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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Weibliche Intuition
© Mark Heinemann
Man stelle sich vor, eine Bekannte bekommt ein Kind. Sie befindet sich bereits im dritten Monat.
Dieser Anlass ist an sich sehr erfreulich, denn wie bereits Franz Beckenbauer nach seinem Seitensprung sagte: "Der liebe Gott freut sich über jedes Kind." Wenn es einer wissen muss, dann der Kaiser.
Trotzdem ist die erste Zeit für einen persönlich anstrengend. Immer wieder bekommt man, in Phrasen verpackt, kleine Andeutungen zu hören, wie schön es doch sei, ein Kind in die Welt zu setzen und dass es beinahe schon einer Pflicht für jeden gleichkomme, die Erde mit einem weiteren Bewohner zu erfreuen. Man lächelt stets gequält und antwortet, dass man sich noch nicht so weit fühle. Die eigene Zeit für Kinder werde schon noch kommen. Schade nur, dass man dann nicht mehr in der Lage sein wird, diese Sprüche los
zu werden, denn man ist sich insgeheim sicher, dass bis dahin alle Bekannten in treuer Pflichterfüllung mindestens ein Kind gezeugt haben werden. Nun gut, zurück zum Thema.
Eine Bekannte bekommt also ein Kind. Die werdende Mutter ist außer sich vor Freude. Sie habe sich schließlich immer schon ein Mädchen, eine richtig süße Tochter, gewünscht, sagt sie eines Nachmittags beim Kaffee. Woher sie denn nach drei Monaten bereits sicher wisse, dass ihr Kind ein Mädchen werde, fragt man darauf doch reichlich verwirrt. Frauen hätten das nun einmal im Blut, das könnten Männer einfach nicht verstehen, kommt es selbstbewusst zurück. Darauf lässt man sich nicht ein. Nach gerade einmal drei Monaten
Schwangerschaft zu 100 Prozent genau das Geschlecht des noch Ungeborenen bestimmen können? Unmöglich! Das kann kein Mensch. Vielen Ärzten wird diese Bezeichnung zwar abgesprochen, aber der Frauenarzt der Bekannten kann es sicher nicht, davon ist man überzeugt.
Dafür, dass man es gewagt hat, seine sture Haltung beizubehalten, wird einem ein Blick geschenkt, den nur Frauen zu werfen in der Lage sind. Diese Mischung aus Arroganz, dem Wissen der gesamten Menschheit und dem deutlichen Gefühl der geschlechtlichen Überlegenheit, selten bekommt man sie stärker zu spüren als in diesem Augenblick. Ein Hilfe suchender Blick zum werdenden Vater bringt einen auch nicht weiter. Er wirkt eher etwas bedrückt. Auf die Frage, warum dies so sei, schließlich bekomme er bald sein erstes
Kind, antwortet er geknickt, dass er doch ganz gerne einen Sohn zum Fußball spielen gehabt hätte. Die Bekannte schaut böse in seine Richtung. Mit dem Satz: "Das Wichtigste ist doch, dass das Baby gesund ist" verabschiedet man sich an dieser Stelle, bevor die Situation in einen handfesten Streit eskaliert. Dieser Ausspruch ist gut gewählt. Alle nicken zustimmend, die Situation ist gerettet.
Drei Wochen später trifft man die werdenden Mutter zusammen mit einer ihrer Freundinnen in der Innenstadt. Ein kleiner Bauch zeichnet sich bereits ab.
Daher haben sich die beiden Frauen entschieden, frühzeitig Babykleidung einkaufen zu gehen. In den kommenden Monaten werde diese Aufgabe für die werdende Mutter immer schwieriger zu bewältigen sein. Außerdem möchte sie den zukünftigen Vater mit der Frage nach den richtigen Babyklamotten nicht überfordern. Man stimmt dem zu und lässt sich von den begeisterten Frauen die Kleider für den baldigen neuen Erdenbewohner zeigen. Es ist im Endeffekt alles dabei, was sich das kleine Babyherz wünschen kann. Kleine, niedliche
Hosen, Strampler, Pullover, winzige Söckchen und Schühchen. Alles in rosa.
Ein einziges Paar, Pullover und Hose, ist in einem neutralen Weiß gehalten.
