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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Abschied

© Manuela Wirbel


Es war ein kalter Dezembertag, als ich mich in mein Auto setzte um meinen kranken Vater zu besuchen. Ein seltsames Gefühl überkam mich während der Fahrt. Ich fuhr auf der A8 Richtung Stuttgart und war ständig wie abwesend.
Gedanken an früher kamen in mir auf, positive und auch negative. Die Erinnerung an gemeinsame Spaziergänge am "Stillen Bach" spiegelte sich vor meinen Augen wider. Doch genauso die unzähligen Streitigkeiten, wie damals vor 3 Jahren, als ich mich für einen neuen Job in München entschied und für meine Familie nur noch am Wochenende da war. Was war das für ein Tag? Sollte es tatsächlich der Tag des Abschieds sein? Immer wieder rollten mir heiße, dicke Tränen aus den Augen, die dann auf meine Bluse tropften und dort lauter kleine Flecken hinterließen. Eigentlich hasste ich doch meinen Vater, denn er mischte sich immer und überall in meine Angelegenheiten ein, doch war das wirklich Hass was ich empfand? Seltsam, der Abschied von meiner Mutter war mir nicht schwer gefallen. Ich wusste, sie war krank und rechnete jeden Tag damit, dass sie sterben würde, doch wie war es jetzt bei meinem Vater? Ein Gedanke verfolgte den nächsten. Ich musste mich doch auf den Verkehr konzentrieren, es war doch sehr viel los auf der Autobahn und der Nebel senkte sich auch immer mehr.
Als ich den Albaufstieg hinauffuhr, sah ich die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken scheinen. Es versprach ein sonniger und schöner Tag zu werden, doch ich empfand es gar nicht so. Plötzlich nahm ich die Umwelt wahr wie sie wirklich war, diese Sonnenstrahlen hatten mich aus meinen Gedanken zurückgeholt. Die Bäume hingen dick voll mit Raureif und die Sonne strahlte auf die kleinen Kristalle, dass diese in allen Farben schimmerten und glänzten. Ich fuhr bei der nächsten Raststätte raus und stieg aus meinem Auto aus. Trotz der Abgase der vielen Autos auf der Autobahn war die Luft frisch und kühl. Vielleicht half mir diese kurze Pause, um wieder klare Gedanken zu fassen und konzentrierter weiterfahren zu können. Den Foto hatte ich mitgenommen, doch eigentlich wusste ich gar nicht mehr warum. Doch diesen Moment wollte ich festhalten. Ich holte meine Digitalkamera aus dem Auto und stapfte durch die an die Parkplätze angrenzende Grünfläche. Auch andere Pkws hielten an um dieses schöne Schauspiel zu fotografieren. Dieses Schauspiel erinnerte mich an das Märchen "Die Schneekönigin". Wie lange war es her, dass ich dieses Buch gelesen hatte, doch alles an diesem Tag erinnerte mich daran. Konnte ich meinem Vater wieder Lebenswillen einhauchen oder war er schon verloren? Wieder kreisten meine Gedanken um dasselbe Thema, ich konnte es nicht verdrängen. Früher war ich gut darin, doch was war mit mir geschehen? Ich konnte und wollte die Hoffnung nicht aufgeben, schließlich war es doch mein Vater. Wieder kullerten mir dicke Tränen über die Wangen und ich entschloss mich wieder in mein Auto einzusteigen und weiterzufahren.
Ungefähr eine Stunde trennte mich nun noch von meinem Vater. Die Ungewissheit, was mich wirklich erwarten würde, war fast nicht auszuhalten.
Meine Stiefmutter hatte mir zwar mitgeteilt, dass er oft abwesend sei und nicht ansprechbar, doch vorstellen konnte ich mir das gar nicht. Wer meinen Vater kannte, der wusste, dass er zu allem und jedem etwas zu sagen hatte und vor allem nie klein bei gab. Er musste immer alles zerpflücken und so hinbiegen wie er es sah und dachte, wenn man ihm dann nicht Recht gab, führte dies zu unendlichen Diskussionen bei denen ich oft dachte, der Klügere gibt nach. Durch einen Oberschenkelhalsbruch konnte sich ein Mensch doch nicht so verändert haben. Eines war mir jedoch bewusst, er war nicht mehr der starke Mann, den ich dachte zu kennen, denn am Telefon redete er teilweise seltsam und seine Gedanken, die er wiedergab, waren sehr wirr. Ich sah ihn vor meinen Augen wie er an seinem 85-sten Geburtstag vor 3 Monaten neben mir in der Gaststätte saß und mit mir über alle möglichen Erfindungen, die er noch machen wollte, redete. Vor allem von seinem Vorhaben, einen kleinen Motor für seinen Gehwagen bauen und patentieren zu lassen. War dies alles durch einen Sturz aus dem Bett ausgelöscht worden? Konnte das sein? Wieder musste ich mich aus meiner Abwesenheit und meinen Gedanken zurückholen um auf den Verkehr zu achten, doch es war nicht einfach.
Es waren schreckliche 2,5 Stunden Fahrt, die ich nun bald hinter mir hatte, denn ich wehrte mich schon immer in meinem tiefsten Inneren, mit dem Tod konfrontiert zu werden. Doch da musste ich diesmal durch. Bei meiner Mutter hatte ich alles verdrängt und obwohl man täglich mit ihrem Tod rechnen musste, war sie geistig noch fit und ich verdrängte alles sehr erfolgreich.
