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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Tsunami

© Miriam Afting


Es brauchte nur einige Minuten an einem sonnigen Morgen am Strand um mein Leben zu einem Desaster werden zu lassen, ein paar unverfängliche Fragen, denen ein, zwei unangekündigte Fotos vorausgegangen waren, die man von mir machte, als ich noch nicht ahnte, dass mich das Ganze auf eine lächerliche Farce reduzieren würde, mein Leben ähnlich und doch ganz anders verstümmeln würde als das Hunderttausend anderer innerhalb weniger Minuten ein paar Tage zuvor verstümmelt worden war, in einer monströsen Flutwelle, die anschließend als Jahrhundertkatastrophe um die Welt ging.
Glücklicherweise, wenn man so sagen darf, war Weihnachten und der Zeitpunkt für eine solche Katastrophe denkbar günstig, die Leute in den reichen Ländern spendeten, was das Zeug hielt und die Frontmänner aus Politik, Religion und Wirtschaft steuerten eine neuerliche Flut, diesmal an Rhetorik bei, die zumindest ihren Zweck erfüllte. Die Stimmung wurde der nach einem verlorenen Krieg immer ähnlicher, nur dass man sich diesmal keiner Schuld bewusst zu sein brauchte, lediglich Betroffenheit einte die Bürger und ließ die Spendenkassen klingeln. Ich habe absolut nichts dagegen, Hauptsache ist, dass es den ständigen Bewohnern der ehemaligen Paradiese Hilfe bringt und auch dann noch bringen wird, wenn keine Bilder von aufgedunsenen Leichen und wie Kartenhäuser zusammengefalteten Bretterhütten das Elend der Menschen mehr sicht- und damit unmittelbar machen. Ich bedaure nur etwas die seit Jahrzehnten ununterbrochen von Dürren, Diktaturen und Kriegen heimgesuchten Völker des afrikanischen Kontinents, die sich nun auf eine vorübergehende Spendenflaute einstellen müssen, denn aus den Augen - vielmehr aus Zeitung, Funk und Fernsehen - aus dem Sinn, so funktioniert der Durchschnittseuropäer und die Bush-Nation, wie man heut zu wissen meint, ja sowieso. Ich selbst muss es am besten wissen, denn ich bin auch einer, will sagen Europäer, und noch mehr, kann ich doch mit etwas aufwarten, das mich zu einem leider nicht wirklich vernichtenden Urteil gegenüber der selbstgerechten Presse berechtigt, die Not und Elend erst dazu macht, zum Aktionsfeld erhebt, auf dem die Reichen ihr Gewissen beruhigen und sich ihres selbstverständlichen Vorteils immer wieder neu erfreuen können, wenn sie es nicht der Quote wegen ignoriert und damit einer Grauzone übereignet, von der man einmal nichts weiß und dann auch nichts mehr wissen will. Ist man bereit diesen beschämenden Mechanismus zu erkennen und schließlich anzuerkennen - auch unter der Gefahr sein "Geiz ist geil"-Lebensmotto aufzugeben -, dass man selbst ein kleines, doch die ganze Lügenkiste mit tragendes Rädchen ist, dann will ich nichts gesagt haben. Mahnende Worte gelten nur denen, der Mehrheit mithin, die zu sehr mit der konjunkturellen Misere im eigenen Land beschäftigt sind um noch imstande zu sein über den Rand ihres eigenen, vermeintlich leeren Tellers zu schauen, ansonsten liegt mir der erhobene Zeigefinger nicht sonderlich, nur in diesem Fall - ja, hier bin ich selbst betroffen, nicht direkt, aber auf Umwegen und zwar auf ganzer, vollkommen unvermuteter Linie.
