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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Lady Futura´s Glaskugel

© Sebastian Kaufmann


Die missglückte Prüfung öffnete mir die Augen, sie ließ mich erkennen, dass sich viel zu wenig Saufkumpanen in meinem Freundeskreis befanden. Meine Freunde waren zu müde um auszugehen, oder schlimmer noch, räkelten sich zu Hause Händchen haltend auf ihren Sofas. Und ich? Single und zudem ein verdammt frustrierter Sprachstudent. Die Klausur hatte ich wohl zu hoher Wahrscheinlichkeit in den Sand gesetzt. An meiner Intelligenz lag es nicht, genug gelernt hatte ich auch, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Na ja, und das Ergebnis kommt in vier Wochen. Wenn es kommt, dann richtig dicke. Als ob mich nicht schon genug Zukunftssorgen plagen würden. Meine Eltern lassen mich ständig wissen, dass ich so langsam mit dem Studium abschließen sollte. Immerhin hätten sie, so Papas Worte, nicht vor mir mein ganzes Leben finanzieren zu wollen. Für sie war es schon schlimm genug, dass ich mich anstatt eines Medizin- oder Juraabschlusses, für einen Magisterstudiengang entschieden hatte. Sollte ich durchgefallen sein, würde das bedeuten, ein Semester länger an der Uni. In Zeiten von Studiengebühren keine rosigen Aussichten. Um ehrlich zu sein, ich weiß auch nicht, was ich eigentlich machen möchte, oder wer ich werden will.
Am Abend nach meiner Prüfung aber wusste ich genau, was ich in dieser Nacht machen wollte. Meinen Kummer ersaufen, und das heftig. Ich ging mit der Zigarette in der rechten Hand und dem Handy in der linken durch die Namensliste meines Telefonbuchs. "Das gibt es doch nicht! Kein Schwein, der mit mir saufen gehen möchte." Allmählich kamen Zweifel in mir auf. Ob ich wohl der einzige war, der Probleme hatte? Wenigstens schien es mir so in diesem Augeblick. Ich beschloss, dass wenn ich der Einzige sein sollte, ich auch alleine weggehen müsste. Das tat ich auch. Wenigstens eine Sache, die ich konsequent durchzog.
Ich erinnere mich nicht mehr, an wie vielen Bars ich gesessen habe, ich weiß aber genau, worüber ich gegrübelt habe. Über meine Zukunft. Die ist, zu dem Entschluss kam ich, so sicher wie die Straßen von Köln Chorweiler bei Nacht.
Ein Bier nach dem anderen rann mir die Kehle hinunter. "Ich bin eben nicht so wie meine Freunde, die das Privileg der festen Partnerschaft genießen, mit Mitte zwanzig Lebensversicherung und Bausparvertrag abschließen und mit einem Bein schon auf der Leiter Namens Karriere stehen. Könnte es was Spannenderes geben? Ich habe schon angefangen Lotto zu spielen und finde es selber so albern, dass ich gar nicht meine Zahlen kontrolliere.
Der Rausch verlieh mir die nötige Ruhe. Seltsam auch, dass mich niemand während meiner Die-Welt-ist-schlecht-Tour durch die Nacht angesprochen hatte. Der Ekel stand mir anscheinend schon im Gesicht.
Nach sechs Stunden torkelte mein sturzbetrunkener Körper durch Kölns Straßen, das Ziel fest vor Augen. Bis auf ein paar Dönerbuden und Tante Emma war es schwarz auf der Zülpicher Straße. Ich verfluchte die unerträglichen Straßenbahnsperrzeiten, kroch weiter und bemerkte fünf Minuten vor meiner Wohnung, dass das Reisebüro um die Ecke noch beleuchtet wurde. "Ich könnte ja auch Last Minute buchen und mich absetzen", träumte ich und mit gerunzelter Stirn bildete ich mit beiden Händen einen Schirm um meinen Kopf, um durch die Scheibe schauen zu können.
Drinnen hockte eine alte Dame, schwer einzuschätzen wie alt sie wirklich war, aber sie war alt, an einem kleinen Tisch, auf eine in der Mitte des Tisches platzierte Kristallkugel starrend.
