt.
Todeskandidaten sind die friedlichsten Gefangenen im ganzen Vollzug, hauptsächlich weil sie sich nichts mehr zu beweisen haben, deshalb sind sie auch friedlicher als die meisten Menschen draußen, aber hier auf diesen letzten Metern vor der Kammer und dem elektrischen Stuhl geraten viele in Panik angesichts des Todes und der absoluten Hoffnungslosigkeit und sie rasten schlichtweg aus. Ich kann sie verstehen. Die ganze Zeit vorher, auch wenn es unwahrscheinlich ist, hat man das Bild einer Begnadigung oder einer
wunderlichen Rettung vor sich. Bei mir schlich sich in schwachen Momenten die Fantasie ein, dass eines Nachts Tony einfach meine Zelle aufschließt und sagt: "Lauf! Ich finde schon eine Erklärung". Aber jetzt, bei diesem letzten Stück gibt es keine Hoffnung mehr. Ich werde jetzt gleich sterben, da führt kein Weg mehr dran vorbei. Aber ich werde nicht ausrasten, nein, ich nicht. Ich hab mir, das hier rausgesucht und irgendwie bin ich froh. Wenn man am Nullpunkt ist, kann man nicht mehr tiefer fallen.
Das Leben kann mich jetzt nicht mehr verlocken, in dem es mir irgendetwas gibt und es dann wieder nimmt.
Ich habe nichts mehr. Hast du gehört Welt, mir kann nichts mehr genommen werden und damit bin ich allem, was atmet und um irgendwas, und wenn es nur das Überleben ist, kämpft, überlegen. Seltsam, wenn man das so sieht, vor allem, wenn man bedenkt, dass ich in der absoluten Unterlegenheit eines Kindes geboren wurde.
Oh, mein Gott. Wir sind da. Da ist er, der Stuhl. Ich kann kaum noch atmen, geschweige denn gehen. Ich fühle mich, als hätte ich verschlafen und nur noch wenige Minuten, um tausende von Dingen zu machen. Ich habe mehr Angst, als ich dachte, und mehr Selbstbeherrschung noch dazu, denn ich weine nicht und mein Zittern hält sich auch in Grenzen. Irgendwie bin ich sogar stolz auf mich, dass ich nicht zusammenbreche. Der Raum ist steril, neutral, professionell. Kein bisschen so, wie man ihn sich in Alpträumen vorstellen
würde. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das hier besser ist. Diese kalte Professionalität ist fast noch erschreckender und die Ausstrahlung von Effizienz, die von allem hier drin widergespiegelt wird, macht dich zu einem Fließbandprodukt. Bei den Horrorvorstellungen gibt der Raum wenigstens das wieder, was er macht, nämlich töten, und man hat zumindest das, in diesem Fall, perverse Gefühl im grausamen Mittelpunkt zu stehen, aber hier scheint man eher ein Nebendarsteller zu sein, eine Zahl, Schlachtvieh, dass
zu Tierfutter verarbeitet wird. Na ja, vielleicht ist das gerecht, obwohl eigentlich war ich nie ein großer Fleischesser.
Sie schnallen mich fest. Und, um ehrlich zu sein, ich habe so große Angst, dass ich das Gefühl habe gleich los heulen zu müssen. Außerdem kommen mir ausgerechnet jetzt Gedanken über Himmel und Hölle. Das ist jetzt wirklich der denkbar schlechteste Augenblick mir darüber den Kopf zu zerbrechen, ob ich in die ewige Verdammnis komme und was mich dort erwarten könnte. Ich halt's nicht mehr aus. Ich bekomme keine Luft mehr und mir ist heiß. Kalt ist mir auch. Der verdammte Raum bewegt und zieht sich zusammen. Ich
hör mein Herz … immer lauter, lauter, lauter. Da ist eine Stimme, ganz dumpf. Es ist Tony. Er sagt mir, ich soll mich beruhigen. Der hat gut reden.
"Tony, hol den Priester her. Er soll dabei sein."
"Ok, mach ich, Jeff. Er ist gleich da."
"Danke, Tony, das bedeutet mir viel."
