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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Solotrekking - ein Reisetagebuch

© Selket Bendereit


02. August 2003
Ich sitze im Zug und frage mich, wie ich meinen mindestens fünf Tonnen wiegenden Rucksack drei Wochen lang durch Norwegen tragen soll. Fühle nichts. Keine Freude, keine Trauer, einfach nichts. Bin müde, mir ist zu warm und ich hätte gerne einen Hund dabei, dann würde es nicht so aussehen, als ob ich Selbstgespräche führte.
06. August 2003
Ich habe übrigens gestern auf der Straße ein Sitzpolster von Gartenstühlen gefunden und es gerade mit dem Messer in zwei Stücke zerlegt. Zum Zelt sauber und trocken machen ist dieses wohl doch eher geeignet als der Plüschelch, den ich dabei habe. Schwein gehabt, du Plüschvieh. Aber für dich finde ich noch eine andere Aufgabe als nur dekorativ an meinem Rucksack zu hängen. Du könntest Geschirrabtrockner werden, dazu hatte ich bis jetzt mein Handtuch genommen.
Ob mein Gas reicht? Schon wieder so eine nicht zu beantwortende Frage in meinem Leben.
10. August 2003
Mein Weg führte mich heute (laut Karte) über zwei Fußgängerbrücken, die nur im Sommer passierbar sind. Die erste sah wirklich abenteuerlich aus. Bis zur Mitte des reißenden Flusses fiel sie steil ab, um ab dort ebenso steil wieder in die Höhe zu zeigen. Auf dem Hintern rutschen, Gleichgewicht halten und Herzflattern war angesagt. Die zweite Brücke konnte mir keinen Schreck einjagen, denn sie war schlicht und einfach nicht vorhanden. Abgesehen von ein paar verdrehten Metallteilen am anderen Ufer vielleicht. Hindurchwaten? Bei der Strömung? Bei den glitschigen Steinen? Mit 20 Kilo Gepäck? Ein Gedanke jagte den anderen.
Was tun? Trocken komme ich hier nicht rüber, nicht ohne Hilfe. Kaum hatte ich das gedacht, nahte ebendiese in Form eines Hünen von Vater mit seinem nicht ganz so kräftig gewachsenen Sohn. Erst verfrachtete er meinen Rucksack auf die andere Uferseite, als wöge er nichts und ich folgte auf die gleiche Weise. Ziemlich verwirrt über den schnellen Ortswechsel ohne ein Wort gesagt zu haben, stotterte ich viel zu spät ein "thank you" hinter den beiden her. Zu diesem Zeitpunkt fragte ich mich: Kann ich überhaupt zurück? Würde mir noch mal jemand helfen...?
Wie auch immer, frohen Mutes ging ich weiter und kam zu einem netten, großen Altschneefeld.
"Hallo, Selket!" grinste es mich an.
"Hallo, Schneematsch." Brummte ich zurück und machte mich an seine Überquerung. Einfach den vorhandenen Fußspuren folgen und darauf hoffen, dass meine Vorgänger (im wahrsten Sinne des Wortes) den sichersten Weg kannten. So wie es aussah, kannten sie allerdings nur den Kürzesten. Macht nichts. Hauptsache laaaaangsam. Voooooorsichtig.
Dann war der Schnee plötzlich nicht mehr weiß, sondern durchsichtig.
Und ich hörte Wasser unter meinen Füßen plätschern. Gar nicht gut! Aber die Fußspuren führten schnurstracks, als sei das unwichtig, auch darüber hinweg. Noch langsamer und noch vorsichtiger setzte ich meinen Weg fort.
"Na, Bock auf eine lustige Talfahrt?" hörte ich des Altschneefeldes garstige Stimme.
"Danke nein, ich bin im Allgemeinen nicht für Freizeitgestaltung dieser Art, deshalb ziehe ich Wanderungen auch den örtlichen Vergnügungsparks meines Heimatlandes vor." Antwortete ich.
Bloß den Reflex unterdrücken, die Schuhkanten in die Eisschicht zu hauen! Und darauf hoffen, dass das Schneefeld meine Erklärung akzeptiert! Es waren allerhöchstens fünf Minuten, die ich gebraucht habe, um über diese Stelle zu kommen, aber innerhalb dieser fünf Minuten gab es eine hundertstel Sekunde, die ich brauchte, um zu beschließen, dass ich hundertprozentig einen anderen Weg zurück nehmen würde. Dieses Schneefeld kannte ich jetzt. Andere noch nicht und ich konnte ja zumindest hoffen, dass es auch dabei bleiben würde.
