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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ein Spätsommertag und Anne

© Ursula Schmid-Spreer


Wenn ich an Anne denke, dann höre ich das Meer rauschen, dann habe ich den Duft von Tang und Salz in der Nase. Ich spüre den Sand zwischen meinen Zehen und Wasserperlen auf meiner Haut.
Ich hatte mich wider einmal überreden lassen. Ich konnte einfach nicht nein sagen, weil ich viel zu gutmütig bin. Mitte Oktober war es schon. Noch vor wenigen Wochen hatten sich Touristenschwärme durch die engen Gässchen geschoben und die spanischen camereras priesen ihre Paellas natürlich als die besten des ganzen Ortes an. Und jetzt? Es war ruhig geworden in dem idyllischen Fischerort am Mittelmeer. Viele große Paellapfannen lagen gut eingefettet in Holzwolle, bereit in den Winterschlaf zu gehen. Für mich, zwei Dutzend Rentner, die sich außerhalb der Saison hierher verirrten, würden kleinere Pfannen reichen.
"Du kannst doch so gut mit den Oldies!", hatte mein Chef gesagt. "Komm schon, eine Woche Spanien bevor das Wintersemester wieder beginnt." Und ich hatte mich breit schlagen lassen, weil ich wieder einmal gefällig sein wollte.
"So geht das aber nicht, Fräulein...!" Das war das erste Wort, das ich von dem dicken Herrn mit dem spärlichen Haarkranz hörte. "Der neben mir raucht ja wie ein Schlot; ich will einen anderen Platz." Ein strafender Blick zu seinem Nachbarn.
"Mir ist ein Fensterplatz zugesagt worden", ereiferte sich eine andere Dame. Sie hatte eine spitze Nase, die ziemlich blass geworden war.
In diesem Tenor ging es weiter - siebzehn lange Autostunden.
Mal war die Pause zu kurz, dann fuhr der Chauffeur zu langsam oder zu schnell, ich erklärte zu viel oder zu wenig von den Sehenswürdigkeiten oder die Vorder- und Hintermänner waren zu laut. Ich dachte schon, wir würden nie ankommen.
Aber dann lagen endlich alle Gäste im Hotelbett, abgefüttert, satt und friedlich - hoffentlich.
Ich krempelte meine Jeans hoch, nahm die Sandalen in die Hand und ging die wenigen Schritte zum Sandstrand. Ich wollte versuchen abzuschalten.
Da saß sie. Schwarze Haare im Pagenschnitt umrahmten ein blasses Gesicht. Der leuchtend rote Lippenstift ließ ihren Mund wie eine pralle Kirsche aussehen. Wie alt war sie wohl? Vielleicht vierzig? Lachfältchen um die Augen. Sonst eine glatte Haut, fünfundzwanzig?
Sie hatte die Knie angewinkelt und das T-Shirt darüber gezogen. Ihre nackten Zehen schippten Sandhäufchen beiseite. Ihre Arme lagen verschränkt auf ihren Knien. Im Mondlicht erschien ihre Haut fast weiß. Das helle Mondlicht ließ sie wie einen schwarzen Fleck auf dem gelben Sand erscheinen. Etwas Ruhiges und Friedliches ging von ihr aus.
Eine ganze Weile stand ich da, die Sandalen in der Hand. Unschlüssig zog ich kleine Kreise in den Sand. Ich beobachtete dieses Bild, das ich als harmonisch empfand.
"Willst du nicht herkommen?"
"Meinst du mich?"
"Klar oder ist sonst noch jemand da?"
Zögernd ging ich auf sie zu.
"Setz dich zu mir. Ich bin Anne."
"Woher weißt du, dass ich Deutsch spreche?"
"Ich spüre es an der Art, wie du dich auf dem Sand bewegt hast."
Da sie mich in diesem Moment anschaute, verkniff ich es mir an die Stirn zu tippen. Ihre Augen waren groß, dicht bewimpert, dunkel. Diese Augen schienen mich zu fixieren. Nicht mehr loszulassen.
