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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Salto Mortale

© Claudia Niklas


Uralt war er. Fast dreißig Jahre waren nicht spurlos an ihm vorüber gegangen, aber seine kleinen Knopfaugen schimmerten noch immer in sanftem Grün, und sein Fell leuchtete in hellem, vom vielen Waschen in Kindertagen weich gewordenem Rot. Der Esel hieß Benjamin.
Alles an Benjamin war rund, seine Füße, seine Nase, seine langen Ohren, die ihm freundlich ins Gesicht hingen, rund waren seine Augen, rund war sein Gemüt. Wie immer hockte der alte Esel auf seinem Hochsitz, die Vorderbeine ordentlich über Erich Fromm gelegt. Das linke Bein bedeckte die Kunst des Zuhörens, das rechte verbarg Gesellschaft und Seele. Alles in allem bot Erich Fromm eine recht solide Basis, um gemütlich darauf zu lagern und sich die Welt von oben anzuschauen. Und das tat Benjamin.
Tagein, tagaus heftete er seine grünen Knopfaugen auf den riesigen rechteckigen Holztisch tief unter ihm, auf die Stühle, den Holzfußboden, und auf die Menschen, die herbeikamen, sich niederließen, um zu reden, zu essen, zu malen, zu lachen, dann aufstanden und sich ein anderes Mal wieder niederließen, um hier zu reden, zu essen, zu malen, zu lachen. Manchmal schwiegen sie, dass man die Luft knistern hören konnte, zu anderen Zeiten unterhielten sie sich auf das Lebhafteste bis tief in die dunkle Nacht hinein, und manchmal erlebten die Kinder unter dem Tisch die gefährlichsten Abenteuer. Aber so weit reichte Benjamins Blick nie.
Dem Esel machte das nichts aus, denn in der Kunst des Zuhörens war er ein Meister geworden. Jede Gemütsverfassung, jede noch so unterschwellige Spannung konnte er aus der Stimmlage der Menschen heraushören. Er wusste genau, wie es um jeden Einzelnen bestellt war, ob er ausgeglichen, ausgelassen oder ausgehungert war, ob er dem anderen wirklich zuhörte oder nur so tat, oder ob er tief in seine Seele hinein horchte. Die kleine Gesellschaft dort unten war dem Esel vertraut. Manche von ihnen hatte er heranwachsen sehen, manch strahlendes Lachen war ihm geschenkt worden und manch bittere Träne. Ja, sie waren ihm zutiefst vertraut.
Manchmal schauten sie zu ihm hoch und lächelten, weil die Erinnerungen, die mit ihm verbunden waren, ihr Herz berührten. Und manchmal sagten sie: "Der gute alte Benjamin." Tief in seinem Inneren lächelte er zurück, und tief in ihrem Inneren wussten sie, dass er lächelte.
Alles war, wie es sein sollte. Alles war, wie es immer gewesen war. Bis auf die Tatsache, dass er seit Jahren schon hier oben hockte. Bis auf die andere Tatsache, dass niemand mehr mit ihm schmuste. Bis auf die dritte Tatsache, dass niemand mehr mit ihm spielte. Aber alles war gut, und Benjamin fügte sich in sein Schicksal, das er sowieso nicht ändern konnte.
Bis eines Tages ... ja, bis eines Tages eine befremdliche, ja, Furcht einflößende Nachbarin einzog. Giftgrün von der Nase bis zum Schwanzende war sie. Aus ihrem riesigen, schwarzen Maul schwänzelte die längste blutrote Zunge heraus, die Benjamin je gesehen hatte, und über den glatten Körper der Giftgrünen war vom Scheitel bis zur Sohle ein so beunruhigendes, schwarzes Zickzackband gezogen, dass dem armen Esel vom bloßen Hinsehen schon schwindlig wurde.
Zwei Etagen über Benjamin hatte sich die Dame niedergelassen und sich in einer feinen Holzkiste eingerollt. Aber ihren Kopf, der fast so groß war wie Benjamins ganzer Körper, ließ sie bedrohlich aus der Kiste herabhängen, und mit ihrem großen schwarzen Maul hätte sie Benjamins Ohren anknabbern können, wenn diese aufrecht gestanden hätten.