20:17 Uhr.
Gegend anstarren zwecks Erholung.
21:36 Uhr.
Ich weiß jetzt, was ich tun muss, damit mir warm wird: in den Schlafsack kriechen und die Beine und Füße aneinander reiben. Allerdings komme ich mir blöd dabei vor, weil meine Schuhe mich beobachten und muss lachen.
(Es ist soweit, ich fange an, mit Gegenständen zu reden. Meinst Du, das ist schlimm, mein lieber Rucksack?)
Ein paar Tage später.
Scheißtag! Darf man in Büchern eigentlich fluchen? Egal. Scheißsonne, Scheißwasser, Scheißsteine, Scheißalles. Um 15:00 Uhr hatte ich meinen Soll an Weg für heute erfüllt aber mein Zelt steht erst seit einer knappen dreiviertel Stunde. Meine Lage kann ich nicht genau bestimmen, aber zumindest ist der Weg, auf dem ich mich befinde, immer noch mit einem roten "T", der allgemein gültigen Kennzeichnung für norwegische Wanderwege, gekennzeichnet. Und wenn auch hier die Sonne im Westen untergeht, bin ich sogar in der richtigen Richtung unterwegs. Ich fühle mich beschissen einsam, aber Heimweh habe ich nicht. Die Nacht wird eine Rutschpartie, ich konnte einfach nicht weiter und habe den einzigen einigermaßen ebenen Fleck zum Zeltaufbauen genommen, den es hier im Umkreis von fünf Kilometern zu geben scheint. Allerdings ist er etwas abschüssig. Nachdem mein schiefes Heim stand, habe ich im nahe gelegenen See ein Bad genommen. Lange bin ich keiner Menschenseele mehr begegnet. Es ist schweinekalt und saugut im Wasser!
Wenn ich "Wuppertal" sage, klingt es falsch, wie ein Misston in meinen Ohren, ich lege sie an wie ein Wolf, kneife die Augen zu und schüttele mich, um dann müde über das zu lächeln, was langsam aus meiner Erinnerung verschwindet: Viele Menschen, graue Häuser und - was habe ich dort getan? Studiert. Seltsames Wort. Hier muss ich nur laufen, essen, schlafen. Gut fürs Wolfsherz.
21:23 Uhr.
Wolf wird jetzt von fetten Schafen träumen.
12. August 2003
Der Eintrag in meinem Tagebuch ist blau, nicht mehr grün wie sonst. Ich bin um halb fünf in Tyssevasbu, einer unbewirteten Wanderhütte, angekommen. Es war ein recht abwechslungsreiches Wegstück. Ich bekam Steine zu sehen. Außerdem Steine, Steine und Steine. Ab und an auch mal einen Stein. Meine erste Amtshandlung nach der Ankunft war Pfannekuchen machen und sie mit Pfirsichen aus der Dose belegt zu essen. Ein Fehler war wohl, mir direkt nach dem köstlichen Mahl die Plumpsklos anzuschauen. Man kann geradewegs auf den riesigen Scheißhaufen gucken, wenn die Fliegen einen lassen. Im See, der direkt neben den zwei Hütten hier liegt, habe ich mich und meine Klamotten gewaschen. Diese hängen jetzt hier auf der Leine, ich bin schon trocken. Ob heute noch jemand vorbei kommt? Bis jetzt bin ich ganz alleine. Ich habe ein Buch auf Englisch gefunden, nachdem ich diverse norwegische Zeitschriften durchgeblättert und die Witze nicht verstanden habe.
22:28 Uhr.
Nein, ich schlafe immer noch nicht. Ich habe nach dem üppigen Pfannekuchenmahl schon wieder Hunger und koche mir aus meinem Vorrat Reis mit Gemüse, angereichert mit Haferflocken und roten Mückenlarven.
Letztere habe ich aus Faulheit nicht aus dem Wasser gefiltert, aber sie ändern auch nichts an dem faden Geschmack der Mahlzeit.
13. August 2003
Elf Stunden Fußmarsch. Erst Steinwüste, dann der stundenlange Abstieg.
