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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Sammler
© Silke Rath
Sammeln zum Auslagern der Persönlichkeit. In einem Menschen ist für so viel Persönlichkeit ansonsten nicht genug Platz. Das hatte er irgendwo gelesen. "Also", denkt er sich, "fange ich mal an, Platz zu machen". Er setzt sich auf den Sessel unter der Lampe mit dem braunen Schirm. Es hängen goldene Troddeln daran. Der Bezug des Sessels war mal grün. Jetzt ist er aber abgewetzt und fadenscheinig. Er grübelt. "Erst mal Platz machen, für all die Dinge, die einen neuen Platz brauchen",
überlegt er. "Vielleicht sollte ich sie in das Regal dort drüben stellen. Aber dann sieht sie jeder, der zur Tür herein kommt. Und nicht jeder will unbedingt gleich erkennen, mit wem er es zu tun hat. Und ich will das auch nicht. Den Postboten zum Beispiel geht das gar nichts an. Der soll nur die Post bringen." Er reibt sich das Kinn und legt die Stirn angestrengt in Falten. "Kartons --- Kartons wären nicht schlecht. Die kann man stapeln und wenn man nicht sehen will, wie es drinnen aussieht, dann
macht man sie einfach zu. Wie viele Kartons brauche ich wohl? Zwei stehen noch in der Abseite in der Küche. Da waren Schuhe drin. Vier insgesamt. Ob in einem Karton, in dem ein Paar Schuhe war, genug Platz für ausgelagerte Persönlichkeit ist?" Er steht langsam auf, geht ein paar Schritte, bis er in der kleinen Kochnische steht und öffnet die Türen des Wandschranks. Er steigt auf einen kleinen Tritt und greift in das obere Fach. Er räumt zuerst ein paar bunte Plastikschüsseln heraus, steigt vom Tritt und
stellt die Schüsseln auf die braune Arbeitsplatte. Dann steigt er wieder auf den Tritt und zieht mit einer Hand eine Thermoskanne hervor, mit der anderen Hand angelt er nach den Kartons. Dann stellt er die Thermoskanne wieder an ihren Platz. "Die Schüsseln können da erst mal stehen bleiben. Zum Aufräumen habe ich später immer noch Zeit." Er geht zurück zum Sessel und stellt die Kartons daneben auf den Boden. Dann dreht er sich um und greift nach dem kleinen Tisch vor dem Fenster. Er passt zudem Sessel.
Sie gehören zusammen. Auf dem Tisch ist ein geometrisches Muster - auch in Grün. Er stellt den Tisch vor den Sessel. Er nimmt das weiße Häkeldeckchen herunter, faltet es sorgfältig und legt es auf die Fensterbank. Auch den Aschenbecher aus Metall, der aussieht wie ein Eber, stellt es auf die Fensterbank. Eigentlich raucht er nicht, aber der Aschenbecher war schon da, als er eingezogen ist und er wollte ihn nicht einfach vor die Tür setzen. Da wo der Aschenbecher sonst steht, ist ein großer Brandfleck in der Tischplatte.
Der ist von letztem Weihnachten. Schließlich bückt er sich, nimmt die Kartons und stellt sie auf den Tisch. Dann setzt er sich wieder in den Sessel. Er schlägt die Beine übereinander und stützt seinen Kopf in die Hände. "Genug Platz habe ich jetzt erstmal", denkt er. "Nun muss ich nur noch darüber nachdenken, was an meiner Persönlichkeit zu viel ist." Er sitzt eine ganze Zeit so da. Nach einer Weile steht er auf, geht in die Küche und nimmt sich ein Glas aus dem Regal, das über dem Kühlschrank
hängt. Er stellt es neben die Plastikschüsseln auf die Arbeitsplatte und füllt es mit dem Rest Früchtetee von heute Morgen. Mit wenigen Schlucken leert er es, stellt es in die Spüle, geht zurück zum Sessel und bleibt vor ihm stehen. Er blickt erst auf die Kartons, dann aus dem Fenster. Er betrachtet die Balkone des gegenüberliegenden Hauses. "Manchmal lache ich zu laut. Das könnte ich als erstes in den Karton packen --- aber eigentlich hört es ja keiner, den es stören könnte. Und wahrscheinlich ist Lachen
zu groß für einen Karton." Er kaut an seiner Unterlippe. Gegenüber schüttelt eine dicke Frau Kissen aus. Sie trägt einen blauen Kittel.
"Ich schmeiße immer einen großen Teil von der Leberwust weg. Den Wurstzipfel, weil da Metall dran ist. Ich ekele mich vor Metall am Essen. Deswegen habe ich ja auch nur Plastikbesteck. Aber es ist bestimmt auch ungesund, wenn Metall Lebensmittel berührt. Und wenn es sogar gesund ist, dass ich so viel von der Wurst wegschneide, dann kann ich das unmöglich in den Karton packen." Draußen wird es langsam dämmrig. Die weißen Hausfassaden schimmern blau. Und er steht immer noch grübelnd am Fenster. Im Haus
gegenüber gehen in den Wohnungen die Lichter an. Er kann sehen, wie die dicke Frau mit dem blauen Kittel in ihrer Küche auf und ab geht, Dinge aus dem Kühlschrank holt, sie auf den Tisch stellt und sich dann zu einem Mann setzt, der ihr die ganze Zeit dabei zugesehen hat.
Er geht einen Schritt zurück und zieht mit einem Ruck die Gardine zu. "Wenn ich die sehen kann, dann können die mich auch sehen. Und dann sehen sie vielleicht auch, was ich hier mache." Er geht durch den Raum zum Regal und dreht das Radio an. Leise ertönt Musik. Irgendein Geigenkonzert. Dann geht er zurück zu dem Sessel, setzt sich hin und blickt in den Raum. Die Kartons vor ihm sind immer noch leer. "Es ist gar nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt habe", murmelt er, "gar nicht
einfach." Nach einigen Minuten richtet er sich im Sessel auf und ein Lächeln legt sich auf sein Gesicht. "Irgendwie ist es ja doch so, dass Teile der Persönlichkeit einfach verschwinden, ohne dass man es bemerken würde. Jedenfalls nicht sofort. Früher habe ich die Todesanzeigen von den Leuten, die den gleichen Nachnamen haben wie ich, immer sauber mit dem Teppichmesser ausgeschnitten. Das sieht ordentlicher aus. Einen ausgefransten Rand hätte ich nicht ertragen. Heute reiße ich sie auch schon mal aus,
wenn gerade kein Messer zur Hand ist - im Wartezimmer oder in der Kneipe." Fröhlich steht er auf und greift nach den Kartons. "Ich stelle sie einfach neben die Garderobe und lasse sie offen. Dann weiß die zu viele Persönlichkeit wenigstens, wohin sie gehen kann, wenn sie schon gehen will. Und vielleicht macht es mit ja irgendwann mal Spaß, hinein zugucken." Er blickt kurz auf die leeren Kartons vor sich und geht dann ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Es ist neun Uhr.
Eingereicht am 07. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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