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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Grün

© Hanna Dunkel


So hatte sie noch keiner geliebt. Helen fühlte sich, als sei eine Meereswoge über sie hinweggebraust, hätte sie um und um gewirbelt und endlich an den Strand geworfen, atemlos und glücklich. Woher er gekommen war, wusste sie nicht. Er war auf einmal da gewesen. Gerade hatte sie noch ihr Kissen um Kurt nass geweint, der nun endgültig weg war, da hatte er sie wie ein warmer duftender Trost in die Arme genommen. Das war so, als müsste es sein. Sie hatte keine Fragen, nicht einmal einen Gedanken an sein fremdartiges Aussehen gehabt, verzaubert von seinem Duft, der war wie Seegras, Heide und sonnenwarme Kiefern. Sie strich mit der Hand über seinen dichten Pelz, der ihn von Kopf bis zu den Füßen bedeckte. In dem spärlichen Licht, das von draußen hereinkam, schimmerte er grün, samtweich war er, wie das Fell eines Panthers.
Nun fragte sie doch: "Wo kommst du her?" Er zeigte nach draußen, auf das Sternbild des Orion. Was er sagte, klang wie ein sanftes Schnurren, doch in ihrer Brust formten sich Worte. "Beteigeuze, das ist der Stern, den die Araber ‚Hand der Riesin' nennen. Das ist unsere Sonne. Sie ist vierhundertmal so groß wie die, um die die Erde kreist. Mein Heimatplanet heißt Gomba."
Helen sah ihn an. Er lächelte und ließ seine Finger sacht über ihren Bauch gleiten. Dann fing er wieder an zu schnurren. Sie schloss die Augen und sah einen Planeten mit grün bepelzten Wesen, die in der Sonne lagen, die schwammen oder durch die Luft flogen. Sie brauchten kein Haus, nicht einmal Nahrung, denn ihre Energie erhielten sie von der Sonne. Helen öffnete die Augen. "Ihr könnt das Sonnenlicht wie die Bäume nutzen?", fragte sie.
Er nickte.
"Und was macht ihr den ganzen Tag?", wollte sie weiter wissen.
"Wir liegen in der Sonne, lieben uns, singen und erzählen uns Geschichten. Manchmal kommen wir auf andere Planeten, selbst auf einen, der vom Prinzip des Fressens und Gefressenwerdens beherrscht wird. Wir sammeln gute neue Geschichten, so wie die von dir und der Gans", erklang seine Stimme in ihr.
"Davon weißt du?" Helen hatte beinahe vergessen, wann und wie es angefangen hatte. "Kannst du mich verstehen, wenn ich an etwas denke?", fragte Helen und drückte ihre Nase in seinen duftenden Pelz.
"Natürlich!", war die geschnurrte Antwort.
"Dann will ich dich mit auf den Königsteiner Weihnachtsmarkt nehmen", sagte sie. "Zu beiden Seiten der Hauptstraße war eine Reihe mit Verkaufsbuden, Holzspielzeug gab es, Glühwein dampfte in großen Töpfen und wurde in Bechern ausgeschenkt, woanders konnte man zusehen, wie aus hauchdünnem Teig Crepes gebacken wurden. Aus Frankreich kamen gerade Bündel von Mistelzweigen an und wurden zum Verkauf ausgebreitet. Am Ende der Budenreihe war ein kleiner Platz. Dort standen in einem kleinen Stall auf dürftigem Stroh zwei Gänse. Sie waren nur zum Anschauen da, du weißt, alle Kinder lieben Tiere.
Während Kurt sich am benachbarten Stand in die lange Schlange für eine Bratwurst einreihte, stand ich bei den Gänsen. Die eine Gans schaute mich an, dann schob sie einen Blechnapf hin und her, er war leer. Wollte sie Futter haben? Sie sah mich wieder an und tunkte ihren Schnabel in den leeren Blechnapf, hob den Kopf und tauchte den Schnabel wieder ein. Futter war in einer anderen Schale. Mir wurde klar, sie bat mich um Wasser, sie hatte nichts zu trinken. Ich verstand eine Gans! Mir, einer Fremden, einer, die sich mit Tieren gar nicht auskennt, eine, die immer in einer Stadt gelebt hat, erklärte diese Gans, dass sie trinken wollte. Sie schaute mich an und ich beeilte mich, ihr etwas Wasser in einer Kneipe zu besorgen."
Helen legte sich auf den Rücken und sah entspannt zu dem Stern Beteigeuze hinauf. "Ich denke nicht, dass Vegetarier die besseren Menschen sind, aber wenn man einmal anfängt, darüber nachzudenken, wie wir mit den Tieren umgehen - ich konnte von da an kein Fleisch mehr essen. Das ist alles, das ist meine kleine Geschichte von der Gans. Aber sie hat mein Leben verändert."
Er drückte sie an sich. "Sie ist schön. Ich werde sie viele Male auf Gomba erzählen", hörte sie. Dann begann er zu singen. Helen war es, als schwebe sie ohne Angst durch warmes Wasser. Sie ließ sich tragen und wiegen und wusste, dass er nie wiederkehren würde. Aber das war selbstverständlich und gut so. Sie war ganz und gar zufrieden.



Eingereicht am 08. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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