Jetzt befinde ich mich auf ungefähr 100m über NN, angefangen hatte ich gestern irgendwo bei 1400. Der Weg war zwischenzeitlich immer wieder verschwunden, oft irrte ich umher, immer größere Kreise um das letzte sichtbare Steinmännchen ziehend, bis ich zufällig den Blick hob und ganz oben auf einem Berg eines zu erkennen glaubte. Ich bin Strecken geklettert, um dieses heiß ersehnte Häufchen Stein zu erreichen, die mir bei Antritt meiner Tour schon ohne 20 Kilo Gepäck auf dem Rücken viel zu gefährlich gewesen wären. Wie beispielsweise dreißig Meter hohe, über 45° steile, mit losen Schieferplatten bedeckte Hänge mit strategisch fies gelegenen gefrorenen Schneefeldchen.
Irgendwann war es dann soweit. Ich stand in einer Senke, die im Winter wohl zu einem Schneefeld oder Gletscher mutiert. Keine Vegetation, nur silbrig-graue Steinplatten, alle gleichmäßig groß, nirgends konnte man durch kleiner zertretene Steine noch einen Weg erahnen. Der Nebel stieg langsam und böse aus dem Boden auf und kroch mit zittrigen und sich windenden Fingern auf mich zu. Kein Weg. Nirgends. Kein Steinmännchen.
Ich hatte mich verlaufen. Ich irrte lange und viele Minuten noch voller Hoffnung umher, bis ich es aufgab. Mich ruhig irgendwo hinsetzen konnte ich nicht. Meine Gedanken rasten, ich rechnete mir schon aus, wie viele Tage ich mit meinem Essen auskommen würde, während ich unruhig auf und ab ging und mir der Ernst meiner Lage so richtig bewusst wurde. Tränen stiegen mir in die Augen. Wütende Tränen. Ich war richtig sauer auf mich, mich in so eine beschissene Situation gebracht zu haben.
Schließlich zückte ich den Kompass, denn wer braucht schon einen Weg wenn er weiß, in welche Himmelsrichtung er muss, und kletterte auf gut Glück in schweißtreibender Millimeterarbeit eine Schotterwand hinauf.
Kaum stand ich oben, wäre ich fast über einen Wegweiser gestolpert. Der Schweiß, der mir durch das Gesicht lief, vermischte sich unwillkürlich mit den ersten Freudentränen meines Lebens.
Durch die sich kilometerlang hinstreckende Steinwüste wurde ich immer mehr zum Fährtenleser, zum Wolf. Die Sinne wurden unheimlich geschärft, teilweise lag der Weg so klar vor mir, dass es nicht besser hätte sein
können: Wo Menschen gegangen sind, liegen die Steine anders. Ein Winziger, runder Einstich eines Wanderstockes, ein Hauch von einem Schuhabdruck. Und das Gefühl, den Weg unter den Füßen zu haben. Wenn ich mal einen richtig deutlichen Fußabdruck zu sehen bekam, habe ich mich regelrecht erschrocken, weil mir der Anblick so ins Auge sprang.
Wie ein großes, leuchtendes Reklameschild mitten in der Einsamkeit einer Leere.
14. August 2003
Gegen 06:00 Uhr bin ich schon wieder wach. Ich bewege meine Beine etwas. Oh Gott, damit soll ich heute laufen? Ich bleibe liegen und beschließe, es später noch einmal zu versuchen. Nach fünf Minuten habe ich keine Geduld mehr. Es geht nicht besser, alles, wirklich alles schmerzt. Meine Schulter ist immer noch taub und meine linke Hand seltsam angeschwollen, sieht aus, als hätte ich Gicht. Rechts hinten am Rücken ist auch irgendetwas dick und schmerzhaft angeschwollen, ich glaube, ich bin ganz froh, dass ich es nicht sehen kann. Zum Frühstück gab es Kaffee und Marzipanschokolade. Zum Wasserholen musste ich allerdings aufstehen. Und dazu brauchte ich meine Beine. Ich bin nicht zum Waschhaus hinüber gegangen, sondern gehumpelt wie eine 90 Jahre alte, schwerkranke Frau. Nur langsamer. Auf dem Rückweg lief es dann schon etwas besser, es muss trotzdem abenteuerlich ausgesehen haben.
