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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Vielen Dank für die netten Stunden
© Achim Weiß
Die Stunde näherte sich unaufhaltsam dem Ende. Längst war keiner der Schüler war mehr ernsthaft mit den Gedanken bei der Sache. Widerwillig hatte sich die Klasse auf eine Diskussion über den politischen Gehalt von Brechts Drama "Herr Puntila und sein Knecht Matti" eingelassen, aber in der 6. Stunde, das wusste Oberstudienrat Schuster nach 25 Jahren Schulerfahrung, war einfach irgendwie die Luft raus, sogar bei sonst motivierten Klassen. Dementsprechend sehnte sich Schuster ebenso wie seine Schüler
bereits seit Minuten nach dem Schlussgong, der ihn aus seinem mangels Schülerbeiträgen inzwischen eher zu einer Vorlesung geratenen Unterricht entlassen würde.
Nur Susanne, die direkt vor ihm in der ersten Reihe saß, schien ihm überhaupt noch zuzuhören. Sie beteiligte sich zwar so gut wie nie am Unterricht, lauschte aber stets aufmerksam seinen Ausführungen. Manchmal hatte er gar den Eindruck, sie klebe förmlich an seinen Lippen, als sei das von ihm Gesagte eine Art Gesetz, das sie sofort auswendig zu lernen und in der Praxis anzuwenden gedachte. Oder täuschte sich Schuster etwa in ihr und sie war in Wirklichkeit nur in irgendwelche Jungmädchen-Träumereien versunken?
Nein, das schloss er intuitiv aus. Sie war interessiert, das spürte er. Und zwar an dem Stoff, den er durchnahm, vielleicht auch an der Art, wie er ihn den Schülern nahe brachte. Aber ganz sicher nicht an ihm persönlich, denn was wollte eine bildhübsche 16-Jährige sonst schon von einem in Schulehren ergrauten geschiedenen Oberstudienrat mit drei Kindern?
Schön, dass es noch Schülerinnen wie Susanne gab, die sich auch für etwas anderes als die neuesten Handys oder die angesagtesten Boygroups begeistern konnten. Auch der alte Brecht faszinierte sie offenbar. Fast so sehr wie ihn, als er vor vielen Jahren zu diesem Thema bei seinem Lieblingsprofessor eine der wenigen Vorlesungsreihen hörte, die ihn wirklich zu fesseln vermochten.
Da war er endlich: der ersehnte Gong. Verdammt, er hatte schon wieder vergessen, den Schülern eine Hausaufgabe mit auf den Weg zu geben. Aber jetzt war es zu spät. In Sekundenschnelle hatten sämtliche Schüler ihre Sachen gepackt und den Klassenraum grußlos und fluchtartig verlassen. Schulschluss! Gab es ein freudigeres Ereignis an einem Schultag für Jugendliche? Wohl kaum. Auch Schuster verstaute den Brecht in seiner schwarzen Ledertasche und war gerade dabei seinen Mantel anzuziehen, als er bemerkte, dass da
jemand vor seinem Pult stand. Es war Susanne. So interessiert sie auch an seinem Unterricht sein mochte, zu außerunterrichtlichen Unterhaltungen war es bisher zwischen ihnen nie gekommen. Sie schien viel zu sehr damit beschäftigt, das Gehörte selbst gründlich zu verarbeiten, als dass sie sich auf ein weiterführendes Gespräch mit ihrem Pauker einlassen würde.
"Herr Schuster, ich muss ihnen noch etwas sagen. Sie haben sich immer so schön für uns engagiert und nie die Geduld verloren, wenn wir mal wieder nichts kapiert haben. Das musste ich ihnen einfach noch sagen. Und denken Sie bloß nicht, Sie hätten irgendwas an meiner Entscheidung ändern können. Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Ich weiß, was ich tue. Der Unterricht mit Ihnen war immer sehr anregend. Vielen Dank für die netten Stunden! Aber ich werde mich heute Nachmittag umbringen. Das wird keinem wirklich
wehtun, also machen Sie bitte keine große Sache daraus. Dann machen Sie es gut - auf Wiedersehen!"
Mit diesen letzten Worten war sie auch schon durch die Tür des Klassenzimmers verschwunden und ließ ihren Deutschlehrer völlig sprach- und hilflos zurück. Er hatte gar keine Gelegenheit gehabt ihr etwas zu entgegnen, etwa "Hast du dir das auch gut überlegt?" oder "Jetzt setzt dich erst mal und wir überlegen gemeinsam, wie du mit deinen Problemen fertig werden kannst." Nichts. Er war bloß zutiefst erschüttert an seinem Pult stehen geblieben und hatte sie einfach so gehen lassen. Mit ihren Selbstmordabsichten.
