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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Am Ende vom Horizont

© Lola Victoria Abco


"Richard?" Zusammengekauert saß Lene im Sand. "Ich weiß, du bist dort am Ende."
Ihre Beine hatte sie dicht an den Körper gerückt, um sich ein wenig vor dem Abendwind zu schützen.
"Ich weiß, du bist dort am Ende vom Horizont."
Lene nahm eine Handvoll Sand auf, ballte ihre linke Hand zur Faust und ließ ihn langsam herausrieseln. Der seichte Wind blies die Körner gegen ihre Beine.
"Ich weiß es. Wartest du auf mich, Richard?"
Fußstapfen waren zu hören. Jemand wanderte durch die Dünen, kam auf die Mulde, in der Lene saß, zu. Noch war sie vom Strandhafer und den Wildrosen verdeckt. Als der Mann sie erblickte, blieb er kurz stehen und grüßte sie.
Unbeirrt schaute Lene weiter zum Wasser. Schweigend ging der Wanderer in einem Bogen an ihr vorbei.
Vielleicht hatte er sie schon vorher einmal gesehen. Viele Urlauber kamen immer wieder hierher. Genauso wie Lene. Seit drei Jahren verbrachte sie die letzten beiden Juliwochen auf der Insel. So wie davor mit Richard. Am Vormittag unternahm sie manchmal einen Spaziergang am Strand, ab und zu stöberte sie auch in den winzigen Läden im Dorf. Meistens blieb sie jedoch lange im Bett liegen und versäumte das Frühstück. Was machte es, sie war alleine. Niemand wartete auf sie. Niemand? Der Einzige, der zählte war Richard. Lene war sich nicht sicher, ob er auf sie wartete.
Niemals verpasste es Lene am frühen Nachmittag am Strand zu sein. In den letzten beiden Juliwochen der letzten drei Jahre nicht ein einziges Mal. Im Schutz der Dünen setzte sie sich in den Sand und schaute zum Wasser, streifte mit den Augen suchend den Horizont entlang. Die erste Antwort hatte sie gefunden, Richard war dort. Die Antwort auf ihre zweite Frage, wann würde sie sie finden? In einem Jahr, in fünf, in zehn Jahren? Gleichgültig schaute Lene weiter in die Ferne. Wichtig war nur, dass sie eine Antwort bekommen würde. Zeit spielte für sie keine Rolle mehr.
"Schon wieder an die See, schon wieder an die gleiche Stelle", hatte Katharina ausgerufen. "Warum fährst du nicht einmal in die Berge oder in eine Stadt. Paris, Florenz. Ist es nicht Zeit für eine Veränderung?"
Lene hatte nicht verstanden, was ihre Tochter meinte. War denn nicht die größte Veränderung noch so frisch, sie lag doch erst drei Jahre zurück? Die Jahre davor, waren sie immer dieselben gewesen?
Gedankenverloren nahm Lene mit ihrer rechten Hand weiteren Sand auf und ließ ihn durch die Finger ihrer linken Hand wieder zu Boden laufen. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie die kleine Katharina, die Richard und sie damals liebevoll Kathie nannten, in ihrem ersten Urlaub jauchzend versuchte über die Wellen zu hüpfen. Jahre später, aus "Kathie" war inzwischen "Cat" geworden, "wie die englische Katze" hatte ihre Tochter sie aufgeklärt, fuhren sie statt zu dritt nun zu viert in den Urlaub hierher. Zweimal lud Katharina eine Freundin ein, dann begleitete sie Stephan, gefolgt von Mario, der wutentbrannt am sechsten Tag abreiste. Später folgten die Urlaube zu zweit, nur noch Richard und Lene. Als sie zum dreißigsten Mal aufbrachen, kam Paul mit ihnen. Eine glückliche Urlaubswoche verbrachten sie mit ihrem ersten Enkelkind. Die zweite Woche, die nur drei Tage währte, sollten Oma und Opa ganz für sich haben, hatte Katharina entschieden.