Die Leute, die schon wach waren, haben mich recht mitleidig gegrüßt.
Aber beim letzten Abstieg gestern war auch jeder Schritt ein einziger Schmerz und ein Hoffen, dass die Beine wenigstens noch so lange mitmachen, bis ich sichereren Boden unter den Füßen habe.
15.August 2003
Alles, was ich gestern über Klettern und Schinderei und Weg-nicht-finden geschrieben habe, ist hiermit nichtig. Es gilt für heute, nur vielleicht noch mit 73 multipliziert. Ich weiß nicht, wie viele Höhenmeter ich heute rauf gegangen bin, es waren sehr viele, denn ich habe geschlagene fünf Stunden dafür gebraucht. Ich schätze, ich habe kurz vor dem Ziel "aufgegeben". Es war mir egal. Diese fünf Stunden lehrten mich das Schwitzen, ohne meinen Rucksack wäre es schon anstrengend genug gewesen, aber schlepp mal Dein gesamtes Hab und Gut auf so einen Berg. Dabei wollte ich heute gar nicht viel gehen, nur wieder ein Stückchen in Richtung Nationalpark um von Odda weg zu kommen. Jetzt ratet mal, wo ich bin. Genau. In Odda. Auf dem Campingplatz. Und das für die nächsten zwei Nächte. Das habe ich meinen Füßen, meinen Knien und dem Rest meines Körpers versprochen. Die ganzen fünf Stunden kämpfte ich mich ohne Unterlass steil bergauf - und das größtenteils auf allen Vieren, weil die Steine nass und rutschig waren.
Links von mir ging die Wand hoch und rechts von mir steil bergab. Und damit meine ich wirklich steil. Ich habe mich an allem festgeklammert, was mir zwischen die Finger kam. Angefangen bei B wie Birkenstämmen bis B wie Brennnesseln. Irgendwann waren mir auch die einen Zentimeter großen Mega(A)meisen egal, die es dort massenhaft gab. Einfach reinfassen, Hauptsache, nicht runterfallen. Was es nicht massenhaft gab, war Wasser. Am Anfang meines Weges hatte ich ein Rinnsal überquert, auf der Hälfte der Strecke nach oben hatte ich die Ein-Liter-Flasche leer getrunken. Und bei jedem Schritt gedacht: "Es kann doch nicht mehr weit sein." Aber es nahm kein (schönes) Ende. Nur ein sehr Abruptes. Denn um kurz nach drei verlor ich den Weg aus den Augen. Meine Lage konnte ich sowieso nicht genau bestimmen, dafür war meine Karte a) zu ungenau und ich b) wohl zu ungeübt. Ich habe mich fünf Stunden lang hier hoch gequält mit der Aussicht auf die Einsamkeit der Natur, nur um festzustellen, dass ich nicht weiter komme? Ich setze meinen Rucksack ab und kraxele ein Stück ohne ihn weiter. Kein Weg.
Keine Fußabdrücke. Noch nicht einmal geknickte Grashalme habe ich gefunden - geschweige denn einen mit roter Farbe markierten Stein. Also Abmarsch zurück! Ich stellte mich darauf ein, die ganzen fünf Stunden zurück zu laufen. Besser, man kennt sein Ziel, weiß, wann man ankommt und vor allem, wo der Weg verläuft als dass man ständig hofft und hofft und enttäuscht wird. Angenehm überrascht war ich, als ich nach nur zweieinhalb Stunden wieder in Odda war. Ich habe unterwegs wirklich ungelogen zu Gott gefleht, dass ich nicht abstürze, dass meine Fuß- und Kniegelenke standhalten. Gestern war schon so ein Marathon-Tag. Und heute schon wieder! Ich habe geflucht, geheult, gefleht und gefürchtet.