Man kann nun bereits ahnen, dass ich dabei war, Augenzeuge war an jenem Tag, wo zwei Erdplatten beschlossen miteinander auf Tuchfühlung zu gehen, sich vielleicht einsam gefühlt hatten oder meinten es den größenwahnsinnigen Erdenwürmern einmal zeigen zu müssen, was jetzt zynisch klingen mag, ich weiß, doch erst heute, wo mir der Zynismus vergangen ist, aber nicht an jenem Tag, der für mich und meine neuen "Freunde" der schlimmste Tag unseres Lebens hätte sein sollen wie für viele andere auch. Aber wir hatten ja Glück, unverschämtes Glück, befanden uns zum Zeitpunkt der ersten Welle auf dem Rücken einiger Elefanten, deren runzlig graue Haut tiefe Falten schlug, in die wir unsere Schienbeine drückten um uns als richtige Männer, die wir da noch waren, nicht die Blöße geben zu müssen einem schmählichen Sturz überaus nah zu sein. Diese Elefanten, die wir kaum als intelligente Lebewesen wahrnahmen, so teilnahmslos verrichteten sie ihre Aufgabe uns einen unvergesslichen Tag auf ihrem Rücken zu bereiten, retteten uns dann sehr wahrscheinlich das Leben, als sie, sobald sie mit ihren von der Zivilisation unversehrten Instinkten die nahende Gefahr spürten, samt ihrer unfreiwillig geschulterten und durchgeschüttelten Last den nächsten Hügel hinauf rannten, ohne, Gott sei dank, auf deren Stockschläge und Schreie Rücksicht zu nehmen, wahrscheinlich trieb sie unsere Angst nur noch mehr an. Wir bekamen nicht einmal nasse Füße.
Dass ein großer Teil der anderen Hotelbewohner, die es morgens an den Strand oder nur bis zum Pool gezogen hatte, am Abend nach der Welle weitaus Bedenklicheres als nasse Füße aufwiesen, traf mich mehr, als ich sagen durfte um nicht die Regeln zu verletzen, die wir unter uns, in unserem Grüppchen, unausgesprochen befolgten und von denen die wohl Wichtigste es uns verbot, den anderen zu nahe zu kommen. Dass auch hier, inmitten von Zerstörung und Tod, Betroffenheit und Entsetzen tabu waren, entschied sich in dem Augenblick, als - nachdem alles schon vorbei war und für mich erst begann - der erste von uns den Mund aufmachte und sagte: "Was für ´ne Riesenschweinerei - und wer soll das alles wieder saubermachen rechtzeitig? Mann, in ´n paar Tagen geht doch mein Rückflug!"
Er war wirklich empört, aufgebracht, und da versteht sich, dass ihm der Realitätssinn abhanden kommen musste und da versteht sich auch, dass damit der übliche, nicht nur für mental eingeschränkte, sondern für sämtliche an Megalomanie leidende junge Männer typische Teufelskreis in Gang gesetzt war, der es uns auch im Folgenden verbot das Steuer noch einmal herum zu reißen. Jetzt galt es durchzuhalten, cool und überlegen das Gesicht zu wahren, sein miserables und verdammt verunsichertes Innenleben unter Verschluss zu lassen und auch sich selbst gegenüber niemals in Kategorien von Zweifeln und Angst zu palavern, denn das war Part derjenigen, die das Wasser als Verletzte, Traumatisierte oder Heimat- und Familienlose wieder ausgespuckt hatte, unser Part war es den Schein von Fun und Relax zu wahren und von einer Stärke, die wir mit Anmaßung verwechselten. So nahm also mein Schicksal seinen Lauf, parallel zu dem hunderttausend anderer Menschen, wenn auch auf kaum vergleichbare Weise, denn so sehr ich nun auch die Boulevardpresse verfluche und ihr die Schuld an meiner Misere in die Schuhe schiebe, so gut weiß ich doch, und in lichteren Momenten wie diesem bekenne ich mich dazu, dass ich mir diesen Schuh selbst angezogen habe.
Ich tat es sozusagen, als ich mir an einem Morgen einige Tage nach Weihnachten und der Flut die Badelatschen wieder anzog, die Kühltasche zuversichtlich mit Bier füllte - denn an mir war es uns mit dem zum Relax notwendigen Nass zu versorgen, was wir sicher dringender benötigten als wir uns eingestehen wollten - und gutgelaunt zum Strand ging, der jetzt paradoxerweise noch weißer, sauberer, unberührter erstrahlte als vor der Katastrophe. Die anderen würden mich dort treffen, ich wusste ich würde der Erste sein, wie immer, denn mit dem Frühstücksbuffet konnte ich nichts anfangen, kriege morgens nichts runter, eine alte Gewohnheit, die mir an jenem Tag zum Verhängnis werden sollte. Ich war nämlich nicht allein am Strand. Es gab neben mir eine kleine Gruppe leger gekleideter Menschen, denen man das Berufliche schon von weitem ansah, sie waren nicht hier um Urlaub zu machen, sondern um weiter zu kommen auf der Karriereleiter, im Nachhinein sehe ich das alles glasklar, hätte gleich ablehnen sollen, entweder aus mangelnder gegenseitiger Sympathie oder gar aus Vernunft, aber die Sonne und ein Bier auf nüchternem Magen hatten sie mir ausgetrieben, und so konzentrierte ich mich gleich auf die ebenfalls leger gekleidete Assistentin, die das Mikro in mein Gesicht hielt und mir dabei so nah kam, dass ich ihr Deodorant riechen konnte, was mich nicht nur überhaupt nicht störte, sondern fatalerweise auch meine Zunge löste. Ich wollte schlichtweg nicht, dass das Interview vorbei ging, so einfach ist das, zumal die Flutwelle nicht nur Existenzen, sondern, und das erschien uns als das wahre Drama, auch unsere Flirtmöglichkeiten mit sich fortgerissen hatte.
