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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Isabellas Tanz

© Gisela Wegmann


Steinhaus war nicht sonderlich überrascht, jemanden in seinem Bad vorzufinden, hatte er doch schon länger das Gefühl gehabt, nicht mehr alleine in seiner Wohnung zu leben.
Worüber er sich wunderte, war, dass es ein Drachen war, der dort an seinem Waschbecken stand und sich die Zähne putzte und dass dieser Drachen ganz anders aussah, als Steinhaus sich bisher einen Drachen vorgestellt hatte.
Er war zwar grün, hatte gelbe Augen und den gezackten Kamm auf dem Rücken, aber er war bedeutend zierlicher als die chinesischen Drachen, die Steinhaus vom Fernsehen kannte. Er schien keineswegs schlangenähnlich, sondern stand auf zwei stämmigen Hinterbeinen und setzte die zarten Vorderfüße als Hände ein.
"Entschuldigung", sagte Steinhaus und trat einen Schritt zurück.
Der Drachen goss einen tüchtigen Schuss Mundwasser in Steinhaus' Becher und gurgelte. Dann wischte er sich den Mund ab und wandte sich an Steinhaus.
"Guten Morgen", sagte er, "ich habe Sie doch hoffentlich nicht geweckt? Normalerweise schlafen Sie noch, wenn ich aus dem Haus gehe. Ach übrigens, Sie sollten neues Mundwasser besorgen. Ich habe gerade den Rest genommen!"
Steinhaus war verblüfft. Die Stimme des Drachen klang überhaupt nicht nach Feuer und Rauch, sondern lieblich, so wie die einer Frau. Das hatte er nicht erwartet. Er sah das Tier verdattert an.
"Mein Name ist Isabella, ich wohne seit knapp vier Wochen hier und, Kompliment, Ihre Wohnung gefällt mir sehr gut!" Der breite Mund verzog sich zu einem Lächeln.
Isabella? Eine Drachenfrau? Davon hatte Steinhaus noch nie gehört. Verstohlen sah er den Drachen an, kein einziges weibliches Attribut war zu finden; allerdings auch kein männliches!
Oh Gott, wo blieb seine Erziehung! Er verbeugte sich.
"Angenehm, Willi Steinhaus! Darf ich Sie zum Frühstück einladen?"
Die gelben Augen strahlten. "Ja gerne! Schade, dass die leckere Leberwurst alle ist. Sie waren gestern nicht einkaufen!"
Steinhaus überlegte, was er sonst noch im Kühlschrank aufbewahrte.
"Ach ja", lachte Isabella, "das Häppchen Schinken habe ich heute Nacht gegessen. Es ist ziemlich spät geworden; ich hatte Hunger!"
Sie zwinkerte Steinhaus zu. "Haben Sie noch Sekt im Haus? Ich liebe es, den Tag mit einem Schlückchen einzuläuten!"
Sie nahm die Nagelfeile aus Steinhaus' Etui. "Decken Sie schon mal den Tisch, ich mache mir nur noch die Nägel!"
Steinhaus war es nicht gewöhnt, Gäste zu haben.
"Messer rechts, Gabel links", murmelte er, während er zwischen Küchenschrank und Tisch hin und her lief. Es war nicht viel, was er auftragen konnte. Im Kühlschrank fand er ein Päckchen Magerquark, einen Rest Butter, ein Glas Honig und vier Eier, die laut Verpackung lange über das Verfallsdatum hinaus waren. Er riss den Karton in kleine Fetzen.
Dann holte er die Sektflasche aus dem Keller.
"Auf unsere Wohngemeinschaft!" Isabella hob das Glas und prostete Steinhaus zu.
"Ja!" Ihm war gerade eingefallen, dass er ursprünglich ein Dutzend Sektflaschen im Keller gehabt hatte und dass auch die Weinbestände auffallend geschrumpft waren.
"Trinken Sie gerne Wein?", fragte er und hätte sich sofort dafür ohrfeigen können. Man lässt eine Dame niemals merken, dass man sie verdächtigt, etwas gemopst zu haben.
"Nicht den aus Ihrem Keller. Ich ziehe den Lieblichen vor." Isabella zuckte die grünen Schultern. "Aber wenn nichts anderes da ist …"
Steinhaus nahm sich vor, noch heute lieblichen Wein zu besorgen, so dankbar war er, dass Isabella seinen Fauxpas nicht bemerkt hatte.
