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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Vernichtet
© Anne Jansen
"Haben wir unseren Tee schon ausgetrunken, Frau Stenzel?"
Die Pflegerin verzieht ihr Gesicht zu einer freundlichen Miene. Es wirkt angestrengt. Martha Stenzel wendet den Kopf zur Seite. Sie starrt regungslos auf die kahle weiße Wand oberhalb des Besucherstuhles, während die Bettdecke glatt gestrichen wird. Die Tür fällt nicht richtig ins Schloss. Marthas Gesichtsausdruck verliert die Gleichgültigkeit. Sie belauscht das Gespräch im Flur.
"Achte heute Nacht auf die Alte Zimmer sieben!"
Interessiert stützt sich Martha im Bett auf, um kein Wort zu verpassen.
"Sie ist wieder nicht ansprechbar. Könnte also sein, dass sie tobt."
Die alte Frau hört ein Stöhnen.
"Sollen wir sie nicht lieber gleich mit Tabletten ruhig stellen?"
"Lieber nicht. Du kennst doch die Haltung vom Chef. Aber hab ein Auge auf sie! Nicht, dass sie uns wieder die Station auf den Kopf stellt."
Die Stimmen entfernen sich.
Martha lässt sich in ihre Kissen zurücksinken. Sie lächelt bitter bei dem Gedanken, dass sie gemeint ist mit der Alten auf Nummer sieben. Es ist demütigend. Die Menschen in dieser Anstalt haben ja keine Ahnung, wer sie wirklich ist. Martha berührt mit den Fingern ihr Gesicht. Sie streichelt sanft die Wangen und zeichnet behutsam mit den Fingerspitzen die Furchen nach. Steile Einkerbungen, die sie sich im Laufe ihres sechzigjährigen Lebens erworben hat. Mühsal und Scheitern hat ihr Dasein bestimmt. Aber das Alter
hat sie härter gemacht. Sie kann sich nicht mehr ducken. Davor hat die Pflegeleitung Angst. Martha kennt genau die Befürchtungen ihrer Umgebung. Sie nennen es randalieren.
"Sie sind eine Unruhestifterin!"
Beim letzten Mal war die Stimme des Arztes schrill gewesen vor Empörung. Martha Stenzel hat an ihm vorbeigeschaut. Das ist ihre Waffe. Die einzige, die sie noch hat. Sie ist unerreichbar. Für niemanden zu sprechen.
Alle halten sie für verrückt. Martha Stenzel ist eine Irre. Aber eine Irre, die genau weiß, wo sie steht. Wer ihr aufmerksam in die Augen schaut, könnte es vielleicht erkennen. Es liegt Aufbegehren in ihrem Blick und kühle Berechnung.
Martha weiß, dass sie äußerlich verwahrlost. Ihr Geist ist nicht mehr bereit, sich dem Alltag zu stellen. Schlafen und Essen sind zu Belanglosigkeiten verkommen. Diese Dinge hatten ein Leben lang Macht über sie. Damit ist Schluss. Sie will sich nicht mehr tyrannisieren lassen, weder von Bedürfnissen noch von Verhältnissen. Sie ist nur noch auf sich selbst gestellt.
Martha registriert die Geräusche der beiden Pflegerinnen auf dem Flur. Sie hört ihre Schritte. Sie hört den Essenswagen scheppern. Dann hält sie den Atem an. Sie hört die wimmernde Frau von Zimmer neun. Ein fast lautloses Schluchzen und doch scheint es zu ihr hinüber zu gellen, als wäre es ein Hilfeschrei.
Manchmal glaubt sie, dass diese unglückliche Gestalt nur in ihrer Phantasie existiert. Doch dann gibt es auch Tage, da steht die weinende Frau vor ihrem Bett.
Das Wimmern wird lauter. Es schwillt an zu einem ohrenbetäubenden Getöse. Martha weiß, dass sie heute kommen wird. Sie schließt die Augen, öffnet sie und zuckt zusammen. Da steht die Fremde direkt vor ihr, am Fußende ihres Bettes. Martha will sagen: "Geh, geh endlich! Ich kann dir nicht helfen."
Doch kein Laut kommt über ihre Lippen. Die Frau steht da, rauft sich die Haare und zieht geräuschvoll ihre Nase hoch. Es tropft vom Kinn auf die makellos weiße Bettdecke. Martha zittert vor Zorn.
"Hör endlich auf zu greinen!", will sie brüllen, doch sie kann nur ächzen. Martha Stenzel keucht und verschlingt ihre Finger in einander, so dass die Fingerknöchel weiß hervortreten. Ihr Blick verirrt sich zu den Augen der anderen.
Da trifft sie die Wahrheit wie ein Blitzschlag. Sie durchschaut das Trugbild. Martha erkennt den Spiegel. Diese jämmerliche Gestalt ist sie selbst. Schwach und elend. Der Zorn versickert und zurück bleibt eine unerträgliche Scham.
Martha ist angespannt wie noch nie in ihrem Leben. Auf diese Weise gelingt es ihr alle Bewegungen zu koordinieren. Ihre Füße tasten sich zum Bettrand, rutschen in die Tiefe und suchen die abgestellten Pantoffeln auf dem Fußboden. Die alte Frau richtet sich auf. Sie weiß genau, was sie tun muss.
Martha schleppt sich zur Tür. Sie späht auf den Flur. Niemand ist zu sehen. Bis Zimmer neun muss sie es schaffen. Sie wird stark sein. Sie wird das Wimmern ersticken. Sie wird diese Heulsuse umbringen. Martha hat alles Erbarmen abgelegt und kommt sich gütig vor und mild.
Stunden später wird eine Tote gefunden. Eine einsame Gestalt im großen Korridor. Seltsam verkrümmt und wachsbleich liegt sie an der Schwelle von Zimmer neun. Die Tür ist nur angelehnt. Kein Laut ist zu hören.
Eingereicht am 08. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.