Schon längst, noch vor Beginn des Interviews, hatte der Fotograf seine Arbeit getan und mich abgelichtet, ungefragt und vollkommen selbstverständlich, so dass ich wirklich annahm, es müsse wohl so sein, ich dürfe mich jetzt nicht anstellen wie ein Vollidiot, was ich ja eigentlich die ganze Zeit tat, sondern ganz souverän und locker das Ding über die Bühne bringen, und danach vielleicht die Assistentin um ihre Handynummer bitten oder so, das würde sie mir dann sicher auch nicht mehr abschlagen. Hat sie aber natürlich doch, was mir wie die zweite Katastrophe vorkam, verheerender als die, weswegen diese Gruppe hektischer und Anteilnahme wofür auch immer heuchelnder Käseblattjournalisten überhaupt gekommen war. Ich war ein wahres Arschloch, ich muss es sagen und vielleicht habe ich es nicht besser verdient, aber eines weiß ich: Wäre ich allein auf der Insel gewesen, hätten mich meine neuen "Freunde" nicht schon am ersten Abend in der Hotelbar aufgegabelt, wäre nichts von alldem passiert, hätte ich nicht vollkommen den Verstand verloren, sondern in angemessener Betroffenheit meine Sachen gepackt und die nächste Möglichkeit genutzt zurück ins sichere Europa zu fliegen; und hätte mir nicht eingebildet, wie in einer futuristischen Fiktion, inmitten von Tod und Zerstörung Urlaub machen zu können und auch noch Spaß dabei zu haben, und hätte mich nicht mit einer Bierdose in der Hand unter einem bunt gestreiften Sonnenschirm mit einer verflucht eingelaufenen Badehose auf dem Leib, der vom ständigen Bierkonsum inzwischen aufgedunsen war wie die Leichen, die man zu der Zeit noch täglich aus dem Meer zog, und der zudem beeindruckend lange Hautstreifen abwarf, die ich den für Europäer verheerenden UV-Strahlen zu verdanken hatte, fotografieren lassen, ganz zu schweigen von meinen Worten, die in prahlerischem Ton eine Story von wundersamer Rettung durch wild gewordene Elefanten zum Besten gaben und die hehre Absicht bezifferten, sich von alldem aber auf keinen Fall abschrecken zu lassen, den Tourismus hier weiterhin heroisch zu fördern und sogar gewisse, wohlberechtigte Ansprüche als Hotelgast selbstlos zu mindern, natürlich nur aus Solidarität mit den betroffenen Dienstmädchen und Kellern. Ja, hätte ich nur geschwiegen an jenem Tag, als sich die Achselhöhle der Assistentin und das Bier in meiner Hand gefährlich nahe kamen und mich zu einem verabscheuenswürdig ignoranten Egomanen, einem abstoßenden Sextouristen machten, denn dass ich wohl einer sein musste, konnte man hinterher in dem Boulevardblatt nachlesen, für das die Crew berechnender Heuchler gearbeitet hatte und das leider kein Blättchen war, sondern der populärste Stimmungsmacher in der liberalen Presselandschaft meines Heimatlandes.
Und Stimmung machten meine noch zusätzlich vom Redakteur frisierten Worte und die Bilder eines typischen Sextouristen allemal, eine Stimmung, die mich gleich nach meiner Ankunft am Flughafen voll erwischte und umso härter traf, als ich noch mit einem "Hoch soll er leben", "Herzlich willkommen zuhause" oder Ähnlichem rechnend dort ankam, naiv und noch immer in meiner stumpfen Junggesellen-Inselwelt verhakt, die mich alles kosten würde, schon gekostet hatte, dessen ich mir immer so sicher gewesen war. Aber davon wusste ich noch nichts, denn seit der Welle war Internet auf der Insel rar geworden und man musste sich mit einer nicht ganz unangenehmen Uninformiertheit abfinden. Es war einsame Insel pur.