Sie schien seine Gedanken lesen zu können.
"Wenn Sie sowieso zum Einkaufen gehen, können Sie auch einen etwas süßeren Sekt mitbringen und von der Pastete, die Sie letzten Sonntag hatten. Die war gut!"
Isabella hatte ihr gekochtes Ei mit Appetit gegessen, dazu Kaffee und Sekt getrunken. "Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich den Honig mitnehme? Ich habe einen langen Tag vor mir!" Sie stand auf. "Bis heute Abend, tschüssi!"
Bevor sie die Wohnung verließ, schaute sie kurz in den Spiegel und lachte sich an.
Steinhaus hoffte, geträumt zu haben. Er ging ins Bad, schüttelte die Mundwasserflasche. Sie war leer. Der Frühstückstisch war für zwei gedeckt, alles Geschirr war benutzt und das Honigglas fehlte. Wo mochte Isabella den Tag verbringen? Arbeitete sie irgendwo? Vielleicht im vorgeschichtlichen Museum?
Wie jeden Tag wusch er ab, räumte die Wohnung auf und zog sich an, um einkaufen zu gehen. Aber er war nicht bei der Sache, unaufhörlich kreisten seine Gedanken um diesen stämmigen, grünen Drachen mit der weiblichen Stimme und dem wunderschönen Namen. Vielleicht kam sie nie mehr zurück und alles würde sich doch als Traum herausstellen.
Wieder suchte er, doch das Honigglas blieb verschwunden! Stattdessen fand er ganz unten im Schuhschrank drei Damenhandtaschen!
Isabella trug ein rotes Hütchen und schwenkte eine rote Tasche, als sie kurz vor Einbruch der Dunkelheit heimkam.
"Hatten Sie einen angenehmen Tag?", fragte sie, während sie auf der Couch Platz nahm und dabei die stämmigen, kurzen Beine zierlich übereinander schlug. Steinhaus betrachtete die ebenfalls roten Söckchen, die sie über ihre kleinen Füße gezogen hatte.
Er besaß wenig Erfahrung mit weiblichen Wesen, aber sein Gefühl sagte ihm, dass ein Kompliment willkommen sei.
"Ja danke, der Tag war angenehm. Ich hoffe, der Ihrige auch? Sie tragen ein reizendes Hütchen, haben Sie einen Einkaufsbummel gemacht?"
"Ja, so kann man es nennen!" Isabella lachte kokett und drückte den Hut fest zwischen ihre kleinen, spitzen Ohren. "Bei der Gelegenheit, ich habe da noch ein paar alte Taschen. Sind Sie so nett und geben Sie die bei der Polizei ab?"
Steinhaus fielen die fremden Handtaschen in seinem Schuhschrank ein. "Wieso bei der Polizei?"
"Na ja, damit die Frauen sie wiederkriegen. Ich hab' sie ausgeliehen. Sagen Sie einfach, Sie hätten sie in Ihrer Mülltonne gefunden!"
Er bereitete das Abendessen vor und Isabella machte es sich bequem. Als Steinhaus kam, um sie zu Tisch zu bitten, war sie auf der Couch eingeschlafen. Sie schnarchte laut und aus ihren großen Nasenlöchern kräuselten sich Rauchwolken. Trotzdem freute er sich, nicht alleine essen zu müssen.
Isabella war intelligent; über alles Mögliche konnte sich Steinhaus mit ihr unterhalten. Nur über sich selbst sprach sie nicht gerne, Steinhaus musste all seine Diplomatie aufwenden, um das, was ihn interessierte, in Erfahrung zu bringen. Er empfand es als große Auszeichnung, einer der Wenigen zu sein, die die Gabe besaßen, Isabella leibhaftig sehen zu können.
Sie behauptete, unter zehn Millionen Menschen gäbe es maximal einen einzigen davon. "Glauben Sie mir", beteuerte sie, "ich war zunächst unangenehm überrascht, als Sie mich in Ihrem Bad ansprachen!"
Steinhaus fehlte der Mut, Isabella nach ihrem Alter zu fragen, doch einige Wochen, nachdem sie sich kennen gelernt hatten, sprach sie von sich aus darüber. Im Fernsehen tanzte eine brasilianische Sambagruppe und Steinhaus hatte beim Anblick der jungen, biegsamen Frauenkörper unbewusst aufgeseufzt.
