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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Liebe bis über den Tod hinaus

© Stephanie Semisch


Henriette ging die dunkle Straße entlang. Das Licht der Straßenlaternen fiel auf den Bürgersteig. Sie trat mit ihren Füssen in das Muster des Betonpflasters, dabei hielt sie krampfhaft ihre Handtasche fest. Dort waren all ihre Briefe verstaut, die sie an das Amt geschrieben hatte. Briefe, in denen sie ihrem Verlobten ihre Liebe gestand, ihm Gedichte schrieb und sich auf die Hochzeit freute.
Die Straße war eng und die Autos, die an ihr vorbei fuhren, drängten sie näher an die Häuser. Die Lichtkegel blendeten sie und sie versuchte sich weiter auf die Musterform zu konzentrieren. Plötzlich hielt ein Auto. Henriette ging schneller, weiterhin damit beschäftigt den Fuß genau in das Kassettenmuster der Pflastersteine zu setzen. Kurz blickte sie hinter sich, um dann gleich wieder nach unten auf den Boden zu schauen. Eine Autotür knallte. Dann hörte sie das Klackern von Stöckelschuhen. Tak, tak, tak, Stille. Tak, tak, tak, wieder Stille. In Henriettes Händen sammelte sich das Schwitzwasser. Die Lederriemen der Handtasche fühlten sich ekelig an und sie rutschten durch die Hände.
Henriette versuchte zwei Pflastersteine auf einmal zunehmen und es gelang ihr auch. Nun drang eine klare Frauenstimme durch die Luft. Danach knallte erneut die Autotür und das Auto verschwand. Um Henriette wurde es still. Aus dem Busch neben ihr sprang eine schwarze, verdreckte Katze hervor. Ihr war wohl langweilig, denn sie schwänzelte um Henriette herum. Vorsichtig bückte sich Henriette nach dem Tier und streichelte es. Dann nahm sie die Katze auf den Arm. Diese Umarmung gefiel ihr wohl, denn sie fing verhätschelt an zu schnurren. Beide gingen nach Hause.
Henriette knipste das Licht in der Wohnung an. Ihre Schritte hörten sich hohl an, in den vereinsamten Räumen und der Schreibtisch war der einzige Platz, an dem es ein Leben zu geben schien. Ein wunderschöner Strauß Blumen stand dort. Eine kleine Kerze. Eine ovale Schale mit weißem Sand. Ein Bild mit einem Paar, das verliebt in der Abendsonne eng umschlungen sich küsste. Der Abfalleimer war gefüllt mit geknülltem Papier.
Als sie auf das Bild blickte, erinnerte sie sich an ihren gemeinsamen Urlaub auf den Malediven. Henriette und Lukas wollten heiraten. Lukas war ein begeisterter Sportler und war auch im Urlaub sehr aktiv. An jenem Tag lief er lachend durch das Apartment. Sie sah seine Vorfreude auf das Klippenspringen. Henriette hätte es ihm nicht verbieten können, er tat immer das, was er wollte und dafür liebte sie ihn umso mehr.
"Ich werde es mir aber nicht angucken, hörst du?" Henriette band sich ihre Haare vor dem Spiegel zusammen.
"Musst du doch auch gar nicht. Ich lade dich dafür heute Abend zum Essen ein. Du weißt wie gerne ich da mitmachen möchte. Es wird bestimmt super geil. Mein Adrenalinspiegel steigt und ich fühl mich als sei ich … Komm mal her. Ich möchte dich drücken." Alex glitt mit seinen Händen über ihren Rücken und küsste sie in den Nacken. Henriette schloss ihre Augen und spürte seine Aufregung. Sie lächelte ihn an und ungläubig sagte sie: "Ich möchte aber in dem Restaurant sitzen, wo man aufs Meer hinausschauen kann und dann möchte ich, dass du mir einen Stern vom Himmel holst?"
"Mach ich, mein Schatz, und ich werde dich auf Händen tragen, so wie wir es beschlossen haben. Und auf dem Weg zur Kirche nächsten Monat werde ich den Sand des Strandes verteilen, auf dem wir uns geliebt haben. Genau so soll es sein." Alex küsste ihre Lippen und seine Zunge suchte ihre. Henriette ergab sich ihm.
Sieben Tage später.
Im Flugzeug sitzt eine junge Frau. Trotz zwei Wochen Sonne - leichenblass und mit geröteten Augen. Sie spricht kein Wort und ihre Augen blickten starr auf den blauen Fleck am Handgelenk. Man musste sie damals mit Gewalt festhalten, denn sie wollte die Klippen herunter springen.
Im Flugzeug tuschelt man über einen Todesfall beim Klippenspringen, durch einen Kopfsprung sei ein junger Mann ums Leben gekommen.
Henriette setzt sich an den Schreibtisch. Vorsichtig nimmt sie den Brief vom Amt in die Hand. Sie zündet die kleine Kerze an, fasst zum Blumenstrauß und lässt den Sand in der ovalen Schale durch ihre Finger rieseln.
Sie liest: "Sie dürfen ihren toten Verlobten heiraten." So steht es dort, in schwarzen Buchstaben auf dem weißen Papier und in Gedanken versunken, fühlt sie eine innere Wärme, denn ihre Liebe zu ihm geht bis über den Tod hinaus.



Eingereicht am 06. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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