Das war ich also bis zu der Sperre, die die Ankunftsterminals vom Warteraum trennte, bis ich die Gruppe von Menschen nicht finden konnte, die mich eigentlich hätte abholen sollen, aber niemand war da, weder im Wartebereich noch auf den Parkplätzen, die ich beharrlich abklapperte, an einen Scherz glaubend, aber nein: keine Freundin, keine Eltern, kein Bruder. Es hätten nicht alle auf einmal kommen müssen, mitnichten, denn sie wussten ja, dass mir nichts geschehen war, dass ich nicht einmal einen Kratzer hatte von der Riesenwelle, denn wir hatten über Handy telefoniert, noch am selben Tag, weil die Telefonnetze zusammengebrochen waren, und danach hatte ich noch ein paar SMS geschrieben, auch ein paar Antworten erhalten, sogar von meiner Freundin, obwohl es vor meiner Abreise nicht gut lief zwischen uns, weswegen ich auch allein geflogen war, und ich hatte gehofft, dass sie jetzt, wo ich nur knapp dem Tode entronnen war, einsehen würde, was sie an mir hatte, wie viel ich ihr noch bedeutete, dem Tsunami sei Dank, hatte ich gedacht, nach einer ihrer sehr emotionalen SMS. Und obwohl ich selbst auf der Insel bleiben wollte, durchhalten wollte bis zum offiziellen Ende meines teuer bezahlten Urlaubs, bis auch meine "Freunde" zurück in ihre Heimat fliegen würden und unser fataler Bund sich auflösen würde, sah ich mit freudiger Erregung meiner Rückkehr entgegen, denn alle würden mich nun einfach dafür lieben, dass ich noch lebte, während so viele andere es nicht mehr taten. Wusste ich selbst eigentlich auch nur einen Moment lang zu schätzen, dass es mich noch gab? Wahrscheinlich nicht, ich hatte es für selbstverständlich gehalten, einfach weil ich mir das Gegenteil nicht vorstellen konnte.
Niemand war also zum Flughafen gekommen um mich in seine Arme zu schließen, und hier erst verlor ich schließlich den Boden unter den Füßen, lange nach der Riesenwelle. Ich leistete mir ein Taxi, kein Luxus in meiner zukünftigen Funktion als Direktor einer internationalen Bank und doch Luxus, solange ich noch Student der Wirtschaftswissenschaften war, ein Luxus, der mich nach wegen Feierabendverkehr einstündigen, sonst dreißigminütigen Fahrt über die Schnellstraße bis vor das Haus meiner Eltern brachte. Ich hatte nicht sofort in meine Wohnung gewollt, sondern mir erst Klarheit verschaffen und begann bei meinen Eltern, von denen ich schlechte Nachrichten weniger befürchtete als von meiner vielleicht nun wieder Ex-Freundin. Das Taxi kostete mehr als mein Portemonnaie nach dem Urlaub noch hergeben wollte und ich vertröstete den Taxifahrer für die Minute, die ich brauchen würde um es zu holen, meine Eltern mussten ja zuhause sein, denn Licht brannte in der Küche und der Wagen stand vor der Garage, mehr als bereit mich vom Flughafen abzuholen. In mir spielten allerlei Gefühle Bäumchen-wechsel-dich, sprangen zwischen Empörung darüber, dass man hier seelenruhig in der Küche saß, während der verloren geglaubte und wiedergefundene Sohn allein am Flughafen stand, und Angst vor dem Grund dafür, hin und her. Zu allem Überfluss regnete es in Strömen, es war ein Wetter, das sich während der letzten zwei Wochen aus meinem Bewusstsein verabschiedet hatte und dessen Existenz ich nun kaum begrüßen konnte. Ich lief über den matschigen Gartenweg zur Tür, klingelte länger als nötig um meinen Handlungen schon im Vorhinein Nachdruck zu verleihen, und wartete mit geballten Fäusten, natürlich hatte ich nicht vor jemanden zu verprügeln, ich musste mich nur selbst daran hindern in Tränen auszubrechen. Mein Gott, was war ich für ein Schwächling, der noch am Tag davor mit seinen Kumpels den Abschied vom Paradies begossen hatte und dem blutjungen Zimmermädchen heldenhaft auf den Hintern geklopft, als es den Fehler beging dem feucht-fröhlichen Tischgelage zu nah zu kommen, man hatte es ihm mit grölendem Lachen honoriert und er hatte mitgelacht, zunächst, bevor er plötzlich rasch, sogar sehr rasch zur Toilette gemusst hatte, schon in ihre vermeintliche Richtung rannte und es dennoch nicht schaffte, es sowieso nie hätte schaffen können, denn es war ja die falsche Richtung, und sein halbverdautes, mit zwei Litern Bier fusioniertes Abendessen von jenem Zimmermädchen wegwischen lassen musste, ja, was für ein Kerl war das, was für ein Kerl... war ich.