Der alte Esel dankte Gott für seine Schlappohren und fügte sich in sein Schicksal. Was hätte er sonst machen sollen. Doch ständig spürte er die Fremde kalt im Genick. Eine Weile bemühte er sich, von Erich Fromm wegzurutschen, aber Alfred Adlers Individualpsychologie bildete eine unüberwindliche Barriere, und so musste er ausharren.
"Vertraue mir...", zischte es sanft von oben, und eisiger Atem strich über seinen Nacken.
Sicherheitshalber tat Benjamin, als ob er nichts gehört hätte.
"Vertraue mir...", flüsterte es unbeirrt, "vertraue mir..."
Benjamin wusste, was mit Leuten geschah, die Schlangen vertrauten. Die Schlange Ka war ihm aus längst versunkenen Tagen noch lebhaft in Erinnerung. Er stellte sich taub, aber beobachtete sie angestrengt aus den Augenwinkeln.
"Vertraue mir...", lockte sie sanft, und fast schon konnte Benjamin hinter seinem Ohr ihre Zungenspitze fühlen.
Er versuchte, sich kleiner zu machen.
"Vertraue mir..."
Er versuchte, die Ohren noch mehr hängen zu lassen, sodass sie enger am Kopf anlägen.
"Vertraue mir..."
Benjamin kniff seinen Schwanz ein.
"Vertraue mir..."
Sie ließ nicht locker, und sie schien näher gekommen zu sein.
"Warum hilft mir denn keiner?" Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf wie Gift.
"Vertraue mir..."
"Warum sieht denn niemand, in welcher Not ich bin?"
"Vertraue mir..."
Vergnügtes Gelächter schallte Benjamin von unten entgegen. Eine selige Gesellschaft schwelgte am Tisch und hatte die Fenster weit geöffnet, um die laue Sommerabendluft hereinzulassen.
"Hilfe!" schrie der alte Esel, "Zu Hilfe!"
"Sie hören dich nicht. Sie sind mit sich selbst beschäftigt."
"Hilfe!" schrie Benjamin erneut. "Zu Hilfe!"
"Esel! Du siehst doch, dass sie Besseres zu tun haben."
"Aber sie sind die Einzigen, die mich hier runter holen können!"
"Das sind sie natürlich nicht", säuselte die Schlange, "denk doch mal nach ..."
"Holt mich runter!" schrie Benjamin.
"Ich bin ein geduldiges Wesen", raunte ihm die Schlange zu, "denk nach, du kannst es."
"Ich kann was?"
Der alte Esel war so entgeistert, dass er vor lauter Überraschung fast seinen Schrecken verlor.
"Denken, hab ich gesagt."
"Du spinnst, ich bin doch ein Esel." Ein trockenes Lachen entfuhr seiner Kehle. Was wollte die Giftgrüne eigentlich von ihm? Was bildete sie sich ein? Kam einfach daher, machte ihm Angst, und ...
"Vertraue mir ..."
"Ich wüsste nicht, aus welchem Grund. Wir kennen uns doch überhaupt nicht." Der Schrecken saß Benjamin wieder fest im Genick.
"Denk nach, hab ich gesagt. Wer kann dich hier runterholen?"
Benjamin schwieg. Was meinte sie nur? Wer konnte ihn hier runterholen? Doch nicht etwa sie? Wie sollte sie das denn machen?
Sie wohnte ja noch zwei Etagen höher als er. Und selbst wenn sie sich in eine Rutsche verwandeln konnte wie die Schlange Ka, wie sollte er jemals auf ihren Rücken gelangen? Er kam ja nicht einmal an Alfred Adlers Individualpsychologie vorbei. Nein, einen Ausweg gab es nicht. Entweder die Menschen erbarmten sich seiner, oder er blieb an Erich Fromm hängen und seiner Nachbarin ausgeliefert auf Gedeih und Verderb.
"Ich sehe, du denkst", kam es von oben. "Brav."
"Was siehst du schon?", entgegnete der alte Esel.
"Ich sehe, dass du unzufrieden bist."
"Mir geht's gut. Kümmere dich um deinen eigenen Kram."
"Das tue ich doch gerade."
"Indem du mir meine Ruhe raubst?" Benjamin schnaubte. Dieser gönnerhafte, alte ... Ihm fehlten die Worte.
"Brav, mein Kleiner, nur weiter so, dieser gönnerhafte, alte ... und? Komm schon!"