"Bitte glauben Sie nicht, dass ich sechzig Millionen Jahre alt bin!", sagte Isabella. "Ich habe zwischendurch ein paar Millionen Jahre geschlafen und bin erst vor kurzem zurückgekommen. Sechzig Millionen Jahre am Stück, das hält doch kein Mensch aus!"
Steinhaus fiel es schwer, den Blick vom Bildschirm zu lösen. "Ach ja?", murmelte er uninteressiert.
Erst nachdem die Sendung zu Ende war, wurde ihm klar, wie sehr er Isabella mit seinem Desinteresse gekränkt hatte. In ihren großen, gelben Augen standen dicke Tränentropfen.
"Ich gehe noch einmal durch die Luft!", sagte sie und ehe er einlenken konnte, klapperte die Wohnungstür. In der Diele lag die rote Handtasche und ihr Hütchen hatte sie auch nicht aufgesetzt.
Steinhaus war niedergeschlagen. Ruhelos strich er durch die Wohnung und lauschte auf Isabellas Schritte im Treppenhaus.
Die Uhr schlug Mitternacht; Isabella war nicht nach Hause gekommen.
Stunden später erkannte er, dass er sich verliebt hatte. In ein grünes, kurzbeiniges Wesen, dass nun einsam durch die Stadt irrte und dicke, runde Tränen vergoss, weil er es verletzt hatte.
Es waren für Steinhaus die schlimmsten Tage seines Lebens. Ständig sah er Isabella vor sich, ihre zierlichen Finger mit den sorgfältig gefeilten, rosa lackierten Nägeln, ihre süßen Füße in leuchtendbunten Stricksocken, ihre spitzen Ohren, die so niedlich vibrierten, wenn sie lachte. Und die großen, traurigen, tränennassen Augen!
Er hatte Isabella nie berührt; sie hatten sich noch nicht einmal zu den Begrüßungen die Hand gereicht. Nun stellte er sich die seidige Weichheit ihrer leuchtend grünen Haut vor und wünschte sich nichts sehnlicher, als zärtlich über den elegant gezackten Kamm zu streicheln. Er ging nicht aus, aß und trank nur das Nötigste. Stunde um Stunde saß auf dem Schemel in der Diele und wartete auf Isabellas Rückkehr. Er war auf dem besten Weg, todkrank zu werden.
Als er nach zehn Tagen Isabellas kurze Trippelschritte im Hausflur hörte, glaubte er zu träumen.
"Guten Tag", sagte sie. "Entschuldigen Sie, dass ich so lange ausgeblieben bin, aber ich hatte einiges zu erledigen. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Zeit!"
Steinhaus fühlte sich wie aufgedreht. Er galoppierte durch die Wohnung, deckte den Tisch, rannte in den Keller, um Sekt herauf zu holen und zwischendurch bezog er Isabellas Schlafcouch mit frischer Bettwäsche.
Beim Essen erzählte Isabella, dass sie sich nach Flugmöglichkeiten nach Brasilien umgesehen habe. "Das soll ein Land mit vielen hübschen und freundlichen Menschen sein", sagte sie. "Vielleicht lasse ich mich dort nieder!" Dabei beobachtete sie Steinhaus' Miene, die sich bei ihren Worten zusehends verfinstert hatte.
Steinhaus war verzweifelt. Sein Kopf war wie ausgehöhlt.
Er wusste nicht, wie man sich einer Dame erklärt, ohne zu viel von seinen Gefühlen preiszugeben und fürchtete, Isabella mit unbedachten Äußerungen zu erschrecken. Dabei hätte er ihr so gerne gestanden, wie sehr er sie vermisst hatte und wie selig er über ihre Rückkehr war. Ja sogar, dass er sich in sie verliebt hatte!
Isabella sah ihn erwartungsvoll an. In ihren Augen blitzten Sterne und er wagte es. "Ich freue mich sehr, dass Sie zurückgekommen sind. Ich bin gerne mit Ihnen zusammen!"
Zum ersten Mal ergriff Isabella nach seiner Hand.
Ein Schauer jagte über Steinhaus' Rücken. Er drückte die kleinen, seidigen Finger. Ja, er war so mutig, Isabella in die Augen zu schauen, nicht schnell und verstohlen wie sonst, sondern lange und intensiv.
