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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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870 Gramm Leben ...

© Cornelia Wärmeling


Das Kind kam zu früh, viel zu früh. Der Mutter blieb keine Zeit mehr zum Waschen, zum Nachdenken. Die Hebammen wurden grob und sprachen herrisch, als sie Schwierigkeiten hatte, auf die Pritsche zu klettern, auf der das Kind geboren werden sollte. Sie banden ihr die langen Haare aus dem verschwitzten Gesicht, und ließen sie unbedeckt liegen. Sie gingen in ein Nebenzimmer und sagten laut, dass man da nichts mehr machen kann, das Kind kommt. Aber doch viel zu früh - rief die Mutter und krümmte sich unter den heftigen Wehen. Schulterzucken, sie sprachen über andere Dinge. Die Mutter wurde von Schmerzen geschüttelt, Übelkeit kam, vermischte sich mit der Panik einer Erstgeburt. Sie erbrach geräuschvoll auf den gefliesten Boden. Eine Schwester hastete herbei. Verärgert wegen des Drecks. Sie solle sich mal zusammenreißen, so wäre das nun mal. Ein Beispiel an der Frau hinterm Vorhang solle sie sich nehmen, die sagt keinen Ton, macht keine Schwierigkeiten. Verzweiflung und Angst schnüren der Mutter den Hals zu. Tränen sickern lautlos. Das Kind bahnt sich seinen Weg. Sie beginnt zu schreien. Die Schwestern kommen, sehen und sagen - es geht los. Kein Arzt dabei. Ein blutiger Klumpen Leben schießt zwischen ihren verkrampften Beinen hervor, wird aufgefangen von den Schwestern und sofort weggetragen. Die Mutter ächzt und will das Kind sehen. Sie schütteln den Kopf, drücken ihren Kopf mit den schwarzen Haaren runter. Eine wischt ihr das Gesicht vom Erbrochenen sauber, eine stopft ihr was zwischen die Beine. Die dritte kommt ohne Kind zurück und streicht ihr übers Gesicht. Die Mutter hört, wie sie leise reden. Die Ärztin ist unterwegs, sie ist schlechtgelaunt, hat Bereitschaft. Die Mutter sucht mit Blicken nach ihrem Kind. Sie hört nichts. Kein Weinen, kein Greinen des Neugeborenen. Schweigen. Jetzt kommt die Nachgeburt. Flüchtig schaut die Schwester, alles in Ordnung. Laken über die Mutter, was zwischen die Beine gelegt, prüfender ernster Blick in angstflackernde Augen. Die Ärztin kommt, müde, lustlos. Ein Wort an die Mutter - wir können nicht viel machen, die Lungen sind zu schwach. Dann setzt sie sich an einen Glaskasten in dem etwas zappelt. Die Schwestern stehen daneben, schütteln den Kopf, werfen sich stumm verneinende Blicke zu. Die Mutter steht lautlos auf. Niemand bemerkt es. Die Einlagen rutschen hinunter. Sie zittert vor Kälte, vor Angst, vor Scham wieder ausgeschimpft zu werden. Blut läuft an den Beinen hinunter, viel Blut. Sie steht am Kopfende des Bettes, unbemerkt. Da sieht sie den Glaskasten. Es liegt ein kleiner Junge drin, die Haare ganz weiß, lang, dunkel die Wimpern, die Augen geschlossen. Die Ärmchen gehen hin und her, die Beine ruhen still. Er versucht qualvoll zu atmen. Er gibt keinen Ton von sich und es hilft ihm auch niemand dabei. Abgespannt und hilflos sitzt die Ärztin daneben. Kein Sauerstoffgerät, keine Beatmung. Die Mutter spürt mit dem Instinkt eines verwundeten Tieres, dass ihr Junges hier stirbt und keiner tut was. Sie berührt die Ärztin unbemerkt an der Schulter. Tun sie doch was! Geben sie ihm Luft - sie sagt es fast lautlos, nimmt die weit aufgerissenen Augen nicht vom dem Kleinen im Kasten. Die Ärztin zuckt zusammen, erwidert ebenso leise - er wird einschlafen, wir haben keinen Hubschrauber, ich kann nichts mehr tun. Aber sie hat doch gar nichts getan, schreit es in der Mutter auf. Sie steht und starrt schweigend auf das kleine Leben. Ihr Leben, ihr kleiner Sohn. Jetzt fährt die Ärztin herum, sieht die Mutter starr stehen, Blut überall, die Haare wirr und verschwitzt, die Augen wie eine Irre flackernd auf den Glaskasten gerichtet. Sie packt die Frau, schüttelt sie, erkennt den Zustand und ruft die Schwestern. Schnell! Man will sie resolut wegdrängen vom Kasten, sie wehrt sich verzweifelt, stumm. Will dort stehen bleiben und zusehen. Zusehen wie der Kleine langsam erstickt. Keine Luft, keine Beatmung. Jetzt löst sich ihre Zunge, sie fängt an qualvoll zu heulen. Dumpf sind die Laute, von ganz drinnen kommen sie. Die Schwestern werden energisch, packen kräftig zu, es gibt ein Handgemenge. Sie rufen den Stationsarzt. Alle rennen und werden laut. Die Frau nebenan bekommt jetzt ihr Kind. Es wird immer lauter. Unsere junge Mutter fühlt einen Stich im Arm und sieht dem jungen Arzt in die Augen. Er setzt sie in einen Rollstuhl. Sie zittert jetzt so stark, dass sie sich auf die Zunge beißt. Es muss wohl der Schock sein. Sie rollen sie langsam raus. Sie dreht sich um und ruft nach dem Jungen. Entgeistert starrt der Stationsarzt die anderen an. Warum sie den Vorhang nicht zugezogen haben. Daran hat niemand gedacht. Er wird laut, schreit die Schwestern an, spricht von Schockzustand und drohendem Kollaps. Unsere Mutter wird auf die Station gebracht. Sie ist jetzt sehr ruhig, spricht nicht, wird sehr müde. Man legt sie in ein sauberes Bett, deckt sie warm zu. Sie schläft ein, traumlos, erschöpft, gedemütigt und verwundet. Am nächsten Morgen wird man ihr sagen, dass der kleine Junge verstorben ist. Sie wird ihm einen Namen geben, es wird eine Geburtsurkunde und eine Sterbeurkunde ausgestellt. Eine Hebamme, alt und erfahren, robust und resolut, kam noch in der Nacht zu ihr. Schweigend legt sie der jungen Mutter die Hand an die Wange, streichelt sie, drückt sie an sich. Endlich, endlich löst sich alles und die Tränen fließen ungehindert. Die Mutter hält sich an der Hebamme fest. Und die nimmt sie wie ein kleines Kind und sagt, weine ruhig, immer weine. Du bist noch jung, mach zu dass wir uns in einem Jahr wieder sehen. Alles wird gut gehen. Das Wunder geschah. Nach einem Jahr und drei Wochen wurde ein kleines Mädchen geboren, wieder etwas zu früh aber kräftig genug, um lauthals seinen Anspruch auf Leben anzumelden. Die alte Hebamme stand dabei und lächelte.



Eingereicht am 10. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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