Ich musste bedeutend länger klingeln als erwartet, meine Unruhe wuchs und als der Riegel zurück schnappte um die Gestalt meines Vaters im Türrahmen erscheinen zu lassen, wurde mir bewusst, dass man also schon abgeschlossen hatte für heute - und mit mir vielleicht auch, und das für immer. Er blickte an mir vorbei auf das Taxi, das ganz offensichtlich auf etwas wartete, dann drehte er sich um und griff nach seinem Portemonnaie, das wie immer auf dem Tischchen im Flur lag, damit er es nicht vergaß, wenn er das Haus verließ, und er gibt es mir ohne ein einziges Wort. Ich schweige ebenfalls und gehe zurück zum Taxi, der Regen durchnässt mich vollkommen, aber ich beeile mich nicht, wozu auch, etwas Schlimmeres steht bevor und das muss hinausgezögert werden. Ich bezahle und ziehe meine Reisetasche vom Rücksitz, schleiche mit gesenktem Blick zu meinem Vater zurück, der sich nicht gerührt hat, trete wortlos ein und lasse meine Tasche auf den Boden gleiten, nur keinen Lärm machen, keine Aufmerksamkeit erregen, ich würde gern unsichtbar sein, fühle mich wie ein Schuljunge, der mit einem schlechten Zeugnis nach Hause kommt und sich nun rechtfertigen muss, doch vor allem spüre ich, dass ich eigentlich kein Recht mehr habe hier zu sein, dass etwas zerbrochen ist und nur ich noch nicht weiß, was es gewesen sein könnte. Meine Furcht wächst, und heute denke ich, dass dies der schlimmste Augenblick von allen war - der der totalen Ungewissheit. Ich werde ganz ruhig, aber auf eine Weise, die der Ruhe vor einem Sturm ähnelt, einer Ruhe, wie sie auch an jenem Tag vor eineinhalb Wochen geherrscht haben muss, von der aber kaum jemand etwas mitbekommen hat außer den Tieren und Ureinwohnern, weil man sich sicher glaubte als zivilisierter Mensch. Jetzt erst spüre ich die gefährliche Stille, die sich über das Zimmer gelegt hat und alle Laute unerträglich laut macht. Meine Mutter nimmt eine Zeitung aus der Schublade, ich erkenne mich selbst auf dem Titelblatt, doch sie hält sie mir nur hin und sieht dabei durch mich hindurch, als gäbe es mich bereits nicht mehr, als hätte sie mich schon verloren und sich auch damit abgefunden. Verflucht, das war der zweitschlimmste Moment.
Der Drittschlimmste kam am ersten Tag in der Uni, wo kurz vor einer Vorlesung alle, selbst der Professor, wie auf ein geheimes Zeichen hin verstummten, als ich, in diesem drittschlimmsten Augenblick also, die Saaltür öffnete, zu spät war, weil ich lange nicht den Mut aufbringen konnte hinzugehen, mir erst gut zureden musste, mir sagte, welcher Student lese denn schon dieses Schmierenblatt, niemand werde etwas davon wissen, alles werde wie immer sein, doch ich irrte mich einmal mehr, nichts war und ist wieder geworden wie es gewesen war. Sogar der Chef der Pizzeria, in der ich mir meinen Strandurlaub verdient hatte, wusste gut genug Bescheid um sich ein Urteil zu bilden und mich zu entlassen, aber das habe ich noch am besten verkraftet, ich erfuhr es gleich am ersten Abend von meinem Vater, den er angerufen hatte und an meiner Stelle beschimpft - von einem Scheiß-Itaker, sagte mein Vater, was meiner Sache nicht gerade zuträglich war. Meine Mutter weinte die ganze Zeit, ganz ohne Tränen zu vergießen, eben wie eine Mutter, die wie es sich gehört um ihr Kind trauert, sich aber nicht offen gehen lassen will und lieber den Schmerz in sich hineinfrisst und daran erstickt. Ich wünschte sie hätte mich angeschrieen oder geohrfeigt, aber ich existierte ja nicht mehr für sie, obgleich ich sehr lebendig vor ihr stand, ihr ausdrucksloses Gesicht ertragen musste und begriff, dass das Ganze wohl sehr, sehr lange dauern würde. Dann rief ich mir wieder ein Taxi, es war kurioserweise dasselbe wie vorher, vielleicht hatte der Fahrer schon geahnt, dass ich nicht lange bleiben würde, und irgendwo in der Gegend auf den Ruf gewartet. Meine Freundin habe ich übrigens weder gesprochen noch je wieder gesehen, diese eine Konfrontation habe ich mir dann doch erspart.
