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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Bärenstark

© Christiane Stenzel


Schweigsam, dickköpfig und bärenstark. Das waren die drei Stichworte, die Frank einfielen, als die alte Dame ihn nach seinem Bruder Björn fragte. Es war im Zug gewesen. Die streng blickende, schwarz gekleidete Frau mit dem Kopftuch neben ihm hatte dabei auf seine Hände gestarrt. Schweigsam, dickköpfig und bärenstark. Mehr fiel ihm nicht zu sagen ein.
Frank brachte seinen Koffer zu Minz, bevor er zum Vater ging.
Immer noch gehörte dem die Bahnhofskneipe. Mittlerweile war er richtig dick geworden. Unter dem Shirt rollte sich das Fett, das er früher noch unter weiten Pullis hatte verbergen können. Sein Gesicht war rot von Alkohol und zu hohem Blutdruck und Frank fragte sich, wie weit es noch aufquellen konnte.
Minz erkannte Frank an seinem Koffer. Es war ein alter schwerer Holzkoffer, der schon der Großmutter von Franks Vater gehört hatte. An den Kanten waren zerkratzte Metallbeschläge, das Holz abgeblättert und die beklebten Spanplatten fast mürbe. Er war sehr schwer, doch Frank nahm ihn überall mit hin. "Erinnerst du dich noch an unser Waldhaus?" Minz bot Frank einen Schnaps an und die beiden setzten sich auf die schmale Bank auf dem Bahnsteig. In der Kneipe gab es um diese Uhrzeit noch nicht viel zu tun.
Frank nickte. Björn, Minz und er hatten nächtelang Pläne für das Haus geschmiedet, das im Wald auf einer kleinen Lichtung stehen sollte. Das abendliche Zeichnen, die Gespräche mit Björn waren ausschlaggebend für seinen Wunsch gewesen, Architekt zu werden und das Dorf zu verlassen. Im Nachhinein erklärten sich viele Dinge aus sich selbst heraus, doch genau so vieles blieb Frank nach wie vor unklar. Mit dem Alkohol spürte er endlich die Müdigkeit. Zwei Tage hatten ihn die Koffeintabletten wach gehalten. Und er hatte in Zugrestaurants gesessen und aus dem Fenster gestarrt.
"... gelassen war er. Kennst ihn ja, er redete nicht viel darüber. Hat viel gearbeitet. Bis zum Ende." Frank brauchte einen Moment, bis er merkte, dass Minz von Björn sprach. Er spannte die Muskeln in den Armen an, um das Zittern in den Fingern zu unterdrücken, und zündete sich behutsam eine Zigarette an. "Seit wann rauchst du?" "Hab ich vergessen." Seit Paris.
Seitdem jeden Tag ein Päckchen. Frank fiel nichts ein, was er Minz erzählen wollte, und er machte sich auf den Weg zum Haus seines Vaters. Den Koffer ließ er bei Minz. "Ich hole ihn später wieder ab", hatte er gesagt, während Minz in die Sonne blinzelte und stumm nickte.
Dass er zu Björns Begräbnis zurückgekommen war, schien seinen Vater nur wenig zu verwundern. Der Alte lag in seinem Bett, wie er es seit Jahren tat, ein dünner Speichelfaden tropfte in stetigem Fluss auf sein Hemd hinunter.
Das Bett war groß und modern, grotesk in dem niedrig gebauten dunklen Gebäude, in dem noch die Möbel von Franks Urgroßmutter standen. Frank drückte auf einen der Knöpfe. Das Kopfende des Bettes fuhr mit einem leise schnurrenden Ton in die Höhe, so dass er Frank anblicken musste.