Allerdings ist der Pullover mit einer ziemlich kitschigen, roten Rose versehen, wodurch auch dieses Teil nicht mehr wirklich neutral wirkt.
Man wagt einen erneuten Vorstoß. Der Einkauf sei ja ziemlich einseitig, auf Mädchen abgestimmt. "Natürlich", kommt es von der Bekannten zurück, "es wird auch eines." Man versucht es ein wenig durch die Blume, da man den Blick von damals noch vor Augen hat. Man selbst würde sich halt nicht derart festlegen, gibt man zweifelnd zurück. Die werdende Mutter weiß natürlich sofort, worauf man hinaus will und lächelt überlegen, als sie antwortet, dass ihr Arzt ihr bestätigt habe, dass es ein Mädchen
wird. "Zu 100 Prozent?", fragt man noch stärker zweifelnd. "Nein, aber zu 75 Prozent, das ist mehr als die Hälfte, also stimmt es", heißt die schon wieder leicht gereizt klingende Antwort. Außerdem wisse sie das als Mutter nun einmal. Ein Blick zur Freundin der Bekannten lässt nichts Gutes erahnen. Genau in diesem Moment, auf der Einkaufsmeile der Stadt, steht man dem geballten Mutterwissen der gesamten Menschheit gegenüber. Der Blick von damals in doppelter Ausfertigung trifft einen, als
die Freundin der Bekannten sagt, dass es bei ihr nur eine 70-prozentige Sicherheit gegeben habe. Trotzdem habe sie von vornherein gewusst, dass ihr Baby ein Mädchen werde. Genau das wäre es dann auch geworden. Das sei bei Frauen nun einmal so. Aber davon würden Männer nichts verstehen.
Man wagt einen letzten kühnen Vorstoß und erzählt von dem eigenen Bruder, der bis kurz vor der Entbindung ein Mädchen werden sollte, dann aber zur Überraschung aller ein Junge geworden ist. Eine äußerst überzeugende Argumentation, wie man findet. Die beiden Frauen wirken wenig einsichtig, eher mitleidig. Es scheint fast so, als würde der Bruder nicht von diesem Planeten stammen, auf Grund dieser "seltsamen" Geburtsumstände. Es ist besser zu gehen. Man verabschiedet sich an dieser Stelle wieder mit den
Worten: "Nun ja, die Hauptsache ist doch, das Baby ist gesund." Der Erfolg ist allerdings nicht mehr ganz so durchschlagend, wie noch vor drei Wochen beim Kaffee. "Natürlich ist es das!", kommt es von der Freundin der Bekannten schnippisch zurück. Beide haken einander ein und wenden sich erhobenen Hauptes in die entgegengesetzte Richtung.
Man beschließt in den nächsten Monaten erst einmal abzutauchen.
Als man wieder von der Bekannten hört, ist sie bereits im sechsten Monat.
Sie hat zu einem, wie sie es nennt, Halbzeit-Sit-In geladen. Man freut sich über die Einladung und will natürlich eine Kleinigkeit mitbringen. Ein farbneutraler Schnuller scheint eine gute Wahl zu sein. Die Gastgeberin bedankt sich artig. Allerdings bemerkt man aus den Augenwinkeln, dass auf dem Wohnzimmerschrank bereits ein Schnuller in rosa Farbe liegt. Nun ja, der wird auch mal dreckig, beruhigt man sich innerlich. Da kann ein zweiter Schnuller nicht schaden.
Das Erste, was die werdende Mutter jedem Gast zeigt, ist das neu geschaffene Kinderzimmer. Es ist sehr liebevoll eingerichtet. Ein kleines Bett mit einem Sternenmobile darüber ist in der Mitte des Raumes platziert. Ein Kleiderschrank steht rechts an der Wand. Die Hausherrin öffnet ihn begeistert. Er ist voll gepackt mit Anziehsachen aller Art. Meistens in rosa.