Hemmungslos, wie der Alkohol mich gemacht hatte, schubste ich die Eingangstüre auf, die Türschellen bimmelten mich hinein. Lady Futura, wie ich sie auf Anhieb liebevoll nannte, nahm keine Notiz von mir. Ihr runzliges Gesicht war so angestrengt, dass es keine Miene verzog, ihr schneeweißes Haar war zu einem Dutt hochgesteckt, ihr restlicher Körper behangen mit einem altmodischen Blümchenkleid. Ich schnappte mir einen Hocker und setzte mich direkt gegenüber zu ihr an den Tisch, schaute die alte Lady an, und war schon enttäuscht, dass ihr Gesicht nicht eine einzige Warze aufweisen konnte.
"Was machen Sie denn da?", fragte ich nach. Lady Futura war aber zu beschäftigt, um sich mit mir abzugeben. Gut, dachte ich, wenn sie sich zu fein ist, um mit mir zu reden, muss ich mir eine andere Strategie ausdenken.
Ich werde mich schon auf mich aufmerksam machen. Mein Pegel war noch hoch genug, er fantasierte für mich eine Menge Unfug. Ich versperr ihr die Sicht oder trete die Kristallkugel vom Tisch. Dann wird sie aufhören so ignorant zu sein. Meine Hand wedelte wie ein Fächer zwischen Kristallkugel und ihren Augen hin und her. Lady Futura griff blitzschnell nach meinem Arm und zischte zu mir rüber. "Was machst du hier? Verschwinde! Stör mich nicht, ich bin beschäftigt." Ihre Stimme war so hässlich wie ihr Gesicht. Sie sah aus wie eine Hexe, die mich jeden Moment auffressen wollte. Doch meine alkoholisierte Neugier war größer als die Furcht vor der alten Lady. "Können Sie in die Zukunft schauen?", lallte ich ihr entgegen. "Zukunft? Ich? Ja, natürlich. Ich mache nichts anderes, seit vielen Jahren. Ich suche nach meiner Zukunft. Muss wissen was passieren wird. Bisher habe ich aber noch keine genauen Anhaltspunkte. Muss weiter suchen. Darf nicht aufhören. Entschuldige mich bitte. Ich hab keine Zeit mehr zu verlieren."
"Seit wann machen Sie das schon?" Lady Futura war längst wieder in die Kristallkugel vertieft. Ich beschloss den gleichen Trick noch mal anzuwenden und wedelte wieder mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. Dieses Mal krallte sich die alte Dame so fest in meinen Arm, dass ich jeden ihrer Finger spüren konnte, wie sie sich in meine Haut bohrten. "Was willst du denn noch? Hab keine Zeit für dich. Hau ab", krächzte sie mich an. "Wann haben Sie damit angefangen ihre Zukunft voraussehen zu wollen?", versuchte ich hartnäckig das Gespräch aufrecht zu erhalten. Sie hob den Kopf, ihre Brauen zogen sich in die Höhe, und Lady Futura strich mir zärtlich, fast unheimlich, über mein Gesicht. "Ich muss wohl so alt wie du gewesen sein, mein Junge. Ich war eine hübsche intelligente junge Frau. Bis die Ungewissheit in mein Leben trat. Ich musste wissen was mir mein Leben bringt. Aber bis zum heutigen Tage nur Vermutungen, ich rufe die Klarheit an, aber sie antwortet nicht."
"Haben Sie keinen Mann, Kinder oder Freunde?"
"Mann, Kinder, Freunde?", trat das verwirrte Echo an meine Ohren. "Da habe ich keine Zeit zu. Ich muss wissen was meine Zukunft mir bringt. Dann kann ich dir vielleicht sagen, ob ich eine Familie haben werde. Nun lass mich endlich in Ruhe. Muss weiter suchen. Hab schon zu viel Zeit verloren."
Ein paar Minuten blieb ich noch sitzen, schaute fasziniert und entgeistert zugleich dabei zu, wie Lady Futura ihr Glück in der Glaskugel suchte. Für einen Moment kam der Gedanke auf, selber einen Blick in die Kugel zu werfen, zu schauen, ob sich dort drin tatsächlich die ersehnten Antworten finden lassen würden. Die Verlockung war groß. Aber ein letztes Mal schaute ich in Lady Futura´s alten glasigen Augen, so lange bis ich begriff. Ohne zu zögern schlich ich leise wie eine Katze aus dem Reisebüro hinaus. Draußen schien der Himmel hellblau. Ich kramte eine Zigarette aus der Schachtel und nahm einen tiefen Zug. Mein Gesicht entspannte sich, mein Herz entkrampfte. Ich freute mich auf den nächsten Tag, so sehr wie ich es nie zuvor getan hatte, alles bloß, weil ich nicht wusste, was er mir bringen würde.



Eingereicht am 10. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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