Entschlossen packen die kleinen Hände den überdimensionalen Griff des Wohnungsschlüssels. Einmal nach rechts, ganz rüberdrehen, hat Mami gesagt, und dann noch einmal ganz rüberdrehen. Konzentriert vollbringt Sylvie das morgendliche Ritual. Sie macht das jeden Tag, seit ein paar Wochen schon und sie macht es gerne. Weil sie als Letzte die Wohnung verlässt, deshalb darf sie absperren. Das ist eine große Verantwortung hat Mami gesagt, ganz ernst hat sie dabei geschaut: "Dir trauen wir das zu Sylvie, du bist unser großes Mädchen."

Mami hat auch noch erklärt, dass es etwas ganz Besonderes ist, wenn man mit sechs Jahren schon einen eigenen Schlüssel für die Wohnung besitzt und dass man ihr, Sylvie, damit großes Vertrauen beweist.

Seitdem trägt Sylvie den Schlüssel mit dem großen ringförmigen Griff stolz an einem Band um den Hals. Ja, es stimmt schon, ihre Freundinnen besitzen keinen eigenen Schlüssel.

Sylvie stapft den vertrauten Weg zur Schule tapfer Schritt für Schritt. Eigentlich würde sie lieber nicht da hingehen. Ihr wird morgens oft übel, wenn ihr die Luft aus dem alten Schulgebäude, eine Mischung aus Bohnerwachs und Schweiß, entgegenschlägt. Auch scheinen einige der Kinder sie nicht zu mögen, sie schubsen sie oder wollen sie wegdrängen, wenn sie in der Pause um Schulmilch ansteht. Sylvie versucht trotzdem in der Reihe zu bleiben, fasst nach ihrem Schlüssel unter dem Pullover wie nach einem Glücksbringer und denkt: `Ihr habt keinen eigenen Schlüssel, nur ich.` Mami sagt, dass Schule wichtig ist und darum bemüht sie sich, der Lehrerin immer zuzuhören. Heute erzählt diese etwas über die Familie. Erklärt, dass in manchen Familien die Mütter arbeiten gehen müssen. Sylvie versteht nicht. Natürlich geht ihre Mami arbeiten, gehen denn nicht alle Mamis arbeiten.

Die Lehrerin fragt jetzt, wer von den Kindern denn ein Schlüsselkind sei.

Sylvie blickt verwundert auf, als einige Kinder aufstehen.

S c h l ü s s e l k i n d!   Das klingt für sie wie `krank sein, minderwertig´, wie ´arm dran sein´. Sylvie schaudert: ´arme Kinder`.

Plötzlich steht die Lehrerin vor ihr: "Na, Sylvie, du bist doch auch ein Schlüsselkind."

Es dauert Sekunden bis der Sinn der Worte Sylvies Bewusstsein durchdringt, den süßlich falschen Ton der Lehrerin nimmt sie sofort ungefiltert wahr. Sie springt auf, steht kerzengerade und hört sich selbst laut sagen: "Ich bin kein Schlüsselkind, ich besitze einen eigenen Schlüssel." Der schmale Körper zittert, die Augen schimmern feucht. Einige Kinder lachen, die meisten schauen Sylvie erschrocken an. Die Lehrerin, irritiert vom heftigen Gefühlsausbruch des sonst so ruhigen Kindes, deutet nur ein leichtes Kopfnicken an und geht rasch zur Tafel.

Sylvie sitzt wieder, die rechte Hand fest gegen die Brust gepresst. An der Stelle, wo sie den Schlüssel spürt, brennt jetzt ein grausamer Schmerz. Scham, Enttäuschung und Ohnmacht fallen über sie her, zerreißen fast das kleine Herz.

Später einmal wird sie kämpfen lernen, dieses allererste Gefühl grenzenloser Enttäuschung aber ein Leben lang nicht mehr vergessen.