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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Abschied

© Bernhard Ost


Der Flieger nach Übersee ging um die Mittagszeit.
Er wollte seine Vergangenheit hinter sich lassen, - hatte bereits seine Wohnung aufgelöst, sich von seinen Freunden verabschiedet und wollte nun auch noch Abschied von den Toten nehmen. So stand er denn an jenem kalten Herbstmorgen alleine vor dem Grab seines besten Freundes. In Gedanken ließ er die vielen gemeinsamen Erlebnisse Revue passieren. Er hatte gar nicht bemerkt, wie ein dichter Bodennebel langsam näher kroch. Erst als er selbst bis zu den Knien mitten im Nebel stand und das Grab nicht mehr zu erkennen war, wachte er aus seinen Gedanken auf. Der ganze Friedhof war unter einer riesigen flächenhaften Nebeldecke begraben. Nur die Bäume, einige höhere Sträucher und die Kuppen einiger senkrecht stehender Grabsteine schauten heraus. Die Sicht über dem Nebel war sehr klar und er konnte in der Ferne die Friedhofskapelle sehen, in deren Nähe der Ausgang ist - doch alle Wege waren unter der weißen Decke verschwunden. Eine Vision wie aus einer anderen Welt. Überall flackerten in der Tiefe des Nebels kleine rote oder gelbe Lichter und vermittelten etwas Gespenstisches. Mit beiden Beinen stand er mitten in diesem Szenarium und es erfasste ihn ein sonderbares Gefühl plötzlich zwischen Leben und Tod zu stehen. Das Reich der Toten erschien ihm durch die sanften Gleitbewegungen des Nebels und dem Flackern der Lichter zu leben und er stand wie die Bäume mitten drin und fühlte sich eiskalt berührt. Er sah das Grab des Freundes nicht mehr und auch nicht mehr den flachen Grabstein. Es war ihm als hätte sich der Freund nun endgültig ihm Nebel von ihm verabschiedet. Er wollte fort von diesem gespenstischen Ort, doch er traute sich nicht, weil die Wege nicht zu erkennen waren. Wie leicht könnte er versehentlich mitten über einige Gräber marschieren, - vielleicht könnte er sogar in ein Grab einbrechen, denn auf dem Hinweg hatte er einige Gräber gesehen, welche sich schon leicht abgesenkt hatten.
Sorge kam auf und steigerte sich zunehmend in heftige Angst, den Flieger nicht rechtzeitig zu erreichen.
Er schaute auf seine Armbanduhr und beschloss etwa eine Stunde warten zu können, ehe er zum Handeln gezwungen ist. Er zwang sich zur Ruhe und glaubte zu erkennen, dass der Nebel allmählich etwas transparenter würde. Hin und wieder schimmerte der Grabstein durch und es drängte sich bei ihm ein eigenartiges Gefühl einer geistigen Zwiesprache mit dem toten Freund auf. Sie waren beide gleichaltrig und kannten sich seit dem zehnten Lebensjahr. Immer war er der große Bruder für jenen Freund, der vor zwei Jahren tödlich mit dem Auto verunglückte. Immer hatte der Freund ihn gebraucht und immer war er hilfreich für ihn da. Aber selber hatte er den Freund eigentlich nie gebraucht. Waren sie doch nur so gute Freunde gewesen, weil der Freund ihn immer "seinen besten Freund" genannt hatte. Er hatte das auch so akzeptiert, obgleich er selber diesen Menschen doch nie als seinen besten Freund bezeichnet hätte. Er hatte ihn doch eigentlich eher eingeengt. Später ist ihm jener Freund als Erwachsener in die gleiche Stadt nachgezogen und hat ihn im Namen der Freundschaft beschworen, nicht fort zu gehen, als er schon einmal auswandern wollte. Und nun scheint er das Gleiche zu wollen. - Es ist doch eigenartig, dass beim Abschiednehmen jener Nebel ihn hier am Grab festhält. Seine Gedanken fließen wie in Trance in seine halblauten Worte: "Ich werde gehen- lieber Freund und Du wirst es diesmal nicht verhindern. - Du hast Dich ewig an mich geklammert und ich habe Dir die Freundschaft geschenkt, die Du für Dich sehen wolltest. - Du warst oft eine Belastung für mich, aber Du hast mich gebraucht und das Gefühl, gebraucht zu werden schmeichelte meiner Eitelkeit. Du warst also der Freund meiner Eitelkeit, aber nicht der meiner Seele, denn Du hast Dich nie oder nur selten für mein seelisches Wohlergehen interessiert, - immer ging es nur um Dich. - Nun lass mich gehen, - ich vergesse Dich nie, aber ich kann auch nichts mehr für Dich tun."
Es wurde ihm fast unheimlich als er sah, wie der Nebel zeitgleich mit seinen letzten Worten transparenter wurde und innerhalb weniger Minuten nur noch vereinzelte hauchdünne Nebelschwaden über einige Gräber glitten. Es war ein wenig Wind aufgekommen und als er die Kapelle erreichte, war vom Nebel schon nichts mehr zu sehen. Als er aus der Manteltasche sein Handy hervorholen wollte, um ein Taxi zu rufen, fiel ihm auf, dass er immer noch jenen kleinen Schlüsselanhänger mit einem silbernen Löwenkopf und eine kleine Kinderschaufel in der Hand hielt. Der Schlüsselanhänger war über viele Jahrzehnte sein Talisman und hatte ihm bei allen schweren Prüfungen im Leben Glück gebracht.
Der tote Freund hatte diesen Talisman immer haben wollen. Heute nun wollte er dem Freund diesen Talisman geben und ihn eingraben, denn ihm bedeutete er Nichts mehr. Hatte er ihn doch vor vielen Jahren von seiner großen Liebe bekommen und über die vielen Jahre wie ein Kleinod gehütet. Er würde ihn immer noch mit sich tragen, wenn eben jene große Liebe ihn nicht so abgrundtief enttäuscht hätte. Sie wollte niemals heiraten, weil sie angeblich eine Eigenbrötlerin war und nicht ständig mit einem anderen Menschen zusammen sein könne. Damit konnte er leben. Doch vor wenigen Wochen erwischte er sie zufällig mit einem anderen Mann schmusend in einer Bar. Sie sah ihn sogleich, stellte ihn diesem fremden Mann vor und bat ihn am gleichen Tisch Platz zu nehmen. Als sie dann von einem Fremden zum Tanz gebeten wurde, begann jener unbekannte Schmuser sehr redselig von ihr zu schwärmen. Er pries ihre Kochkünste und ihre sexuellen Fähigkeiten und lobte ihre Treue in den höchsten Tönen, denn immerhin sei er schon mehr als zehn Jahre mit ihr zusammen. Welch eine Erkenntnis? - War er doch angeblich der allerbeste Freund, den sie so liebe wie keinen. Immer war er für sie da, - immer hat er ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Nun wollte er alles hinter sich lassen und jener Talisman sollte ab heute dem toten Freund gehören. Er konnte aus Zeitmangel nicht mehr zurück zum Grab. So warf er die Schaufel weg und steckte den Schlüsselanhänger wieder ein. In der Wartehalle des Flughafens spielte er in Gedanken verloren mit dem Schlüsselanhänger in seiner Hand. "Zeigst Du mir mal den schönen Löwen?" - sprach ihn plötzlich ein kleiner, etwa fünfjähriger Junge an. "Du kannst ihn haben" - sagte er und der kleine Junge antwortete mit großen und glücklichen Augen: "Du bist mein allerbester Freund"



Eingereicht am 08. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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