Hätte er nicht ein bisschen schneller reagieren können? War das normal, dass jemand so eine Ankündigung so kommentarlos hinnehmen konnte? Schon wollte er ihr durchs Schulgebäude hinterher hechten, aber bei seiner langen Reaktionszeit war sie bestimmt inzwischen längst über alle Berge. Sie wollte ja gar nicht zurückgehalten werden oder sich auf irgendwelche einfühlsamen Ratschläge einlassen. Er sollte es einfach nur wissen, zur Kenntnis nehmen, dass eine seiner Lieblingsschülerinnen morgen nicht mehr kommen würde,
weil sie irgendetwas so aus der Bahn geworfen hatte, dass sie bereit war dafür ihr Leben hinzuwerfen.
Mechanisch nahm er seine Schultasche, verließ den Klassenraum und ging gedankenversunken zum Lehrerzimmer. Was sollte er nur tun? Er setzte sich neben seine liebe alte Kollegin Teufel, die ihn, seit er an der Schule angefangen hatte, schon oft mit weisen Ratschlägen versorgt hatte. Sie bemerkte sofort, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war.
"Na, hat dich die 10c wieder geärgert, Richard?"
"Nein, mir ist eben was ganz Merkwürdiges passiert. Da kommst du nie drauf."
"Erzähl schon. Was kann dir denn nach 25 Jahren noch so dramatisch Neues passieren?"
Seine Niedergeschlagenheit war ihr sehr wohl aufgefallen, aber sie verstand es stets, Kollegen und Kolleginnen mit ihrer burschikosen Art auch bei Problemen ein wenig aufzumuntern.
"Mir hat grade eine Schülerin mitgeteilt, dass sie sich heute Nachmittag umbringen wird."
"Was?"
"Stell dir vor, Susanne, eine der besten aus der 10c, sagt mir das fast nebenbei beim Rausgehen. Bevor ich irgendwas antworten konnte, war sie schon verschwunden."
"Du musst sofort die Eltern anrufen."
"Aber kann man denn so etwas ernst nehmen? Vielleicht wollte sie sich ja nur wichtig machen oder es war ein Hilfeschrei? Das habe ich mal in einer Psychologie-Zeitschrift gelesen."
"Psychologie hin oder her, du kannst nicht einfach nach Hause gehen und abwarten, ob was passiert oder nicht. Ein Leben lang würdest du dir Vorwürfe machen. Ruf am besten gleich vom Sekretariat aus an."
"Nein, das kann ich nicht. Über so was kann man doch nicht reden, wenn die neugierige Frau Stephan daneben sitzt. Ich habe die Büronummer von Susannes Mutter und rufe sie dann gleich von zuhause aus an."
"Gut, mein Lieber. Viel Zeit würde ich mir an deiner Stelle aber nicht dafür lassen, sonst ist es vielleicht schon zu spät. Und ruf mich gefälligst gleich an, wenn du was rausgekriegt hast!"
Er hatte schon wieder seine Tasche an sich gerissen und war auf dem Sprung.
"OK, Marianne, danke für deinen Tipp. Ich melde mich dann. Wollen wir hoffen, dass das alles nur eine schräge spontane Idee von ihr war."
So schnell wie an diesem Tag war er selten nach Hause gefahren. Sofort rannte er die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hoch und suchte nach der Telefonliste der 10c. Frau Reichel, die Mutter von Susanne, arbeitete als Schalterangestellte in einer Bank in Sandhausen, einem Nachbarort. Er kannte sie nur von 1-2 Elternabenden und von den Elternsprechtagen, an denen sie immer nur kurz bei ihm vorbeischaute, anscheinend nur, um ein weiteres Mal bestätigt zu bekommen, dass ihre Tochter eine überdurchschnittlich begabte
Schülerin sei. Sie war eine unauffällige, gut aussehende kleine Frau, von der Susanne zweifellos die eine oder andere Eigenschaft mitbekommen hatte. Als er es am anderen Ende der Leitung klingeln hörte, legte er plötzlich wieder auf. Er hatte es sich anders überlegt. Mit so etwas konnte er Frau Reichel doch nicht am Telefon kommen. Wer konnte schon wissen, wie hysterisch die reagieren würde. Er beschloss, sie in der Bank zu besuchen und sie ganz behutsam auf die schwierige Situation vorzubereiten.
"Frau Reichel, kann ich kurz mit Ihnen sprechen?"
Es war kein Kunde außer ihm in der Bank, so dass er sofort auf Helene Reichel zueilen konnte.