Sie verlebten eine wundervolle Zeit miteinander. Isabella war viel unterwegs; sie liebte es durch die Kaufhäuser zu streifen. Steinhaus begleitete sie nie. Er dachte nicht daran. Bis zu diesem Abend!
Sie war sehr nachdenklich gewesen, hatte ohne Appetit in ihrem Essen herumgestochert, schnell hintereinander drei Gläser süßen Sekt getrunken, hatte Steinhaus' Hand auf ihrem Kamm abgeschüttelt und die lindgrüne Handtasche, die er ihr am Nachmittag gekauft hatte, kaum angesehen.
"Fühlen Sie sich nicht wohl? Ist Ihnen etwas zugestoßen?", fragte er und griff mitfühlend nach ihrer Hand.
"Nein, nein. Alles ist in Ordnung." Isabella zog die Hand zurück.
Sie trank an diesem Abend mehr als sonst, drei Literflaschen Sekt, und plötzlich brach es aus ihr heraus.
"Immer sehe ich nur Paare. Sie kaufen gemeinsam ein, essen auswärts, besuchen Theater und machen Ausflüge. Sie haben mich noch nie begleitet! Sie wollen auch nicht, dass ich mit Ihnen gehe! Sie wollen nur mit mir zu Hause sein, da wo uns niemand zusammen sieht!"
Steinhaus fiel ein, dass Isabella in der letzten Zeit immer gezögert hatte, bevor sie die Wohnung verließ. Sie hatte, schon mit ihrem Hütchen auf dem Kopf, herumgepusselt, oft nachgefragt, was Steinhaus denn so vorhabe.
"Ach", sagte er, so munter wie möglich, "ich glaubte, Sie zögen die Unabhängigkeit vor. Was halten Sie davon, wenn wir morgen Abend ins Ballett gehen? Sie geben Schwanensee. Ich hatte Sie sowieso dazu einladen wollen!" Ein Glück, dass er heute zufällig in das Programm der Städtischen Bühnen geschaut hatte.
"Wirklich? Oh, wie schön. Ich liebe Ballett. Ich freue mich darauf!" Isabellas Augen funkelten, als sie vor dem Dielenspiegel verschiedene Hüte anprobierte.
"Was meinen Sie", fragte sie, "passt ein ohrenbedeckender besser, oder soll ich den kleinen roten tragen?"
"Beides steht Ihnen ausgezeichnet!" Steinhaus bestellte zwei Karten.
Isabella trug einen lindgrünen Hut, passende Socken und schwenkte die neue Handtasche. Sie hatte sich bei Steinhaus eingehängt und plapperte fast ununterbrochen. Steinhaus' Einsilbigkeit bemerkte sie nicht. Wenn er mal ein Ja oder Nein oder auch ein Ach so einwarf, tat er das möglichst, ohne die Lippen zu bewegen.
Er blockierte Isabellas Platz mit seiner Jacke.
Ihre spitzen Ohren wippten vor Aufregung. "Ich kann auch gut tanzen!", wisperte sie. "Soll ich es Ihnen vorführen?"
"Ja, ja!" Steinhaus sah sie nicht an, niemand hätte auf die Idee kommen können, dass er mit jemandem sprach.
Sie drängte sich an ihm vorbei, verschwand im Dunkel des Theaters.
Es dauerte eine Weile, bis sie auf der Bühne erschien.
Sie hatte sich etwas Blaues umgehängt und platschte zwischen den grazil Tanzenden herum, schlug Rad und drehte Pirouetten.
Plötzlich hörte Steinhaus unmittelbar hinter sich eine Frauenstimme. "Da ist er wieder! Leonhard guck' doch, schnell Leonhard, der Drachen, dem ich schon zweimal in der Stadt begegnet bin!"
"Psst", aus allen Richtungen, dann Leonhards Stimme: "Hör mit diesem Unsinn auf, Luise. Was sollen die Leute denken!"
"Ich sehe ihn doch, Leonhard, bitte guck richtig. Das Grün-Blaue da, guck, jetzt schlägt es ein Rad!"
"Psst!" "Psst!", tönte es aus dem Publikum.
"Leonhard, bitte Leonhard, ich bin doch nicht blöde. Ich sehe ihn ganz deutlich. Er hat einen grünen Hut auf!"
"Luise! Lass uns gehen! Du erregst Aufsehen! Lass uns gehen, Luise. Du brauchst Ruhe!"
