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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Sprachlos

© Anke Jacobsen


Am Tag, der unser Leben grundsätzlich verändern sollte, schien die Sonne strahlend vom wunderbar blauen Himmel, die Menschen in der Stadt saßen zum ersten Mal in diesem Jahr in Straßencafés, unterhielten sich und genossen die Wärme der Sonne. Meine Töchter und ich hatten unseren ersten Urlaubstag und bummelten durch die Einkaufsmeile. Leider machte die Ältere, die damals zweijährige Claudia, wieder keinen guten Eindruck. Ein stets lebensfrohes, glückliches Kind, das schon seit ein paar Wochen unverständliche Veränderungen durchmachte. Sie war wieder sehr quengelig und weinerlich, wollte ständig getragen werden, obwohl sie für ihr Leben gerne lief. Entnervt von ihrem Gejammer verschwand meine gute Laune zusehends.
Wir kamen an einer Buchhandlung vorbei, die mit ihren bunten und fröhlichen Auslagen die Kinder anzog. In diesem Moment fiel Claudia mitten in die Auslegware und ruinierte damit ein paar Kartonagen. Verwirrt und weinend versuchte sie aufzustehen, als eine Verkäuferin schrie: "Sehen Sie sich das an, können Sie Ihr Kind nicht richtig erziehen?" Beschämt und wortlos zahlte ich die zerstörte Ware, in meinen Armen ein mittlerweile nicht mehr ansprechbares Kind, was der Frau in ihrer rasenden Wut nicht einmal auffiel. Uns blieb nur der schnellste Weg ins Krankenhaus.
In der Notaufnahme wurden wir von einer kleinen, älteren Ärztin empfangen. Sie wirkte wie eine Frau, die in ihrem Leben noch nicht viel Gutes erlebt hatte und meine Unruhe wuchs von Minute zu Minute. Nach unzähligen Untersuchungen wurde ich von der erschütternden Diagnose völlig von den Füßen gerissen.
Die Ärztin erklärte mir ohne Mitleid, oder auch nur einen kleinen Anflug von Gefühl: "Ihre Tochter hat Diabetes. Gehen Sie davon aus, dass sie nicht mehr gesund wird. Wir legen sie erst einmal auf die Intensivstation und hoffen, dass sie in etwa zwölf Stunden über den Berg ist. Danach rechnen Sie mit etwa drei Wochen Aufenthalt in der Klinik, in der Sie über die weitere Behandlung aufgeklärt werden."
Schnell lag Claudia dann in einem viel zu großen, weißen Bett. Am Kopfende zwei grünlich schimmernde Bildschirme, bedrohliche Apparaturen, die grauenhaft piepsende Geräusche von sich gaben. Ihr tiefer Schlaf ähnelte einem Koma, es machte mich fast wahnsinnig, dass sie nicht mehr auf mich reagierte. So verbrachten meine kleine Tochter und ich die Nacht allein in diesem schrecklichen Raum, ich hielt nur ihre kalte, feuchte Hand und war einsam mit meinen bösen Gedanken. Ich haderte mit dem Schicksal und stellte mir immer nur eine einzige Frage: "Warum?"
In meinem bisherigen Leben war Diabetes die Krankheit älterer Menschen, oder der Menschen, die durch ihre Lebensweise und Körperfülle selbst schuld waren, doch dass es auch Kinder die schmal, klein und verletzlich waren, treffen könnte, hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal vermutet. Sie würde sich ihr Leben lang einschränken und Insulin spritzen müssen. Meine Tränen flossen ungehindert die ganze Nacht. Aus einem wunderschönen Urlaubstag war eine Katastrophe geworden ...
Irgendwann bemerkte ich, dass eine Krankenschwester leise zu mir sprach: "Machen Sie eine kleine Pause, gehen Sie einen Kaffee trinken, oder ein Stück spazieren. Sie helfen Ihrer Tochter nicht, wenn auch Sie schlappmachen."
Zuerst schüttelte ich erschöpft den Kopf, ich wollte Claudia nicht allein lassen. Doch sie war unerbittlich und warf mich regelrecht aus dem Zimmer.
Ich beschloss mir tatsächlich einen starken Kaffee zu besorgen und ein wenig Luft schnappen zu gehen. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es drei Uhr morgens geworden war. Claudia und ich waren bereits seit zehn Stunden hier. Mit beiden Händen hielt ich das wärmende Getränk und ging schleppend nach draußen. Es gab nur eine Bank direkt vor der Tür und diese war bereits besetzt. Hier saß eine bleiche, junge Frau, von etwa dreißig Jahren. Sie starrte wie blind vor sich hin und ihr Anblick erschütterte mich bis ins Mark. Ohne mich anzusehen sprach sie mit zitternder Stimme: "Setzen Sie sich ruhig zu mir. Sie sind seit Stunden der erste Mensch, den ich treffe. Auf welcher Station liegt Ihr Kind?" Ich setzte mich und sagte zögernd: "Intensivstation, und Ihres ...?" Die Fremde antwortete mit Sätzen, die mich ein Leben lang begleiten werden: "Auf der Kinderkrebsstation, ich warte darauf, dass sie Kevin endlich sterben lassen ...!" Die folgende Erklärung hörte ich wie durch einen Schleier, meine Haut war über und über mit Gänsehaut überzogen und ich fror wie niemals zuvor in meinem Leben.
Kevin war schon lange krebskrank und hatte viele Operationen über sich ergehen lassen müssen. Dabei war er zu diesem Zeitpunkt erst fünf Jahre alt. Jeder Arzt war wohl der Ansicht gewesen, dem Jungen helfen zu können, doch sein Zustand verschlimmerte sich zusehends. Der Zeitpunkt war gekommen, an dem seine Eltern entschieden hatten, Kevin nicht mehr leiden und in Frieden sterben zu lassen. Selbst der Kleine hatte diesen Wunsch schon geäußert ...
Ich muss gestehen, dass mir kein Trost der Welt einfiel - zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich nichts sagen. Doch heute weiß ich, sie erwartete keine Antwort, war nur froh einmal ein offenes Ohr für ihre Sorgen zu finden. Sie stand auf und ließ mich allein.
In dem Moment wusste ich, dass Claudia und ich diese Krankheit meistern würden, weil es Dinge im Leben gibt, die sprachlos machen. Rückblickend haben wir in den schwierigen Jahren alles mit viel Kraft überstanden und ich wünschte, ich könnte dieser Frau heute sagen, welchen Mut sie mir in ihrer eigenen Not gegeben hat.



Eingereicht am 10. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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