Doch auf eine andere ließ ich es ankommen: die mit der Zeitung, der ich mein Dasein als lebender Toter zu verdanken hatte und gegen die ich eine historische Klagewelle plante, bis mir der Anwalt schließlich erklärte, dass ich mit Erfolg kaum rechnen könne, denn das Meiste hätte ich ja tatsächlich so oder ähnlich gesagt, wie es auch zu lesen gewesen war. Und der aufgeschwemmte Typ mit Sonnenbrand und knapper Badehose auf dem Foto war ja wohl auch eindeutig ich, oder?! Ich wollte protestieren, mich wenigstens einmal verteidigen dürfen, denn heute sei ich doch wieder ein ganz anderer, sähe inzwischen auch wieder ganz passabel aus, sei wieder zurechnungsfähig und nicht allzu dumm, ein potentieller Bankdirektor eben, aber natürlich sprach ich das nicht aus, war mir auch nicht mehr sicher, dass das mit der Karriere noch klappen würde. Nach dem ernüchternden Gespräch spendete ich das restliche Geld vom Pizzabacken für die Flutopfer, wie sie die Presse nannte, und las innerhalb kürzester Zeit mehr seriöse Zeitungsartikel und Hintergrundberichte als je zuvor in meinem Leben, versuchte mir eine Meinung zu bilden, über die Medien, die Opfer, die Helfer, die Spender, vor allem aber über die Touristen, die sich geweigert hatten Respekt vor dem Unglück anderer zu zeigen.
Und nachdem ich mich so mehr oder minder geläutert fühlen durfte, wurde mir auch immer klarer, dass es die Schwarz-Weiß-Welt, die man den Menschen so erfolgreich vorgaukelt und die eine stark beschnittene Fassung der Wirklichkeit ist, die von den Medien in eine zu enge Schablone gepresst wird, zwar nicht genauso gibt, dass aber doch immer ein stückweit Wahrheit, die ja bekanntlich Ansichtsache ist, darin stecken muss um sie den Menschen erst als glaubhaft servieren zu können. Denn niemand möchte sich gern für dumm verkaufen lassen, mit Ausnahme der amerikanischen Mehrheit vielleicht, wie man ja zu wissen meint. Dass die Presse sich dazu eingängiger Botschaften bedient mit ihren Bildern von Bier trinkenden Wohlstands-Touristen an weißen Sandstränden mitsamt Hotelruinen-Kontrast im Hintergrund und angeblichem Original-Wortlaut, den sie Menschen in Extremsituationen entreißt und sensationspublikumsfähig macht, liegt nahe. So und nicht anders kann die Kombination Öffentlichkeit-Medien schließlich nur funktionieren.
Nur kann ich mich nicht mehr mit diesen lebensspendenden und -zerstörenden Kreisläufen abfinden, mit dieser Mühle, in die ich hineingeraten bin und die mich herausgerissen hat aus dem anonymen, richtenden weil moralisch unanfechtbaren Publikum, das sich am Verhängnis einer anderen, nicht ihrer Welt delektiert, und mag sie noch so unmittelbar vor ihrer Haustür liegen. Ich weigere mich mein letztes Wort dazu gesprochen zu haben, auch wenn es alle gehört zu haben meinen, und auch wenn es mich eigentlich nicht mehr gibt seitdem - werde ich eben ein anderer, um wieder Gehör zu finden.



Eingereicht am 10. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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