"Dreckskerl." Der Vater flüsterte das Wort undeutlich während ihm der Speichel weiter aus dem Mund rann. Frank fragte sich, wen genau er damit meinte. Für sie beide traf es gleichermaßen zu, fand er. Aber vielleicht meinte er auch Björn, der fort war, und den Vater nach all den Jahren der Pflege krank zurück gelassen hatte. Frank selbst war vor viel zu langer Zeit fort gegangen und hatte nicht nur den Vater und Björn sondern ein halbes Leben hinter sich gelassen. Stumm drückte er wieder den kleinen Knopf am Kopfende des Bettes und blieb er im Halbdunkel am Bett sitzen, bis der Vater müde die Augen schloss.
Ohne das Licht anzuschalten ging er dann im Dunkeln in die Küche und sah sich um. Vertrautes hatte es hier nie gegeben, zu viele Erinnerungen, die die Begegnung mit dem Ort schwierig und unerwünscht machten. Er fragte sich einmal mehr, warum er hergekommen war, warum er die Bestürzung, die dieses Haus mit all seinen Möbelstücken auf ihn ausübte, auf sich nahm und die jahrelang sorgfältig erhaltene Trennungslinie damit einfach ausradierte. Er war nicht stark. Das hatte er immer gewusst. Gewusst, fast so wie er Björns Tod geahnt hatte, als der Anruf von Minz kam. Wie die ihn ausfindig gemacht hatten, konnte er sich immer noch nicht vorstellen. Minz berichtete sachlich von Björns Tod, von der Beerdigung, und davon, dass der Vater nicht daran würde teilnehmen können, ob vielleicht er, Frank, dem Bruder diese "letzte Ehre" erweisen wolle. Nein, er hatte nichts erweisen wollen, überhaupt nicht gewollt, hatte gesagt, dass er nicht könne, seine Arbeit, die Stadt, der weite Weg und alles andere ... nein, er war nicht stark.
Frank setzte sich an den langen Küchentisch, legte den Kopf auf die Tischplatte und spürte, wie sich die grobe Holzmaserung in seine Wange drückte. Irgendwann schlief er ein.
Die Beerdigung fand am nächsten Vormittag auf dem Dorffriedhof statt. Frank hatte oft auf einer Bank vor der kleinen Kirche gesessen und Grabsteine gezeichnet. Neben ihm saß stets der Bruder, der schweigend den Spott der anderen Kinder auffing, während er die kurzen, ruckartigen Bewegungen des Bleistiftes beobachtete. Frank ballte die Fäuste in der Jackentasche zusammen und fühlte beruhigend das Zugticket zwischen den Fingern. 12:37 Uhr. Weiterfahrt.
Es war an einem Sonntag nach der Kirche gewesen, als er den Holzkoffer gepackt und zum Bahnhof gegangen war. Björn hatte ihn begleitet und sie waren ohne ein Wort zu wechseln durch die leeren Gassen zum Bahnsteig gegangen. "Komm mit!" hatte Frank ihn vorher oft gedrängt.
"Schreib mir!" waren die Worte, die geblieben waren und die Frank zum Abschied gemurmelt hatte. Das Schweigen des Bruders bedrückte ihn und schüchterte auch ihn dieses Mal ein. Aber Björn kam nie und schrieb auch nur selten. Doch dann waren seine Briefe lang, und schilderten das Dorfleben ausführlich. Er berichtete von seiner Arbeit auf den Feldern, der Krankheit des Vaters, und den Reparaturen am Haus. Björns Briefe gaben Frank das Gefühl, nicht wirklich fort zu sein von daheim, die vertrauten Bilder milderten die dumpfe Realität des Stadtlebens, erleichterten die Einsamkeit, ließen jeden Abschied nur vorübergehend erscheinen - und gaben seiner inneren Trennungslinie eine wohltuende Unschärfe. Frank selbst schrieb nur gelegentlich. Kurze Postkarten mit hastigen Sätzen, wo er war, und dass es ihm gut ging. Er schrieb nicht, dass er das Architekturstudium in Paris nie beendet hatte, dass er in seiner Ungeduld angenommen hatte, alles sofort schaffen zu können. Und er schrieb auch nicht, dass er bereits innerhalb des ersten Studienjahres durch viel zu viele Prüfungen gefallen war.