"Dir stinkts gewaltig, habe ich Recht?", sagte Anne. "Dieser Teil Spaniens ist um diese Jahreszeit nicht mehr das, was sich Touristen erhoffen, vor allem, wenn sie jung sind."
"Oh nein, das ist es nicht, ich arbeite hier, betreue einen Rentnerclub. Aber alles scheint schief zu laufen, nur Genörgel", beeilte ich mich zu sagen. "Der eine raucht wie ein Schlot, der andere schnarcht, das Essen ist zu kalt oder zu heiß, die Betten zu weich oder zu hart, der Aufzug kaputt und die Bettnachbarin, die ich zuweisen musste, redet im Schlaf. Was will man mehr? Einer Horde Kleinkinder könnte man wenigstens Eimerchen und Schaufel in die Hand drücken, dann wären sie beschäftigt und würden Ruhe geben."
Anne lachte herzlich. Ihre Hände verließen die Knie. Sie ließ Sand durch ihre Finger rieseln und verlagerte ihr Gewicht auf die andere Seite. Ich hatte das Gefühl, dass ihre Augen um eine weitere Nuance dunkler geworden waren. Das Mondlicht zauberte bizarre Lichtreflexe in ihr dunkles Haar.
"Wie lange machst du das schon?", fragte sie.
"Viel zu lange, nach jeder Fahrt sage ich mir, das war die letzte."
"Und warum machst du dann immer wieder weiter?"
"Weil ich zu gutmütig bin und nicht nein sagen kann."
"Kann es sein, dass dir nicht die Leute auf den Keks gehen, sondern du dir selber? Du willst ein liebes Mädchen sein. Hast du Angst, dass man dich dann nicht mehr liebt, wenn du einmal nein sagst?"
Irritiert sah ich Anne an. Meine Mutter kam mir in den Sinn. Wie oft hatte sie gesagt, wenn du nicht folgst, musst du in den Keller. Da ich schreckliche Angst vor dem dunklen Keller hatte, bemühte ich mich immer sehr ein artiges Mädchen zu sein. Und so war es bis heute. Meine Kommilitonen vergnügten sich in der Mensa, während ich die Vorlesung mitschrieb und dann großzügig für alle kopierte. Meine Schwester erachtete es als selbstverständlich, dass ich ihren Sohn einhütete und meine Mutter, mittlerweile ans Bett gefesselt, obwohl sie laut Arzt durchaus hätte laufen können, brauchte nur mit dem Finger zu schnippen und vorwurfsvoll zu schauen, schon hatte ich ein schlechtes Gewissen.
"Glaube mir", sagte Anne leise, "man liebt dich nicht, wenn du immer ja sagst, im Gegenteil, man verachtet dich, weil du kein Rückgrat zeigst. Es ist gar nicht so schwer nein zu sagen", probiere es mal aus.
Ich war betroffen. Anne hatte Recht. Nicht das Gemecker der Leute war der Anlass meiner Unzufriedenheit. ich selbst stand mir im Weg.
"Es stimmt, ich habe Angst, dass man mit mir böse ist, wenn ich nein sage. Deshalb habe ich auch diese Tour angenommen. Jeder weiß, wie anstrengend ein Rentnerverein in der Nachsaison ist."
"Sag einfach mal nein!"
"Nein, nein, nein...!"
Übermütig sprang ich auf, nahm Annes feingliedrige rechte Hand und tanzte mit ihr auf dem Sand, dass er spritzte. In der anderen Hand hielt sie einen Blindenstock.
"Du musst nicht erschrecken", sagte Anne, "ich sehe viel mehr, als andere Menschen - mit meinen Ohren, mit meinen Händen."
Verwundert sah ich Anne nach, wie sie den Stock tastend vor sich herführte und die Uferpromenade emporstieg.
Ich habe Anne nie wieder gesehen.



Eingereicht am 08. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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