Und mich ständig zur Ruhe ermahnt. Ein falscher Schritt, ein nicht gesehener Stein unter dem Gestrüpp oder einfach das kleinste Versagen meiner Beine hätte gnadenlos Absturz bedeutet. Also: ruuuhig! Lieber spät ankommen und leben, als schnell unten und nur noch Matsch auf spitzen Felsbrocken zu sein. Ohne Rücksicht darauf, dass alles nass und matschig war, habe ich einen Großteil des Weges auf dem Hosenboden zurückgelegt, die Vorteile liegen auf der Hand: der Schwerpunkt ist tiefer und die Gelenke werden geschont. Ich habe mir schließlich selbst das Weinen verboten, weil es nur zusätzlicher, unnötiger Wasserverlust gewesen wäre. Denn der Schweiß lief nur so an mir herunter. Zu Pausen musste ich mich zwingen, gegen das Gefühl ankämpfen, immer schneller zu werden auch, es war ein einziger Horrortrip. Als ich wieder Asphalt unter den Füßen hatte, habe ich gar nichts wirklich empfinden können, kann es immer noch nicht. Ich merke nur, dass sich ein großer Klumpen in mir befindet, der noch nicht gemerkt hat, dass die Gefahr vorbei ist. Mir ist nur unheimlich kalt, habe die lange Baumwollhose, ein T-Shirt und die Fleecejacke an. Alle anderen hier gehen in Shorts oder Rock mit dünnem Oberteil. Ich frage mich, wann ich aufatmen kann. Es ist mittlerweile 21:01 Uhr und ich habe seit heute morgen nichts mehr gegessen. Und zum Frühstück hatte ich eine halbe Tafel Schokolade.
Vielleicht noch so ein Grund, warum es mir so sch... geht. Ich habe keine Kraft mehr, um aufzustehen und zu kochen. Meine Knie schmerzen, sobald ich sie belaste. Sie pochen sogar dumpf, wenn ich hier nur liege, außerdem sind sie ziemlich heiß. Meine Füße tun auch weh, ich kann allerdings nicht sagen, wo. Ich glaube nämlich, ich habe gar keine Füße mehr sondern zwei Schmerzknubbel unter den Knöcheln.
Vorhin habe ich hier auf dem Campingplatz geduscht und Haare gewaschen.
Warmes Wasser von oben! Ich hätte nie gedacht, dass mich das mal so fasziniert. An den Händen habe ich Blasen vom Wanderschuhbinden und die Schuhe sind komplett nass. Außen, weil das Gestrüpp nass war und innen habe ich sie voll geschwitzt - der ganze Siff ist mir ja von allen höher gelegenen Körperteilen in die Schuhe gelaufen! Ebenso mein Gürtel, der auch aus Leder ist. Er trocknet gerade neben mir und der Schweiß hinterlässt salzige, weiße Spuren.
Gestern Abend während des Essens konnte ich mir den aufsteigenden Lacher nicht verkneifen und schließlich saß ich lachend und ungläubig über meine Naivität grinsend vor dem Topf Reis und sagte nur: "Selket, Selket, du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank." Denn da erst war mir aufgefallen, dass der Weg, den ich gewählt hatte, gepunktet eingezeichnet war... was auf vielen Karten so viel heißt wie "höchster Schwierigkeitsgrad". Autsch.
Aber damit war die Sache gegessen. Bis auf die Tatsache, dass ich mir heute sehr bewusst ist, dass ich bin. Dass ich immer noch gehe, esse, sitze, mir die Gegend anschaue. Einfache Dinge wie mir etwas zu kochen oder den Film in der Kamera zurückzuspulen sind nicht unbedeutender als schwierige, nicht so alltägliche Dinge. Das ist es, was mich dieser Urlaub gelehrt hat. Dafür hat sich der Tag gestern gelohnt, wenn man erst dadurch daran erinnert wird, wie schön das Leben ist.
Was ich noch gelernt habe: Dieses Tal kann man nicht zu Fuß verlassen!
17. August 2003
Was ist bloß los mit mir? warum bin ich so deprimiert? Bloß weil ich nicht gerade tolles Essen bekomme? Ich habe mir von dem letzten Geld Fertigbackpitas und Remoulade gekauft und die ersteren mit der letzteren bestrichen. Natürlich nicht fertig gebacken. Mehr krieg ich heute auch nicht.
Ich habe Kopfschmerzen, mir ist kalt und etwas schwindelig. Hoffentlich werde ich nicht krank. Ich wanke zum Waschhaus rüber in der Hoffnung, dass mir frisches Wasser gut tut. Das Gesicht, das mich aus dem Spiegel anschaut, sieht kreidebleich aus. Große, dunkle, traurige Augen starren unter total zerzausten Haaren hervor. Besser wieder weggucken und zurück zum Zelt gehen. Ich bin völlig erledigt, ich kriech jetzt in meinen Schlafsack, vielleicht wird es ja dann etwas wärmer. Mein Bauch kneift. Halb rohes Brot mag er nicht. Aber mein Portemonnaie fand dieses Brot wirklich toll!