"Giftzaaaahn!" posaunte Benjamin und schreckte zusammen. War er das gewesen?
Die Schlange gackerte wie ein Huhn. "Bravo! Du kannst ja richtig wütend werden."
"Weil du mich nicht in Ruhe lässt!", bockte Benjamin.
"Warum sollte ich?"
"Weil ich mein eigener Herr bin!"
"Heeeeerr?" Die Schlange zog das Wort betont in die Länge. "Ich würde eher sagen: Esel ..."
Benjamin schlug mit den Hinterbeinen aus. "Zum Kuckuck noch mal. Ich bin ein ehrenwerter Esel! Bist du eigentlich nur gekommen, um mich zu beleidigen?"
Eine Weile blieb es still über ihm.
"Denk doch nach", ertönte es dann sanft über seinem linken Ohr.
"Ich habe dir eine Frage gestellt, jetzt gib mir gefälligst eine Antwort", beharrte der Esel bockig.
"Das kann ich nicht", entgegnete die Giftgrüne, "ich kann dir nur helfen."
"Schöne Hilfe!", zeterte Benjamin. "Darauf kann ich wirklich verzichten. Mein Leben war rund und in Ordnung bis zu dem Tag, als du dich hier breit gemacht hast."
"Hast du ein Glück, dass ich so geduldig mit dir bin. War dein Leben wirklich in Ordnung? War es wirklich so rund, wie du dir weismachen willst?"
"Alles war, wie es sein soll." Der Trotz in des Esels Stimme war unüberhörbar geworden.
"Wie es sein soll?" Die Sanftheit in der Schlange Stimme fing an, schmerzhaft zu werden.
"Ja, zum Teufel!", entfuhr es Benjamin. Fast gleichzeitig zuckte er zusammen. Das war das erste Mal in seinem langen Leben, dass er richtig geflucht hatte.
"Immerhin, zumindest wütend werden kannst du ..."
"Und wenn du nicht endlich die Klappe hältst, werde ich noch viel wütender." Benjamin fühlte, wie sich in ihm so lebhaftes Rot zusammenbraute, wie er es nur aus Kindertagen in Erinnerung hatte.
"Aber ..."
"Maul haaalten!" Benjamin kochte. Ein geruhsames Leben hatte er geführt, bis dieser Giftzahn über ihm eingezogen war. Morgens, mittags, abends, er wusste, wann welche Tageszeit war, er wusste, wann normalerweise die Nachtruhe für die Kinder begann und wann für die Erwachsenen, er wusste, wann sie sich vertrugen und wann nicht, er bekam die Geburtstage der Kinder mit und die Arbeit der Erwachsenen am Computer. Na ja, die Mahlzeiten nahmen sie, wenn sie unter sich waren, in der Küche ein; an seinem Tisch pflegten sie lediglich zu essen, wenn es mehr als vier hungrige Mäuler zu stopfen gab. Aber er, Benjamin, hatte es doch gut mit ihnen. Na ja, "mit ihnen" war vielleicht zuviel gesagt, doch bei ihnen, ja, bei ihnen hatte er es gut. Unverwandt blickte er auf den Holztisch zu seinen Füßen. Es kam natürlich darauf an, was man unter "gut" verstehen wollte ...
Benjamins Gedanken glitten zurück durch Räume und Zeiten, bis er sich auf einer blaukarierten Bettdecke wiederfand. Grob nahm ihn eine kleine Jungenhand, und ehe Benjamin sich's versah, wirbelte er Hals über Kopf durch die Lüfte bis fast an die Zimmerdecke, "Salto mortale!" schallte es ihm ausgelassen von unten nach, und ehe er gegen die Zimmerdecke schlagen konnte, lag er schon wieder auf der weichen, blaukarierten Bettdecke, wurde gegriffen, geknuddelt, dass ihm fast die Luft wegblieb und bekam ein "Applaus, meine Damen und Herren, für den waghalsigsten Zirkusesel aller Zeiten!" in die langen Ohren gebrüllt, bevor er zum nächsten Salto mortale in die Lüfte fuhr. Ja, das war ein Leben, was für ein Leben ... Damals hatte er sich so lebendig gefühlt ...