Passend zu der Farbe der Tapete, die über und über mit Herzen und Rosen verziert ist. Die werdende Mutter erzählt glücklich, dass ihre kleine Tochter in einem Gefühl der absoluten Liebe und Geborgenheit aufwachsen werde. Der baldige Vater nickt zustimmend. Dafür werden sie beide schon sorgen. Er umarmt seine Frau, streichelt ihren Bauch und gibt ihr einen Kuss. Dann heißt es ab ins Wohnzimmer. Grillen ist angesagt. Das Wetter könnte besser nicht sein. Die Sonne scheint und in der lauen Luft lässt es sich gut
aushalten.
Allerdings wirkt der künftige Vater zunehmend niedergeschlagener. Im Laufe des Abends erzählt er einem in bierseliger Stimmung ganze fünfmal, dass er eigentlich gerne einen Sohn gehabt hätte. Mit Mädchen könne er doch kein Fußball spielen. Er sehe sich schon Zöpfe flechten. Auf den gut gemeinten Rat, er solle doch erst einmal abwarten, es könne kein Arzt zu 100 Prozent sagen, was für ein Geschlecht das Baby letztendlich haben werde, wird seine Stimme zittrig: "Das können wir Männer nicht verstehen. Meine
Frau weiß genau, was es wird. Da ist eine Abweichung ausgeschlossen. Das nennt man weibliche Intuition." - "Nun ja, Hauptsache, es ist ......" Prost.
Auf dem Weg nach Hause denkt man über die weibliche Intuition und die Allwissenheit der Ärzte nach. Vielleicht tritt bei diesem Berufsstand manchmal eine gewisse Verblendung ein, wenn er von allen Seiten zu hören bekommt, dass Ärzte die ‚Götter in Weiß' sind. Man ist sich ziemlich sicher, dass diese Göttlichkeit bei der geschlechtlichen Bestimmung eines Ungeborenen ihre Grenzen hat. Das sollte dem wahren Gott überlassen werden.
Da lässt er sich sicherlich nicht hineinreden und ins Handwerk pfuschen.
Gegen die weibliche Intuition ist schwerer anzukommen, zumal sie der Frau bereits in ihrem Kindesalter eingetrichtert wird. Ein Beispiel: Die Tochter fragt: "Mama, wann finde ich den Richtigen?" "Du wirst es wissen, wenn du ihn siehst", bekommt die Fragende als nichts sagende Antwort. Dieselbe Grundsituation ist auf alle möglichen Lebensbereiche der Frau anzuwenden.
"Wie viel Gewürz muss in diese Soße?", "Mach es einfach nach Gefühl."
Demnach ist es nicht verwunderlich, dass die Frau mit der Zeit selbst anfängt, an dieses Phänomen der "weiblichen Intuition" zu glauben. Auch hierfür fällt einem spontan ein Beispiel ein: Die Frau, mittlerweile voll von ihrem dritten Auge überzeugt, fragt ihren Mann: "Schatz, das rote oder das schwarze Kleid?" Es ist in dieser Situation fast sicher, dass sich die Frau für das Kleid entscheidet, welches der Mann nicht gewählt hat. Ein Mann mag die weibliche Intuition nicht verstehen, trotzdem
ist man, als man schließlich seine Wohnung betritt, davon überzeugt, dass die Frau keinen Freifahrtschein auf all das Wissen dieser Welt hat. Selbst wenn ‚Brigitte', ‚Frau im Spiegel' und wie sie alle heißen, es gerne so sehen würden.
So langsam wird die Lage ernst. Die Bekannte ist im achten Monat. Der Bauch ist deutlich sichtbar, als man wieder bei den werdenden Eltern vorbeischaut.
Nach einem belanglosen Plausch über alle möglichen Dinge des Alltags wechselt das Gespräch zwangsläufig wieder zu dem Thema Baby. Man wirft in den Raum, dass man letztens den neuesten Katalog eines bekannten Fußballvereins, bei dem man Mitglied ist, zugeschickt bekommen habe. Die hätten dort eine komplett neue Kollektion an Baby-Fan-Utensilien.
Unvorsichtig wie man ist, gibt man zum Besten, dass man kurz darüber nachgedacht habe, etwas davon zu bestellen, um das Kind fußballerisch gleich auf die richtige Seite zu ziehen. Der werdende Vater, der ebenfalls Fan desselben Vereins ist, zeigt sich begeistert. Wenigstens ein bisschen Fußball in seinem künftigen Leben mit zwei Frauen im Haus.