Luise hatte eine sanfte, angenehme Stimme. Sie tat Steinhaus Leid, denn er konnte sich gut vorstellen, wie sie empfinden musste und irgendwie fühlte er sich für das Geschehen verantwortlich.
Er schaute nach hinten, sah sie im Halbdunkel. Sie erschien ihm so zart gegen den klobigen Mann an ihrer Seite.
Wie gebannt schaute sie auf die Bühne, wo Isabella immer noch ihre Kunststücke zum Besten gab, und es drängte Steinhaus, Isabella zuzurufen, sie solle damit aufhören, er habe genug davon.
Wieder hörte er die Frau hinter sich. "Leonhard, bitte bring' mich nach Hause. Ich habe solche Angst! Ich werde wahnsinnig!"
Steinhaus drehte sich herum. "Sie sind völlig normal, gnädige Frau. Ich sehe dieses Tier auch!"
"Noch so ein Idiot!" Leonhard schlug sich seine breite Pranke vor den Kopf. "Was ist hier los? Komm Luise, wir gehen!"
"Nein! Ich möchte mich mit dem Herrn unterhalten!" Und an Steinhaus gewandt: "Sehen Sie ihn wirklich? Auch den grünen Hut?"
"Ja, auch die grünen Socken und den blauen Umhang!"
"Ich bin so erleichtert!" Die Frau schluchzte auf. "Werden Sie nach der Vorstellung einen Augenblick Zeit für mich haben?"
"Selbstverständlich, gnädige Frau!"
Steinhaus drehte sich wieder zur Bühne. Isabella war abgetreten.
Sie war erhitzt, als sie zu ihrem Platz zurückkehrte. Ihr Gesicht zeigte das grünliche Orange einer halbreifen Apfelsine und milchige Schweißtropfen rannen von ihrer Stirn.
"Wie war ich?", hechelte sie, noch immer außer Atem.
"Gut!", antwortete Steinhaus und sah unauffällig nach hinten. Leonhard drängte sich gerade durch die Reihe.
"Mein Bruder ist gegangen", flüsterte Luise und sah von Steinhaus zu Isabella. "Kennt das Tier Sie?"
Isabella plumpste in ihren Sitz. "Warum glotzen Sie mich so an? Haben Sie noch nie jemanden in einem blauen Cape gesehen?"
Steinhaus mischte sich ein. "Darf ich vorstellen, Isabella - Frau Luise." Die Situation war ihm peinlich. Von allen Seiten hörte er: "Psst, Ruhe!"
"Das ist zu viel für mich!", murmelte die zierliche Luise. Sie stand auf und quälte sich in Richtung Ausgang.
"Man muss sich um sie kümmern!", raunte Steinhaus und sah dabei steif zu Bühne.
"Ich guck' mir das Stück auf jeden Fall bis zum Ende an!"
Steinhaus zuckte zusammen, aber dann fiel ihm ein, dass niemand außer ihm Isabellas schrille Stimme gehört hatte.
Einige Leute schimpften, als er sich auf den Weg machte.
Die zarte Luise stand im Foyer.
"Gut, dass Sie auf mich gewartet haben! Ich kann Ihre Aufregung ja so gut verstehen!"
Die anmutige Person sah ihn aus erschreckten, veilchenblauen Augen an. "Ich begreife es einfach nicht! Bitte zwicken Sie mich, dass ich wach werde. Es kann nur ein Traum sein!"
Sie hielt Steinhaus ihren Arm hin. "Bitte, bitte zwicken Sie mich!"
Steinhaus berührte sanft ihren Unterarm; die Haut war glatt und rosig. Er betrachtete den feinen, hellen Flaum und dachte plötzlich an Isabellas grüne, kurze, haarlose Ärmchen.
"Bitte zwicken Sie doch endlich!", bat Frau Luise.
Steinhaus nahm all seinen Mut zusammen, kniff vorsichtig in den dargebotenen Arm.
"Sie träumen nicht, gnädige Frau. Ich versichere Ihnen, den Drachen gibt es wirklich. Er läuft ständig hinter mir her!"
Er schämte sich, kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte.
Aber was hatte diese reizende Person eben im Theater gesagt? Mein Bruder ist gegangen? Hieß das, sie war frei und ungebunden?
"Darf ich Sie zu einem Glas Wein einladen, gnädige Frau?", fragte er und die Liebreizende nickte.