Vielleicht hatte der Wanderer von ihr gehört. Von der Dame, die bei Wind, Regen oder Sonnenschein dort alleine am Strand sitzt und in die Ferne schaut. Die Dame, die mit niemandem redete, nichts wahrzunehmen schien, keine Regentropfen, kein Donnergrollen, keine Stimmen, nichts.
Wahrscheinlich hatte er auch von Richard gehört. So tragisch, so mysteriös es war, wer wollte darüber schweigen?
Es hatte kein Begräbnis gegeben. Was hätte begraben werden können? Katharina hatte aber auf eine Trauerfeier bestanden.
Lene war damit nicht einverstanden gewesen.
"Richard ist nur nicht hier bei uns", hatte sie eingeworfen.
"Mama, du musst den Tatsachen in die Augen schauen."
"Er wollte auf mich warten, ich habe nur nicht verstanden, wo. Er sagte, er wolle warten."
"Mama, bitte. Papa wartet nirgendwo auf dich."
Zweifelnd hatte Lene ihre Tochter betrachtet.
"Wie einsam muss sich Richard fühlen, wenn er auf mich wartet und ich nicht komme, Katharina?"
"Ich bin mir ganz sicher, er wartet nirgendwo."
Wieso war sich ihre Tochter so sicher? Niemand konnte mit Sicherheit wissen, wo Richard war und ob er nicht doch auf sie wartete.
Sie beide hatten sich immer auf einander verlassen können. Wie schlecht musste sich Richard fühlen, da Lene ihn so lange schon warten ließ? Auf jemanden warten, bedeutet doch, man will, dass jemand zu einem kommt.
"Richard? Richard wie geht es dir?"
Lene schüttelte sich die restlichen Sandkörner aus den Händen.
Als sie Richard nirgendwo finden konnten, hatte sich Lene zuerst im Stich gelassen gefühlt. Warum nur war er ohne sie aufgebrochen? Sie waren doch die wichtigsten Wege immer zusammen gegangen. Später merkte Lene, wie ihre Gefühle durcheinander gerieten. Auf der einen Seite waren da die vielen Leute, die ihr ihr Beileid bekundeten, auf der anderen Seite hörte sie Richard sagen, er warte auf sie. Katharina hatte die Verwirrung ihrer Mutter gespürt und deshalb gegen jeden Widerstand eine Trauerfeier organisiert.
Lene war sich bei der Zeremonie fehl am Platze vorgekommen. Sie fühlte keine Trauer. Trauern hieß für sie einen Abschied zulassen. Richards Stimme klang dafür jedoch noch zu deutlich in ihren Ohren.
Ohne Richard an ihrer Seite war die Müdigkeit von Lene gewichen. Nachts lag sie lange wach im Bett, die Augen zur Decke gerichtet. Wenn sie am Morgen aufwachte, war ihr, als hätte sie stundenlang auf das Wasser geschaut.
Niemals mehr übermannte sie Mittagsmüdigkeit. Wie oft hatte Richard darüber gelacht, wenn sie sich gähnend auf der Decke ausgestreckt hatte, um für einige Minuten davon zu gleiten.
"Ich gehe zum ... warte dort auf dich."
Lene hatte ein Lächeln in seiner Stimme gespürt. Zu weit war sie jedoch bereits in ihren Schlaf versunken, um seine letzten Worte genau zu verstehen. Minuten später hatte sie sich benommen aufgerichtet. Richard war nicht bei ihr. Lene fiel ein, dass er irgendwohin gehen und auf sie warten wollte. Suchend hatte sie zum Wasser geschaut.
"Wartest du auf mich, Richard?"
Langsam versank die Sonne hinter dem Horizont. Bedächtig erhob sich Lene und ging hinunter zum Meer. An der Wasserkante blieb sie stehen. Nur die größten Wellen schafften es, ihr Wasser bis an Lenes Waden zu treiben. Eine Weile stand Lene unbewegt dort, den Blick wie seit Stunden in die Ferne gerichtet.
Plötzlich schien etwas ihren Körper zu durchfahren.
"Ich habe dich schon viel zu lange warten lassen, Richard!"
Mit festen Schritten ging Lene in das Wasser. Die Wellen schlängelten sich um ihre Knie, um ihre Hüften. Unaufhaltsam bewegte sich Lene immer weiter auf den Horizont zu.



Eingereicht am 10. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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