Auch erwähnte er nie, dass er stattdessen alles andere ausprobiert hatte.
Alles, was Geld brachte, nichts mit Zeichnen zu tun hatte, und das Leben in der Stadt erträglich machte.
Die Worte des Pfarrers verschwanden bereits langsam aus seiner Erinnerung, als Frank den Weg zurück zum Haus des Vaters ging. 11.30 Uhr. Es war das erste Mal, seit er angekommen war, dass er eine gewisse Ruhe verspürte. Er hörte Minz hinter sich herkommen, hörte den keuchenden Atem, als dieser mühsam mit ihm Schritt zu halten suchte. "Lass' uns 'ne Runde gehen", sagte Minz statt einer Begrüßung. Auf der Beerdigung hatte er ganz hinten gestanden. Franks Finger suchten in der Hosentasche nach dem zerknautschten Zigarettenpäckchen.
Sie gingen den Weg durch das Dorf zum Bahnhof und liefen an den mit Gras und Unkraut verwachsenen Schienen entlang, die Richtung Wald führten.
"Hatte so seine Träume, dein Bruder. Komisch konnte er manchmal sein. Er war sicher, dass du irgendwann heim kommen würdest." Heim kommen. Frank dachte an die Briefe, die der Bruder geschrieben hatte, die kleinen detaillierten Episoden, dachte an die Träume, die er gehabt hatte, damals, als er fort gegangen war. Anfangs hatte er nie daran gezweifelt, dass er wieder zurückgehen würde. Doch je mehr sich sein Traum zerschlug, umso weiter zog es ihn fort vom Dorf, umso ausgedehnter wurden seine Reisen, umso unruhiger seine Suche. Und Heimkommen wurde immer unmöglicher. Sie liefen durch dicht stehende Baumreihen, und Minz führte ihn bald ab von dem schmalen Waldweg, einen steilen Hang hinab zu einer kleinen Waldlichtung.
Frank erinnerte sich an diesen Weg. Alles sah noch genauso aus wie damals, als er mit Björn und Minz hier gewesen war. Wieder fühlte er sich zurückversetzt und versuchte, die Erinnerungen und das Vertraute nicht Überhand nehmen zu lassen. Er krampfte die Hände in der Hosentasche um das Zugticket und rutschte mit seinen Schuhen über die nassen Blätter am Boden.
Minz, der jetzt einige Meter voraus war, blieb stehen, um auf ihn zu warten.
Björn hatte seine Skizzen benutzt. Frank bemerkte es, bevor sie die Lichtung tatsächlich erreichten. Er hatte es durch die Bäume hindurch scheinen sehen, hatte das Holzhaus beinahe körperlich gespürt, als die Erinnerungen auch schon auf ihn einstürzten. Erinnerungen daran, wie sie auf der Lichtung gestanden hatten, der Bruder, der schweigend den Platz begutachtete, und er, Frank selbst, mit stürmischer Begeisterung auf ihn und Minz einredete.
Erinnerungen an das gutmütige Grinsen des Bruders, als sie abends im Bett lagen und Pläne schmiedeten. Er, Frank, Pläne und Entwürfe zeichnete, wie das Haus auf der Lichtung aussehen sollte. Ihr Haus. Es war ein einfaches und schlichtes Haus. Aber es war ungewöhnlich hoch. Eigentlich ähnelte es eher einem Turm, so schmal war es. Ja, es war ein kleiner Turm, der gemeinsam mit den Bäumen aufragte und mitten auf der Lichtung stand. Der Turm hatte viele kleine Fenster, um die Sonnenstrahlen, die sich irgendwann durch die Baumkronen hindurch verirrten, einfangen zu können.
Schweigend legten die beiden Männer den Weg zur Bahnhofskneipe zurück.



Eingereicht am 07. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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