"Das scheint ja was besonders Dringendes zu sein, wenn Sie extra hier in die Bank zu mir kommen."
"Ja, das kann man wohl sagen. Ich weiß noch gar nicht so genau, wie ich es Ihnen sagen soll."
Sie hatte schnell erfasst, dass dies kein alltägliches Problem war, mit dem er sie bei der Arbeit behelligte, daher bat sie ihn, in den hinteren Teil der Bank mitzukommen. Dort zog sie ihn zu einem nicht besetzten, etwas abseits gelegenen Schreibtisch.
"Nun reden Sie schon."
"Also, Ihre Tochter hat heute in der Schule etwas zu mir gesagt und ist dann gleich verschwunden. Ich weiß nicht, wie ernst ich das nehmen muss, was sie mir mitgeteilt hat, aber ich musste in jedem Fall sie als Mutter mit einbeziehen."
"Oh Gott, ist sie etwa schwanger?"
"Nein, nein, das ist es nicht. Frau Reichel, hat Ihre Tochter im Moment ein Problem, von dem wir in der Schule nichts mitbekommen haben?"
"Susanne ist ja ein ziemlich ruhiges Mädchen, hört stundenlang wüste Rockmusik in ihrem Zimmer, trifft sich aber kaum mal mit Freunden und so. Aber in letzter Zeit hat sie sich ab und zu mit einem jungen Mann getroffen, der ihr anscheinend ziemlich viel bedeutet hat. Markus heißt der, glaube ich."
"Und - ist sie mit dem noch zusammen?"
"Sie haben sich gestern heftig gestritten. Sie kam weinend nach Hause und meinte, er wolle seine Unabhängigkeit nicht verlieren und er behaupte, das ginge nicht, wenn er ständig mit dem gleichen Mädchen am Arm in der Stadt rumlaufe. Wenn Sie mich fragen, der hat sie nicht wirklich geliebt."
"Und Susanne?"
"Ihr war es absolut Ernst. Markus war ihr erster richtiger Freund. Sie hat so eine romantische Vorstellung von ihrer ersten Liebe. Wenn sie mal den Richtigen treffen würde, dann wäre das ganz bestimmt für immer. Und für den wollte sie sich `aufheben`, hat sie immer gesagt. Sie war der felsenfesten Überzeugung, dass es so etwas wie `die große Liebe` in der Realität gibt. Ich weiß auch nicht, woher sie diesen Spleen hatte. Wahrscheinlich aus ihren Mädchenromanen oder so. Na, das gibt sich sicher mit der Zeit.
Wenn sie erst mal ein paar Freunde gehabt hat, wird sie schon nicht mehr so naiv an eine Beziehung rangehen."
"Hat er denn gestern endgültig Schluss mit ihr gemacht?"
"Eigentlich nicht. Er hat sie wohl nur vor die Wahl gestellt, entweder er darf auch mit anderen rumknutschen oder er muss sie ganz fallen lassen."
"Das ist doch krank. Welches Mädchen lässt sich denn auf so was ein?"
"Wenn Sie wüssten! Manche Mädels machen doch fast alles, wenn sie einen Typen so richtig süß finden. Es gibt ja sogar welche, die anschaffen gehen, wenn ihr Typ..."
"Soweit müssen wir jetzt glaube ich nicht denken", unterbrach Schuster sie. "Sie müssen mir jetzt sagen, ob Ihre Tochter dazu in der Lage wäre sich wegen so einer Geschichte umzubringen."
Jetzt war es raus. Er war ein wenig erleichtert.
"Sie hat Ihnen also gesagt, sie wird sich umbringen."
Helene Reichel wirkte erstaunlich gelassen.
"Ja, das hat sie."
"Und das haben Sie ihr geglaubt?"
Schuster war verwirrt.
"Ehrlich gesagt, wusste ich nicht, was ich glauben sollte, deshalb bin ich ja hier."
"Aber mein lieber Herr Schuster, Mädchen in diesem Alter versuchen nun mal alles, um etwas mehr Aufmerksamkeit zu kriegen. Glauben Sie wirklich, sie würde so etwas tun? Susanne will unbedingt Tierärztin werden. Das war schon immer ihr Traum. Dafür lernt sie doch auch so viel. Vertrauen Sie mir - nur wegen so eines Typen wird meine Tochter doch nicht gleich depressiv und will sich umbringen."
"Nun, da Sie ja offenbar völlig überzeugt sind, dass Ihre Tochter das nicht ernst gemeint haben kann, kann ich also wieder beruhigt nach Hause fahren."
Es sollte mehr nach einer ironischen Frage klingen als nach einer ernst gemeinten Feststellung.