Irgendwas stimmt überhaupt nicht mit mir. Bin halb weggetreten und schaue meinen Händen dabei zu, wie sie schreiben. Sind das wirklich meine Hände? Fühlt sich gar nicht so an. In meinem Kopf rauscht alles und ich bin sehr, sehr müde.
19:38 Uhr.
Ich habe ein bisschen gedöst und gerade noch ein Fladenbrot gegessen. Es geht mir etwas besser.
19:47 Uhr.
Sie haben mich gefunden. Die Wolken, meine ich. Es regnet.
18. August 2003
Seit sieben bin ich "wach" und habe gerade mein Frühstück beendet. Es regnet nicht mehr, doch der Himmel ist sehr bewölkt. Mir geht es zum Glück nicht mehr so übel wie gestern. Ich packe.
Um 09:30 Uhr ging es dann los. Jetzt ist es 14:39 Uhr - und nein, ich mache nicht gerade Mittagspause, wie man aufgrund der Uhrzeit vielleicht annehmen könnte. Mein Zelt steht seit einer Stunde und ich habe mir die letzten zwei Fladenbrote über einem kleinen Feuer gegart.
So waren sie richtig lecker und bekömmlich!
Warum ich schon Schluss mache für heute? Ich bin demotiviert worden. Und zwar von einem Schild. Auf dem stand: "Hovden 20 km". Dann bin ich heute nur acht Kilometer gegangen? Und habe dafür vier Stunden gebraucht?
15:38 Uhr.
Hier werden Träume wichtig. Gefühle und Ahnungen erhalten einen sehr hohen Stellenwert, wenn man alleine ist. Man sieht klarer, was wirklich zählt und kann leichter Entscheidungen treffen, die im Menschengewühlruhrpott gar nicht möglich wären. Man gewinnt Abstand zu allem, um es als Außenstehender zu betrachten, man lernt, das Leben zu lieben, so wie es einem gegeben wird. Man lernt, offener für alles zu sein. Und man lernt, wie wenig ein Mensch tatsächlich an Essen braucht, wie viele unnötige Dinge es mittlerweile in den meisten Leben gibt:
Fernseher, Radio, Mikrowelle, Heizung, Sofa, Fernbedienung, Telefon, Autos, Computer... .
Das, was ich wirklich brauche, ist abends ein Platz für mein Zelt, genügend Essen und Wasser - und das Wissen darum, dass es Menschen gibt, die an mich denken.
Einige Wörter definieren sich hier auch ganz anders als zu Hause. So zum Beispiel "Hunger, "dreckig" und "Schmerz".
Wieder in Kristiansand angekommen, stand ich an der Rezeption eines Campingplatzes, wollte für drei Nächte bezahlen und sagte: "No car, no friend, just me and my tent." Das reimt sich! Ich grinste vor mich hin.
Der Mann füllte den Zettel aus, rechnet 110 mal 3 gleich 330. Streicht die 330 durch und schreibt 300 hin. Ich bin verwirrt: "I think, it's 80 the night?" "Yes, and 30 per person." "Oh,... I'm sorry, I only have... 240... ."
"That's ok. See? I'll write 240."
Er strich die 300 durch und machte eine 240 daraus. Dann drückte er mir noch drei Duschmünzen in die Hand: "The beach is on the right. The water has twenty degrees. Enjoy your days here!" Ich brachte kein Wort über die Lippen, war total fertig von dem langen Tag und baff über so viel Freundlichkeit.
"Thank you..."
Mein Zelt steht, gegessen habe ich auch schon und ich kann nur
wiederholen: Das kann alles gar kein Zufall sein. Dieses Wort ist ab heute, 20:58 Uhr MEZ aus meinem Wortschatz gestrichen.
19. August 2003
Wenn nichts Zufall ist, hat dann alles einen Sinn? Nicht zwangsläufig, oder? Kann ja sein, dass man den netten Herrn mit Bart fragt: "Musste das passieren?" und er mit "Ja." antwortet. Und wenn Du dann fragst, warum, sagt er bloß: "Blöde Frage: Weil es passieren musste, eben!" Dann hat die Sache doch keinen Sinn, oder ist dabei der Sinn der Selbstzweck? Es ist 07:56 Uhr und ich sollte nicht so tief schürfende Gedanken schreiben.