In diesem Moment trampelte Isabella hinzu und hängte sich bei ihm ein.
"Wir haben gerade beschlossen, zusammen ein Glas Wein zu trinken. Wenn Sie Lust haben, können Sie uns gerne begleiten!" Steinhaus kam sich ungeschickt vor.
"Wer wir? Die da auch?" Aus Isabellas Augen schossen Blitze.
"Ich möchte nicht stören!", sagte Frau Luise und sah Steinhaus mit ihren veilchenblauen Augen bedauernd an. "Hier, meine Visitenkarte. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich gelegentlich bei mir melden würden!"
Sie verneigte sich gegen Isabella. "Sie sind natürlich auch eingeladen, ich habe mich schon immer für Urzeittiere interessiert!"
Steinhaus sah, dass sie zu ihrem pastellblauen Kleid hochhackige Schuhe aus blauer Atlasseide trug und sich an der Garderobe einen langen, weitschwingenden Mantel aushändigen ließ.
"Ich möchte sofort nach Hause!", sagte Isabella.
Als sie am nächsten Abend heimkam, trug sie einen blassblauen Morgenrock, der fast bis zum Boden reichte. Ihre dicken, runden Füße hatte sie in blaue Plüschpantoffel gezwängt.
"Es gibt keine blauen Kleider in meiner Größe", murrte sie, "ich hab' die ganze Stadt abgesucht!"
Steinhaus stellte sich Isabella in Stöckelschuhen vor. Das Bild war ihm unangenehm.
Ihm fiel die Visitenkarte der leichtfüßigen Frau Luise ein.
Isabella setzte sich auf die Couch, die Federn ächzten unter ihrem Gewicht. Steinhaus hörte es zum ersten Mal. Auch dass sie beim Essen schmatzte und mit dem Löffel auf ihrem Teller herummanschte, hatte er bisher nicht bemerkt.
Er versuchte, eine Unterhaltung in die Gänge zu bringen, aber Isabella reagierte ausgesprochen dümmlich. Steinhaus ging früh zu Bett.
"Würde es Ihnen Spaß machen, mit mir zusammen Frau Luise zu treffen?" Steinhaus hatte lange an dieser Frage gefeilt.
"Ihre Gesellschaft genügt mir vollkommen." Isabella wandte sich ab.
Von da an sprach Steinhaus dieses Thema mehrmals täglich an, doch Isabella ließ sich nicht erweichen.
"Wenn Sie partout nicht mitgehen wollen, treffe ich mich eben alleine mit der Dame!"
Isabella stand vorm Dielenspiegel. "Genügt Ihnen meine Gesellschaft nicht mehr?", fragte sie.
"Doch, doch! Aber irgendwann möchte ich auch einmal wieder mit einem richtigen Menschen reden!"
Er hatte es wochenlang gedacht und nun hatte er es unversehens ausgesprochen. Er hätte die Worte gerne zurückgenommen.
"Gehen Sie nur!", sagte Isabella und sah in den Spiegel.
Der Abend mit der reizenden, zarten Luise gestaltete sich äußerst anregend. Steinhaus hätte ihn auf ewig ausdehnen mögen. Sie verabredeten ein neues Treffen.
"Vielleicht bringe ich Ihnen beim nächsten Mal den Drachen mit!", versprach er der entzückenden Person zum Abschied.
Auf dem Rückweg trödelte Steinhaus, kehrte in eine Bar ein. Das hatte er noch nie getan. Der Gedanke an sein Zuhause missfiel ihm.
Isabella antwortete nicht, als er an die Wohnzimmertür klopfte und ihren Namen rief. Obwohl die rote Tasche und das Hütchen an der Garderobe hingen, schien sie ausgegangen zu sein. Steinhaus atmete auf. Dann sah er auf dem Dielenschrank den Zettel und erkannte Isabellas ungelenke Handschrift.

"Mich friert. Deshalb werde ich in ein wärmeres Land reisen.
Leben Sie wohl, Isabella."

Die Wörter waren verwischt, so als sei das Papier feucht geworden.
Steinhaus sah die süße, kleine, grüne Knubbelhand, die diese Zeilen geschrieben hatte, vor sich.
Er weinte. Ob vor Trauer oder Erleichterung wusste er nicht.



Eingereicht am 07. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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