"Ja, das können Sie, Herr Schuster. Es war lieb von ihnen, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, aber glauben Sie mir, ich kenne sie besser als Sie. Sie bringt sich nicht um. Ganz sicher nicht."
Schuster war immer noch nicht restlos überzeugt, aber er wusste, dass diese Mutter keinerlei Widerspruch mehr dulden würde, deshalb entschied er, dass es von nun an nicht mehr seine Angelegenheit war.
"Ich hoffe, Sie haben Recht mit ihrer Einschätzung, Frau Reichel, aber Sie als Mutter können das vermutlich wirklich besser beurteilen als ich. Ich kenne Susanne ja kaum. Das bisschen Kommunikation im Unterricht..."
"Vertrauen Sie mir. Auf Wiedersehen."
Sie gab ihm die Hand, herzlich zwar, aber trotzdem kam es ihm vor, als behandle sie ihn wie einen kleinen Schuljungen, der in der Schule sitzt und sich Sorgen macht, sein Hamster daheim könne sich bei einem Sturz von seinem Laufrad das Genick brechen. Waren denn seine Sorgen so unberechtigt gewesen?
Schuster tobte sich eine Stunde im Fitnessstudio aus. Das war für ihn immer die beste Möglichkeit, von allem abzuschalten. Schnell hatte er die Schülerin und ihre Selbstmordabsichten verdrängt und genoss seinen Feierabend. Am Abend sah er sich gerade eine Sportübertragung im Fernsehen an, als das Telefon klingelte. Er war erschrocken. War doch etwas mit Susanne passiert? Er griff schnell zum Hörer.
"Schuster."
"Marianne. Hallo Richard. Hast du mich etwa vergessen?"
"Wie, vergessen? Ach so, ich sollte dir wegen Susanne Bescheid sagen."
Er erklärte ihr, wie gelassen die Mutter reagiert hatte und wie sie ihm versichert hatte, dass ihre Tochter sich ganz sicher nie aus Liebeskummer umbringen werde.
"Und das hast du ihr einfach so abgenommen?"
"Wie, abgenommen?"
"Könntest du aufhören, ständig zu wiederholen, was ich gerade gesagt habe?"
"Entschuldige. Ich hatte die Sache eigentlich abgehakt. Wenn die Mutter sich noch nicht mal ernsthaft Gedanken darüber macht, warum sollten wir als Lehrer dann weiter beunruhigt sein?"
"Du bist manchmal so was von oberflächlich, Richard, weißt du das?"
"Jetzt mach aber mal halblang! Ich habe doch getan, was ich tun konnte."
"Ist gut, sonne dich weiter in deinem ruhigen Gewissen. Wir sehen uns morgen früh."
Sie hatte einfach aufgelegt. Das war sonst nicht ihre Art und er fragte sich kurz, was um alles in der Welt er denn falsch gemacht haben könnte, aber er fand sein Engagement in dieser Geschichte absolut ausreichend. Was heißt ´ausreichend`? Er war schon weit über das hinaus gegangen, was er als Staatsdiener hätte tun müssen. War sogar mit dem Wagen nach Sandhausen gefahren, um nach Dienstschluss mit der Mutter zu sprechen. Nein, er war kein schlechter Lehrer. Heute nicht. Da konnte Marianne ihn kritisieren, wie
sie wollte. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Sportübertragung zu und ging völlig mit sich und der Welt im reinen um halb elf ins Bett.
Am nächsten Morgen war sie nicht da. Schuster bemerkte sofort, dass ihr Platz in der ersten Reihe leer geblieben war. Er beruhigte sich damit, sie habe sicher einfach mal zu Hause im Bett bleiben wollen, um in Ruhe über ihre Gefühle für den Macho nachzudenken. Klare Sache. Bei Liebeskummer ließen Mütter ihre Töchter schon mal zu Hause, damit sie nicht im Unterricht anfingen loszuheulen. Das war aus seiner Sicht auch gut so, denn die hysterischen Mädchen übertrieben es in der Pubertät schon ab und zu mit ihren
Gefühlsausbrüchen.
Aber er täuschte sich. Susanne kam auch am nächsten Tag nicht zur Schule. Und dann, am Samstag, las er es in der Zeitung. Sie hatte sich von einer Brücke auf die Autobahn gestürzt. War sofort von einem Auto erfasst und getötet worden. Schluss und aus. Er rief Marianne an. Sie legte sofort wieder auf, als sie bemerkte, wer in der Leitung war.
Würde sie ihn wegen dieser Sache etwa ab sofort ignorieren?
War er etwa deswegen jetzt ein schlechter Lehrer?
Ausgerechnet er?
Eingereicht am 07. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.