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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Harnverhalt, ein Schlüsselerlebnis der existenziellen Art

© Klaus Schwingel


Hallo Heinz-Rüdiger,

wenn alles Schöne dieser Welt krampfartigen Schmerzen weicht, weil du unfähig bist, deine prall gefüllte Blase zu entleeren, wenn es paradoxerweise gerade verkrampfter Drang ist, der dich daran hindert, dem übermenschlichen Drängen gesammelter Ausscheidungen freien Lauf zu lassen, kurz, wenn du nicht mehr pinkeln kannst, dann spricht der Internist ganz leidenschaftslos von Harnverhalt.
Er wird dir versichern, für deine Ungeduld vollstes Verständnis zu haben, zumal er fast täglich mit den Unpässlichkeiten älterer Prostatiker konfrontiert sei. Aber auch deine Leidensgenossen müsse er, trotz allem Verständnis für deren subjektives Empfinden, immer wieder zur Geduld ermahnen. Dem gewissenhaften Arzt sei methodisches Vorgehen ethische Verpflichtung, denn vor die Therapie habe Hippokrates nun mal die Diagnose gesetzt. An dieser Stelle wird dich dein Notarzt um Nachsicht bitten, denn derart flapsige Bemerkungen - die er sonst stets unterlasse - habe er sich in deinem Falle nicht verkneifen können, weil er dich für einen humorvollen Patienten halte.
Dann wird sich dein Retter der Genese zuwenden und zügig bei Adam und Eva beginnen. Fragen nach dem Familienstand, der Anzahl der Kinder und dem Mädchenname der Mutter tragen zu Vervollständigung des ärztlichen Gesamtbildes bei. Deine Bitte, dich angesichts deiner Krampfschmerzen nicht eines natürlichen, qualvollen Todes sterben zu lassen, sondern mit medizinischen Beschleunigern nachzuhelfen, trifft auf notärztliches Kopfschütteln und bierernste Ratlosigkeit. Dein missglückter Galgenhumor sei in Anbetracht seiner ernsthaften Bemühungen nun wirklich unangebracht.
Du fragst dich, wer sich deines gelverschmierten Bauches annimmt, falls du während der Ultraschalluntersuchung - auch gegen den Willen deines Retters - das Zeitliche segnen solltest. Doch die internistische Aktualität verdrängt postmortale Planspiele des Bestatters:
"Oha!", ruft dein Arzt, während er mit dem Sensor Blase und Prostata knetet, "Oha! Die Blase ist randvoll!"
Wer hätte das gedacht! Zu deiner großen Verwunderung erfährst du nun, dass die Diagnose eindeutig sei und man nun zügig in medias res gehen könne.
Im normalen Leben würdest du es niemals zulassen, dass jemand einen Schlauch in dich hineinschiebt, dort, wo der Blaseninhalt normalerweise herauskommt. Aber vergiss' es, im normalen Leben war eben alles anders. Da konntest du deinen Namen noch in den Schnee pinkeln. Zugegeben, mit vergrößerter Prostata ließen Druck und Menge nach. Es reichte lediglich noch für deine Initialen. Klein geschrieben.
Du könntest dich glücklich schätzen, ihn, einen Internisten in der Notaufnahme angetroffen zu haben und keinen Urologen.
"... denn der würde nun schon die Skalpelle zurechtlegen", scherzt der Internist. Doch dir ist es inzwischen egal, wem du in die Hände gefallen bist. Du erträgst den eindringenden Fremdkörper und bemühst dich, den Überblick zu behalten.
"Es läuft!", ruft dann der Arzt triumphierend, als habe er einem Kind zur Welt verholfen. Du weißt, dass sich der Mann irrt, denn du spürst nicht, dass es läuft.
"Da kommt eine ganze Menge", ruft der Arzt, "es läuft und läuft."
Erst allmählich kommt die Entspannung. Auch in deinem Kopf und dein Retter wiederholt immer wieder: "... und läuft, ... und läuft, ... und läuft."
Du hast es noch mal überlebt, wirst du sagen. Aber ich sage dir, es ist mehr als das, Heinz-Rüdiger! Es ist eine Auferstehung, eine Offenbarung! Du siehst die Welt mit anderen Augen. Du erinnerst dich einer Fernsehsendung über Jenseitserfahrung, mit Berichten Scheintoter, denen du nicht geglaubt hattest. Doch nun ergeht es dir genau so. Du kehrst zurück in dein zweites Leben. Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich meine. Du setzt völlig neue Prioritäten, denn du wirst von abgelegten, fast vergessenen Wertvorstellungen eingeholt. Du wirst ein total neues Leben beginnen, dich an Wesentlichem orientieren und den kleinkrämerischen Ballast aus deinem Leben verbannen. Von heute an wirst du den Urinbeutel mit Stolz tragen! Offen und für alle sichtbar. Du wirst ihn nicht hinter dem Rücken oder unter der Kleidung verbergen, sondern ihn vor dem Bauch hertragen, wie eine Monstranz. 'Seht her! Ich habe entbunden!', lautet deine Botschaft.
In den nächsten Tagen durchwanderst du die Innere, die Chirurgie und die Cafeteria und wirst den gewöhnlichen Knochenbrüchen, Gallenblasen- und Blinddärmen Trost spenden. Mögen die Leidensgenossen auch undramatischer betroffen sein als du, es sind deine Genossen im Leid! Schon die Erkenntnis, dass du vergleichsweise schlimm heimgesucht wurdest, wird sie trösten. In bescheidener Zurückhaltung wirst du unermüdlich über dein Schicksal berichten, denn alle Welt soll erfahren, dass sie dir 1100 Milliliter abgezapft haben.
"Was, ein ganzer Liter?!", werden sie verwundert ausrufen.
Aber du wirst sie geduldig aufklären: "Mehr als ein Liter! 1100 Milliliter sind Eins-Komma-Eins Liter!"
'Was ist dagegen schon ein doppelter Rippenbruch?', wirst du auf der Zunge haben, die Bemerkung dann aber unterlassen, denn sie schwebt von nun an sowieso im Raum und dein Leidensgenosse wird sich seines lächerlichen Rippenbruches schämen.

Dein Felix



Eingereicht am 07. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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