Und heute? Was sollte er sich beschweren? Er hatte doch, was er wollte, war nicht zum Second-hand-Esel verkommen noch im Keller oder gar auf dem Müll gelandet. Er hatte viele Umzüge miterlebt, war in Kartons verpackt und wieder ausgepackt worden, hatte sich mit der Zeit in neuen Zimmern zurechtgefunden und, nun ja, hatte sich auch damit abgefunden, dass er immer weiter von den Menschen fortgerückt wurde, je älter er wurde. Die Zeiten ändern sich nun einmal, und er war einsichtig genug gewesen, sich damit abzufinden. Was sollte ein alter Esel wie er noch für Forderungen ans Leben stellen?
"Denk nach", raunte es unerbittlich hinter seinem Ohr.
Forderungen ans Leben, welch merkwürdige Formulierung, die Benjamin noch nie in den Sinn gekommen war. Er hatte sich von einem Akrobaten zu einem Meister im Zuhören entwickelt, das war doch was, er hatte ein Gefühl für Stimmen, für Stimmungen entwickelt, darauf konnte er stolz sein.
"Und was hat dir das gebracht, Esel?"
Nur undeutlich vernahm er die sanfte Stimme.
Was es ihm gebracht hatte? Benjamin brauchte nicht lange darüber nachzudenken. Trost hatte es ihm gebracht. Rund hatte es ihn gemacht.
"Sieh einer an. Rund hat es dich gemacht. Und warum klebst du dann wie ein Klotz auf Erich Fromm und rührst dich nicht von der Stelle?"
Benjamin wandte seinen Kopf der Schlange zu und spürte, wie Tränen in ihm aufstiegen.
"Ich kann doch nicht anders", krächzte er.
"Wer sagt das?"
"Ich, verdammt noch mal!"
"Wirklich? Du?"
Benjamin stutzte. Ja, wer denn sonst, dachte er, während ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss. Ein kleiner Gedanke, ein wirklich ganz kleiner Gedanke. Ich? Was ist das? All die vielen Du's der letzten fast dreißig Jahre schienen ihm so vertraut, aber Ich? Was war das? Wer war das? Dicke Tränen kullerten aus seinen sanften Augen und tropften auf den Fußboden, und während sich dort eine kleine Pfütze bildete, formte sich in seinem Inneren eine kalte Klarheit, die ihn erschauern ließ. Das Zuhören hatte ihn nicht rund gemacht. Ausgestopft hatte er sich damit, ausgestopft das Loch, das sich unmerklich ausgedehnt hatte. Nicht einmal hätte er sagen können, wann es angefangen hatte, irgendwann, schleichend, eine unsichtbare Gefahr, die ihn bedrohte, die er fernhalten musste, gegen die er immer mehr seiner Kraft aufbieten musste, um sie in Schach zu halten.
"Aber Schach matt bist jetzt du", stellte sanft die Schlange fest.
Der alte Esel ließ den Kopf hängen. "Was soll ich machen?" fragte er kläglich.
"Wie gesagt", flüsterte es von oben, "mit Antworten kann ich dir leider nicht helfen."
Mit Antworten hatte ihm ja noch nie jemand helfen können. War er überhaupt je von irgendjemandem gehört worden? Benjamin seufzte und ließ den Kopf noch tiefer hängen. Doch was war das? Dieses dunkle Blau, das er plötzlich zwischen seinen Beinen aufleuchten sah, war ihm vollkommen unbekannt. Da hatte er jahrelang auf Gesellschaft und Seele und der Kunst des Zuhörens gesessen und gar nicht gemerkt, dass es dazwischen ja auch noch etwas gab. Ein wenig grätschte er seine Vorderbeine, um besser schauen zu können. Er ächzte und schnaufte, aber nach einer Weile hatte er es geschafft. Weiße Schrift auf Dunkelblau blinkte ihm entgegen: Erich Fromm, aber der Titel war Benjamin neu. Haben oder Sein, stand da.
Ich hab doch alles, dachte Benjamin trotzig. Aber das Sein ließ nicht locker.
Ich bin doch wer, dachte Benjamin trotzig. Aber das Sein ließ nicht locker.
Ich bin ich, dachte Benjamin trotzig. Aber das Sein ließ nicht locker.
Ich bin, dachte Benjamin. Aber, bin ich denn?
"Möchtest du das nicht endlich herausfinden, alter Esel?"
"Wenn ich wüsste, wie", gab Benjamin zögernd zurück, "du hilfst mir ja nicht."