08:25 Uhr.
Ich habe hier eine Eigenart entwickelt. Ich gehe unheimlich gern durch Supermärkte, ohne etwas zu kaufen. Ich schaue mir einfach alles an. und wundere mich, was man alles kaufen kann.
17:01 Uhr.
Ich vermisse irgendetwas. Oder nein, das Gefühl ist anders. Ist es vielleicht der Schmerz, das unterbewusste Wissen, dass ich hier auf dieser Reise etwas gefunden habe, von dem ich immer nur geglaubt habe, dass es nur in meiner Phantasie existieren könne? Dieses seltsam zufriedenstellene Gefühl von "zu Hause" sein. Der Einklang mit mir selbst. Ich weiß, über kurz oder lang wird es wieder verschwinden, wenn ich erst wieder zurück in Deutschland bin.
20:27 Uhr.
Wir Menschen im Allgemeinen nehmen unser Leben viel zu ernst. Nehmen es schwer, tragen es als Bürde anstatt uns daran zu erfreuen. Ich will es anders machen. LEBE! solange du es kannst. LIEBE! denn es ist wunderbar zu lieben und du weißt nicht, was daraus wird, wenn du stirbst. Und sei zufrieden. Wenn Du merkst, dass du nicht zufrieden bist, dann ändere etwas und nimm es nicht hin als "weiteres Ärgernis" in deinem Leben.
Seit einigen Stunden schon sitze ich wieder bei Achim und Ulla im Auto, jetzt geht es endgültig zurück. Das Radio läuft:Whish, you wew here...
Ich habe einen schmerzenden Klumpen Wehmut im Magen. Dieses Lied hat Norwegen für mich gesungen...
24. August 2003
Zu Hause.
...
...
... zu Hause.
Gestern um 21:15 Uhr verabschiedete ich mich am Paderborner Bahnhof von meiner Mitfahrgelegenheit. Da stand ich nun, packte erstmal meinen Kram wieder richtig zusammen, der aus vielen Einzelteilen bestand, da alles im Auto hatte verstaut werden müssen. Ging dann in die Schalterhalle, guckte mich um: Alles geschlossen. Ein paar Obdachlose saßen auf einer Bank. Am Automaten schaue ich, was eine Fahrt nach Wuppertal mich kostet und fall' fast aus den Socken. 21 Euro! Ich überlege noch, was ich tun soll, da spricht mich jemand an: "Willst Du mein Wochenendticket? Für 10? Du willst doch nach Wuppertal, komm, wir schauen mal, ob da noch was fährt!" sprachs und suchte mir die Verbindung raus. In einer Stunde, also um 22:20 Uhr fuhr der Zug über Hamm, Düsseldorf, Solingen-Ohligs nach Wuppertal. Ich nahm sein Ticket dankend an. "Hey, willst Du noch ein Stück von meiner Pizza?" In diesem Moment liebte ich die Welt wie noch nie zuvor.
Kurze Zeit später spricht mich einer von den Obdachlosen an, ob er und sein Freund nicht mit auf meinem Ticket fahren könnten. Klar, kein Problem. Wir kamen ins Gespräch, ein Wenig seltsam war er schon, denn er rezitierte Hesse und ich hatte das Gefühl, er kann Gedanken lesen.
Heute, 18:17 Uhr.
Ich saß eine ganze Zeit lang in meinem Zimmer und habe Musik gehört.
Habe mich gar nicht richtig getraut, mich auf mein Bett zu legen, das ist so weich, so... frisch bezogen, so... seltsam. Nichts für Wölfe.
Habe verstört die Dinge angestarrt, die überall um mich herum lagen und standen. Bin Beim Anblick der Fernbedienung vor Unverständnis in Tränen ausgebrochen. Das hier kann doch alles nicht das Bessere, Erstrebenswertere sein als Jenes, was ich hinter mir gelassen habe? Mit kindlicher Neugier drehe und wende ich dieses schwarze Ding mit Knöpfen drauf, fahre mit dem Finger über das glatte, makellose Plastik. Selten so etwas Unnützes gesehen. Es macht mich richtig traurig.



Eingereicht am 10. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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