Die Frau dagegen ist wenig angetan von der Idee. Nein, sie möchte das Mädchen nicht zu einem Jungen verziehen und mit ihr Fußball spielen müssen.
Das sei keine Sportart für süße und zerbrechliche Mädchen. Man erhält den Rat, sich bei künftigen Geschenken mehr Gedanken in die weibliche Richtung zu machen und die primitive Fußballseite schleunigst zu vergessen.
Übrigens habe der Arzt erst letzte Woche noch mit 95-prozentiger Sicherheit festgestellt, dass das noch Ungeborene ein Mädchen werde. Die Begeisterung des Mannes weicht einer tiefen Resignation und man wechselt wieder zu belanglosen Gesprächsthemen, bis man schließlich nach Hause geht.
Dann ist es endlich so weit. Die werdende Mutter wird in ein Krankenhaus einwiesen. Das Baby hat sich mit dem Kopf nach unten gedreht. Es kann also nicht mehr lange dauern. Bei aller Vorfreude mit den werdenden Eltern stürzt es einen selbst nun doch mehr und mehr in ernsthafte Probleme. Was soll man als Geschenk mitbringen? Das Schnullergeschenk damals war nicht von grandiosem Erfolg gekrönt gewesen. Außerdem soll man ja auf die speziellen Wünsche des künftigen Mädchens eingehen. Man ertappt sich bei diesem Gedanken
und ist ärgerlich über sich selbst. Jetzt fängt man auch schon an.
Zugegeben, der Gedanke an die unumstößliche Allwissenheit der weiblichen Intuition und den göttlichen Ärztestatus verlockt in einer schwachen Minute durchaus dazu, seine eigene Meinung kampflos preiszugeben. Man schwört sich, es nicht zu dieser Willenlosigkeit des eigenen Geistes kommen zu lassen.
Nach langem Hin und Her hat man sich zu fortgeschrittener Stunde für ein Geschenk entschieden.
Die Geburt verläuft reibungslos, sieht man von den leichten Übelkeitsanfällen des Mannes im Kreissaal ab. Als er dann aber sein Kind in den Armen hält, sind diese sehr schnell verflogen. Dagegen entgleisen der Mutter, laut Augenzeugenbericht des stolzen Vaters - sie selbst kann oder vielmehr möchte sich später nicht mehr daran erinnern -, für einen kurzen Moment die Gesichtszüge, als der Arzt im Krankenhaus die viel erwarteten Worte spricht: "Meinen allerherzlichsten Glückwunsch. Es ist ein rundum gesunder
Junge." Zur Verteidigung der Mutter ist zu sagen, dass sie sich daraufhin riesig über ihr erstes Kind freut. Zumal es gesund und einfach nur süß ist, wie sie selbst immer wieder betont. Bei diesem Ausmaß uneingeschränkten, gesunden Glücks werden die entstehenden Zusatzkosten für neue Babykleidung und die Komplettrenovierung des Kinderzimmers zu gern hingenommenen Nebensache.
Man selbst besucht das stolze Elternpaar einen Tag nach der Entbindung im Krankenhaus. In der Hand einen kleinen Lederball und ein Trikot des Fußballvereins mit der großen Kollektion an Baby-Utensilien. Da bei den jungen Eltern bislang keine große Auswahl an anderen jungenfreundlichen Anziehsachen vorhanden ist, ist man sich sicher, dass sich das Baby schnell an die Farben gewöhnen wird und man dem Fußballverein einen neuen Fan beschert hat. Mit dem Ball wird der Junge auch schnell umzugehen lernen, dafür werden
der Vater und man selbst schon sorgen. Man überreicht die Geschenke mit einem breiten Grinsen.
Der Blick, den einem die Frau als Antwort zuwirft, ist eine Mischung aus Trotz, verletztem Stolz und der Erkenntnis über die eigene Fehlbarkeit.
Man lässt es bei diesem halben Eingeständnis bewenden und freut sich mit den Eltern.
Insgeheim beschließt man allerdings, dass man sich in Zukunft öfter auf seine männliche Intuition verlassen wird.
Eingereicht am 06. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.