Diesmal war jedoch alles anders. Für mich war es der Gang nach Canossa. Es quälte mich alles, vor allem die vielen Streitigkeiten wegen Nichtigkeiten, die wir hatten und uns die reinsten Gefechte lieferten, da keiner nachgeben wollte. Wie oft musste meine Stiefmutter diese Unstimmigkeiten schlichten um uns wieder zusammenzubringen.
Ich war da, stieg aus meinem Auto aus und ging mit schweren Schritten auf das Haus zu. Ich drückte auf die Klingel und sogleich surrte der automatische Türöffner. Ich drückte gegen die Tür und trat ein. Meine Stiefmutter empfing mich mit verheulten Augen, nahm mich in die Arme und sagte nur: "Nun müssen wir stark sein, gut dass du noch gekommen bist und er dich noch sehen kann." Ich ging zum Schlafzimmer und da sah ich ihn liegen, wer war das? War dies mein Vater? Der große starke Mann, der Kämpfer, der für mich immer Allwissende? Vor mir lag ein kranker alter Mann, der kaum die Augen öffnen konnte, mit grauen dünnen Haaren und einer Haut wie Pergament so dünn und empfindlich. Erst nach langem Kampf und mehrmaligem Hinweisen meiner Stiefmutter sah er, dass ich, seine Tochter vor ihm stand. Es kostete mich eine große Überwindung, ihn in den Arm zu nehmen, doch ich war seine Tochter, ich musste dies doch können. Oh nein, wie schwer es mir doch wieder fiel, aber da musste ich durch, es war doch ihm zuliebe! Ich beugte mich über ihn und er drückte mich mit seiner ganzen noch vorhandenen Kraft. "Mein Mädchen", sagte er leise. "Du bist gekommen um mich zu besuchen, du weißt gar nicht was das für eine Freude für mich ist." Plötzlich war die ganze Abneigung entschwunden und es fiel mir überhaupt nicht mehr schwer, ihn im Arm zu halten. Mir standen schon wieder die Tränen in den Augen und ich machte mir wieder und wieder in Gedanken Vorwürfe, warum ich nur so oft so grausam und uneinsichtig ihm gegenüber gewesen bin, doch dies alles konnte ich nicht mehr rückgängig machen. Doch diesen Tag wollte ich ihm, so gut ich konnte, verschönen. Ich setzte mich neben ihn auf einen Stuhl und hielt seine Hand. Immer wieder drückte er ganz fest die meine, obwohl er mit geschlossenen Augen neben mir im Bett lag. Nach über einer Stunde blickte er mich plötzlich wie aus weiter Ferne an und sagte: "Eine Locke, ich möchte eine Locke von dir." Wieder kämpfte ich mit den Tränen, denn ich wusste er wollte diese Locke mitnehmen, dorthin wo er schon bald hingehen würde, weg von mir, weg von uns.
Einige Zeit später rief mich meine Stiefmutter, ich stand auf um mit ihr eine Kleinigkeit zu essen. Eigentlich war ich über die Ablenkung froh, doch das Essen, das vor mir stand, aß ich und wusste nicht wie es schmeckt. Heute weiß ich nicht einmal mehr, was es zu essen gab. Wir waren kaum fertig und hatten den Tisch noch nicht abgeräumt, als er schon wieder ganz laut nach mir rief. Es war nun schon 14.00 Uhr am Nachmittag und ich wollte bald wieder nach Hause fahren, doch ich konnte mich nicht trennen. Als ich mich wieder neben ihn setzte, hielt er sofort wieder meine Hand ganz fest und war ruhig. Es war seltsam, denn die Berührungen meines Vaters waren früher unangenehm für mich. Ich war immer froh, wenn er mich wieder los ließ, doch wenn ich ihn nun so betrachtete und seine Hand hielt, wollte ich ihn nicht loslassen. Mich befielen wieder Gedanken die ich kaum beschreiben kann. So dachte ich daran, dass ich mir nie zugetraut hätte, einen Menschen zu Hause zu pflegen. Als ich nun meinen Vater neben mir liegen sah, wusste ich, dass es für einen alten oder kranken Menschen nichts Schöneres geben konnte, als zu Hause in seinem eigenen Bett und seinen eigenen vier Wänden sanft an der Seite der eigenen Familie entschlafen zu können. Mein Vater sah so friedlich so ruhig aus, obwohl er sehr unruhig atmete. Ich sah meinen Vater in seinem ganzen Leben noch nie so ruhig und zufrieden. Diese Erkenntnis beruhigte mich sehr.
Die Zeit ging wie im Flug vorbei und es war schon kurz vor 17.00 Uhr, als ich mich "zum letzten Mal" von meinem Vater verabschiedete. Ich schnitt eine Locke von meinen Haaren ab und gab sie meiner Stiefmutter. Obwohl ich wusste, dass dies ein Abschied für immer war, hatte ich das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, einen Menschen unendlich glücklich gemacht zu haben.
Drei Tage später schlief mein Vater abends ein und wachte am nächsten Tag nicht mehr auf. Er war sanft, glücklich und zufrieden von uns gegangen.
Dieser Tag hat in meinem Leben und in meiner Denkweise sehr viel verändert.



Eingereicht am 09. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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