Warum ist der Priester auf einmal so wichtig für mich? Und warum will ich, dass er dabei ist, wenn ich sterbe? Diese zwei Fragen könnte man sich jetzt stellen. Und wenn jemand denkt, ich will, dass er hier ist, weil ich Angst um meine Seele oder Ehrfurcht vor Gott habe, dann liegt dieser jemand damit falsch. Ich brauche den Priester, weil ich bei ihm gebeichtet habe. Ich will ihn hier haben, obwohl ich weiß, dass es ihn verfolgen wird, mich sterben zu sehen. Es wird ihn verfolgen, wegen genau dieser Beichte.
Ich erzählte ihm, was sich damals abgespielt hatte, als meine Frau starb.
Ich kam in das Zimmer, in unser Wohnzimmer, und sah die beiden Frauen Jules und Vera tot da liegen, puppenartig und voll Blut. Sarah stand über ihnen mit der Waffe in der Hand, die sie immer noch zitternd auf die beiden richtete. Dann bemerkte sie mich und starrte mich voll Entsetzen über ihre eigene Tat an. Das war ein Blick, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. So voll Schmerz, Angst und Verwirrung. Und er suchte verzweifelt nach Hilfe, nach Sinn in meinen Augen. Ich wünschte, ich hätte diesen Blick nie
gesehen. Ich wünschte, ich wäre nicht Schuld an diesem Blick. Sie hatte die beiden erschossen. Meine Sarah, der verständnisvollste und wunderbarste Mensch auf Erden, hatte so etwas getan und zwar wegen mir. Ich hatte sowohl mal mit Jules als auch mit Vera geschlafen und das hatte sie anscheinend herausgefunden oder diese beiden Hexen hatten es ihr reingedrückt. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe, aber ich glaube, es war egoistische Schwäche. Ich könnte behaupten, es ist geschehen, weil Sarah am Anfang unserer
Beziehung, als wir noch nicht verheiratet waren, mal einen anderen geküsst hatte, wobei ich sie erwischt und es ihr nie wirklich verziehen habe, aber das wäre nur eine unbefriedigende Begründung und nicht die Wahre. Die Wahrheit ist, ich war ein egoistischer, gedankenloser Dreckskerl. Ich konnte die beiden, Jules und Vera, nicht mal leiden und trotzdem habe ich es getan.
Ich habe einen Engel gestürzt.
Sarah sah mich an und nahm die Waffe an ihren Kopf. "Nein, nein. Tu das nicht", schrie ich, aber es war zu spät. Mein Engel blies sich den Kopf weg und sackte vor mir zusammen. Ich habe nie, auch nicht alle meine Schmerzen addiert, so gelitten, wie in diesem Moment. Und ich wusste, das war meine Schuld. Meine allein. Ich wusste aber auch, dass das Gesetz, die Gesellschaft und die meisten Menschen mich von jeder Schuld lossagen würden und das sie Sarah als Mörderin, vielleicht sogar als Wahnsinnige,
abstempeln würden. Das konnte ich nicht zulassen. Was wussten die schon. Die hatten Sarah nie gekannt und sie hatten diesen Blick in ihren Augen nicht gesehen, aber ich schon. Deshalb nahm ich die Waffe aus ihrer Hand und setzte mich hin, deshalb gestand ich den Dreifachmord im Gerichtsaal und deshalb sitze ich jetzt auf diesem Stuhl. Ich büße nach eigenem für das, was ich Sarah angetan habe, und ich habe dafür gesorgt, dass ihr Name und die Erinnerung an sie in Ehren gehalten werden. Was kümmert's mich, wie
die anderen richten würden oder was sie von mir denken. Wichtig ist nur, dass Sarah und mir Gerechtigkeit widerfährt.
Aber ich hab dennoch Angst vor dem Sterben, weil ich schwach bin, und deshalb will ich, dass einer dabei ist, der die Wahrheit kennt. Der Priester, der die Beichte wollte, der die Wahrheit kennt und sie niemandem erzählen darf.
Ah, der Priester ist da. Wir fangen an. Tony sagt mir, vorschriftgemäß, dass ich zum Tode verurteilt wurde wegen dreifachen Mordes und jetzt durch Elektrizität zum Tode gebracht werde. Er fragt nach letzten Worten, aber ich habe keine. Und jetzt drückt Reinert den Knopf und ich habe noch Zeit für einen letzten Gedanken, für ein Bild.
Das Bild zeigt das erste Mal, das ich als Mann geweint habe. Es war mein Hochzeitstag und Sarah sah mich, über das ganze Gesicht grinsend, an und sagte: "Ja, ich will."
Eingereicht am 12. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
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