"Muss ich dich erst beißen?" Der Frage folgte ein vergnügtes Gelächter. "Also gut, wir fassen zusammen: Du warst einmal ein großer Akrobat, du wurdest geliebt und hattest deinen Platz in den Herzen einiger Menschen. Jetzt bist du ein Meister im Zuhören und hast keinen Platz mehr im Herzen einiger Menschen."
Entrüstet wollte Benjamin widersprechen, aber seine Entrüstung blieb ihm im Halse stecken. Sie hatte ja Recht. Er hatte sich gefüttert, voll gestopft, ja ausgestopft mit einer Illusion, die sich als Seifenblase entpuppte. Meister im Zuhören zu sein, bedeutete doch nicht, dass ihm jemand zuhörte. Meister in Sensibilität zu sein, hieß doch nicht, dass irgendjemand auf ihn sensibel reagieren musste. Er hatte sich getäuscht, zutiefst getäuscht in den Leuten, die er liebte.
"Vorsicht", raunte die sanfte Stimme von oben, "verirre dich nicht. Fordere nicht von anderen, was du nicht selbst zu geben bereit bist."
"Aber ich war derjenige, der immer ein offenes Ohr hatte."
"Ach ja? Gegen wen?"
"Gegen alle!"
"Wirklich?"
"Ich wüsste nicht, wen ich übergangen hätte!"
"Denk nach, kleiner Esel, denk nach ..."
Und Benjamin dachte, den Kopf zwischen die Beine gelegt, Haben oder Sein im Blick. Und wieder formte sich tief in seinem Inneren ein winzig kleiner, äußerst ungemütlicher Gedanke, der unablässig größer wurde und bald nicht mehr zu überhören war. Benjamin rutschte ein wenig hin und her, aber der Gedanke verließ ihn nicht. Schließlich hob er den Kopf. "Ich weiß, was du meinst", sagte er düster.
"Mich würde eher interessieren, was du meinst."
"Ich", sagte der Esel. "Du meinst, ich habe mich übergangen."
"Was ich meine, spielt hier eine untergeordnete Rolle."
"Ich glaube, ich habe mich übergangen."
"Und du glaubst, du dürftest keine Forderungen an dein Leben stellen. Wie könntest du auch, wenn du dich zwar auf einer Meisterschaft im Zuhören ausruhst, die Forderungen deines eigenen Lebens aber gar nicht hörst ..."
"Kannst du nicht ein bisschen weniger anstrengend sein?" Benjamin fühlte sich so unrund, so ungemütlich, wie in seinem ganzen Leben noch nicht. Ächzend rutschte er auf den Büchern herum.
"Warum freust du dich nicht, dass ich so anstrengend bin. Knack die Nuss."
Benjamin stöhnte. Er war ein Esel und kein dahergelaufenes Eichhörnchen.
"Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?"
Eine Weile wartete er auf die Antwort, aber er bekam keine. Elendige, dachte Benjamin. Nüsse knacken! Als hätte ich nichts Besseres zu tun. Benjamin rauchte vor Zorn. Die kann mich mal!
Von unten schallte ihm Lachen entgegen, das nicht ihm gegolten hatte. Die können mich auch mal, dachte Benjamin wutentbrannt.
"Oh Gott", seufzte es ihm von oben entgegen. Und der kann mich erst recht mal, dachte Benjamin und schmorte, dass es ihm fast zu den Schlappohren herauskam.
"Du bist wunderschön rot", kam es von oben.
"Schnauze!", schrie Benjamin.
"Du bist wunderbar wütend."
So, das reichte. Der würde er es zeigen. Mit einem Satz stand Benjamin auf seinen vier Füßen. Er reckte den Hals, er öffnete das Maul, er spannte seine Hinterläufe, setzte zum Sprung an, schrie: "Ich kooooommmmme!" und katapultierte sich mit einem Satz auf den Tisch hinunter, segelte an Flaschen und Karaffen vorbei, rutschte haarscharf an einer Erdnussschale entlang und bremste mit aller Kraft in der Mitte des Tischs.
"Ich will eine Familie", brüllte er, "ich will gehört werden, ich will gesehen werden, ich will geliebt werden, ich will spielen, ich will ..." Ein Schluchzer entrang sich seiner Kehle.
Vollkommen still wurde es um ihn herum. Dann rückten ein paar Stühle.
"Mensch", sagte der Besuch, "hab ich mich erschreckt."
"Wie kann denn der Benjamin einfach runterfallen?" fragte die Frau des Hauses und schaute zu den Büchern hinauf, als könnten die ihre Frage beantworten.
"Hört mich!", brüllte Benjamin.
Der Hausherr ergriff seinen kleinen, alten Esel, hielt ihn sich vor die Brust und schaute ihm in die Augen.
"Was machst du denn für Sachen?", fragte er liebevoll und drückte ihn an sich, während er seinem Besuch erklärte, wer Benjamin war.
"Und warum hast du ihn da oben auf die Bücher gesetzt?", fragte der Besuch. "Du hast doch Kinder."
"Die würden zu unsanft mit ihm umgehen", erklärte der Hausherr, "weißt du, Benjamin ist doch schon ziemlich alt."
"Ich will spielen", brüllte Benjamin aus Leibeskräften.
"Aber sonderlich zerbrechlich wirkt er nicht", meinte der Besuch.
"Komisch", bemerkte die Frau des Hauses, " irgendwie kommt er mir heute roter vor als sonst."
"Du hast recht", erwiderte ihr Mann nachdenklich, "wie merkwürdig." Er küsste seinen alten Esel auf die runde Nase. "Alles Gute kommt von oben", sagte er lachend, stand auf, stieg auf den Stuhl und setzte Benjamin wieder auf Erich Fromm, bevor er wieder hinabstieg, in die Runde blickte und fragte: "Wo waren wir stehen geblieben?"
"Das darf doch wohl nicht wahr sein." Benjamin schaute von oben auf den Tisch hinunter, sein eines Bein auf der Kunst des Zuhörens, das andere auf Gesellschaft und Seele, dazwischen Haben oder Sein.
"Und nun?" kam die schon fast vertraute Stimme von oben, "alles, wie gehabt, du Meister im Zuhören?"
"Hör auf, mich zu ärgern!" In Benjamins Stimme schwang ein gefährliches Grollen mit. "Wer bin ich, dass ich mich so abspeisen lassen muss?"
"Diese kluge Frage darfst du dir wieder selbst beantworten", kicherte es von oben. Aber diesmal hatte Benjamin gar nicht hingehört, denn im selben Moment waren Entschluss und Kraft Eins gewesen, und eh er sich's versah, war er erneut mitten auf dem Tisch gelandet, stand da in leuchtendem Rot zwischen Wasser, Wein und Erdnüssen und blickte herausfordernd in die Runde.
"Versteht Ihr denn gar nichts?", fragte er laut und deutlich.
Die Menschen hatten aufgehört zu reden. Sie schauten sich an, sie schauten Benjamin an.
"Was hat das zu bedeuten?", fragte schließlich der Besuch.
"Irgendwas hat das zu bedeuten", sagte gleichzeitig die Frau des Hauses. Beide schauten den Hausherrn an. "Ich glaube, ich weiß, was er will", sagte dieser zögernd.
"Kein Esel fliegt zufällig zweimal vom Bücherregal mitten auf einen Esstisch", überlegte seine Frau.
"Nein", antwortete ihr Mann. "Und gefallen ist er nicht. Dann wäre er nämlich auf dem Fußboden gelandet."
"Ihr habt einen wirklich wundersamen Esel", sagte der Besuch.
Der Hausherr lachte. "Stimmt", sagte er, "früher war Benjamin mal Artist. Ich hatte gedacht, das wäre vorbei, immerhin ist er schon fast dreißig Jahre alt. Aber offenbar ... da oben scheint es ihm langweilig zu sein. Willst wieder spielen, alter Esel, hab ich recht?" Und er nahm Benjamin und legte ihn in seine Arme, und Benjamin war selig.
"Morgen früh bring ich dich zu den Kindern", hörte er den Hausherrn sagen, und bevor er seine Augen schloss, um nach der großen Anstrengung ein kleines Nickerchen zu machen, wanderte sein Blick noch einmal nach oben zu der Giftgrünen, deren Kopf aus der feinen Holzkiste heraushing. "Danke", rief er hinauf und musste gähnen, "das werde ich dir nie vergessen." Aber die Nachbarin schien gerade einzuschlafen.



Eingereicht am 07. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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