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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Katzensprung
© Pamela Steen
Er hält die Hände schützend vor das Gesicht, steht unbeweglich, als wenn kein Atemzug jemals seine Lungen gefüllt habe, kein Leben durch seine Adern fließe. Mit den schräg nach vorn gebeugten Schultern und dem leicht gekrümmten Rücken, auf dem eine unsichtbare Last zu liegen scheint, hat er etwas Filigranes, ja fast Zerbrechliches an sich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sein braunes, schweres Haar wird bald von einer Windböe ergriffen, bald fallengelassen. Blass ist er, vielleicht blasser als sonst, doch
der kalte Westwind bemüht sich hilflos, ihm die Röte in das schmale Gesicht zu treiben. Der Wind ist es, vor dem er sich schützen muss, nichts als der Wind, der ihm den feinen Sand in die Augen weht, bis sie anfangen zu brennen und zu tränen, der ihm Kopfschmerzen bereitet, der ihn nicht schlafen lässt, nachts, wenn er um die Hausecken weht und die Fensterläden schreien.
Die Augen geschlossen steht er da und ist dankbar für die Dunkelheit, die ihn umgibt. Doch wenn er blinzelt, dann kommt es wieder, das Bild, das ihm die Ruhe stiehlt, das ihn verfolgt. Und jedes Mal brennt es sich scharf ein in seine Pupille und leuchtet noch nach, wenn es längst wieder dunkel ist.
Dann, in diesem Kontrast, ist es heller als je zuvor, und es dauert lange, bis es wieder geht. Und wenn es ihm so nah kommt, dass er weglaufen möchte, sind seine Füße am Erdboden festgewachsen, ist er gezwungen, es zu betrachten, bis es langsam inmitten seiner Finsternis verschwindet.
Gleichwohl kommen diese Augenblicke immer seltener, da er sich gewöhnt hat, an die Art von Denken und Empfindung, wie er sie schon eine halbe Ewigkeit lebt. Er weiß, dass all das bereits Teil von ihm geworden ist, Teil, den er nicht mehr leicht abschütteln kann, der sich tief in ihm verwurzelt hat. Das sagen ihm diese Momente, in denen er flüchten will und es doch nicht kann. Wenn er den Kopf hebt und die Augen öffnet, muss er meistens gegen den Anblick ungewohnter Umgebungen ankämpfen. Immer wieder hat er fast
vergessen, wo er sich eigentlich befindet und ist jedes Mal ein bisschen erstaunt. Auch jetzt empfindet er so, reibt sich die Augen, gähnt und sieht sich verwundert um. Nicht mehr als zwei Minuten sind vergangen, seit er seinen Heimweg unterbrochen hat. Was ihn zu dieser Unterbrechung veranlasst hat, ist längst in der Fülle der sich ihm bietenden Eindrücke untergegangen, die so zahlreich sind, dass er sich nicht dazu entschließen kann, auch nur einen einzigen wirklich aufzunehmen. Leere macht sich in ihm breit,
und ist sie auch zuerst immer wieder beängstigend, so wirkt sie doch alsbald und zunehmend angenehm, ja beruhigend. Er setzt sich in Bewegung, der Augenblick, der gefürchtete, ist längst vorüber.
Langsam steigt er die Stufen zur U-Bahn-Station hinunter. Er ist noch jung, sein Gang leicht gebückt, die Arme hängen schlaff herunter. Den Kopf bis fast auf die Brust gesenkt, den Blick starr nach unten gerichtet, ist er ein schwarzer Fleck, ohne Gesicht, in einem weiten Meer unendlich vieler leuchtender und schimmernder Farben. Am Ende der Treppe bleibt er stehen, zögert, geht dann zum Schalter, wartet, löst seine Fahrkarte, verharrt, stellt sich zur Gruppe der anderen Wartenden. Als die U-Bahn hält, steigt
er als Letzter ein und setzt sich, ohne sich umzusehen, auf den ersten freien Platz, der sich ihm bietet. Während der Fahrt versucht er, die einzelnen Gespräche der Fahrgäste zu verfolgen. Nichts liegt seinem Verhalten ferner als Neugier. Er will nur den Beweis, dass er ihnen zuhören kann, wenn er es will, und dass er sie versteht. Doch es will ihm einfach nicht gelingen, denn zu viele Stimmen, Sätze, Wörter, Wortfetzen, Laute schwemmen heran und reißen ihn hinein in den Strudel der Geräusche, dessen Fluten
über seinem Kopf zusammenschlagen und ihn mit aller Kraft in seinen Sitz pressen.
Nirgendwo findet er Halt, so sehr er sich auch bemüht. Immer tiefer wird er hinuntergerissen, und rechts und links erscheinen die rettenden, aber unerreichbaren Ufer, die sich mit jedem gedanklichen Zugriff ins Leere nur noch weiter entfernen. Gepackt von einem Schwindelgefühl, steht er auf und stellt sich nah an die Ausgangstür, die Stirn an die kalte, schmutzige Scheibe gepresst. An der nächsten Station steigt er aus.
Er ist allein, und die Ruhe des Randviertels ist Balsam für seine Nerven.
Sein Weg führt ihn durch einen freundlich angelegten Stadtpark, dessen Umgebung er nur spärlich wahrnimmt. Nicht die alten Eichen, die der Wind bereits abgetakelt hat, nicht die Enten, die angestrengt auf dem kleinen Teich Futter gegen ein paar räuberische Möwen verteidigen, auch nicht die schmiedeeisernen Laternen, deren Lampen gerade gegen die einsetzende Dämmerung entflammt sind, erregen seine Aufmerksamkeit. Es ist, als gebe es nur ihn, als gehe er durch eine leere Welt, die sich lediglich in seinem Kopf
abspielt, die jedoch der anderen in nichts gleicht. Aus geringer Entfernung ist das Bellen eines Hundes zu vernehmen, auch Kinderschreie wehen mit dem Wind in seine Ohren, Doch die Distanz ist zu groß, der Graben, den er um sich gebaut hat, zu tief. Wieder sind es nur Laute und er verspürt nicht mehr den Drang, sie näher an sich heranzulassen. Er geht weiter.
Es beginnt zu regnen. Der Wind treibt ihm das Wasser ungehindert ins Gesicht. In dicken Tropfen klatscht es auf seine Wangen, gegen seine Stirn, rinnt ihm das Kinn hinunter. Er fühlt Unbehagen in sich aufsteigen und wünscht sich, bereits zu Hause zu sein, da hält ihn irgendetwas davon ab, seinen Schritt zu beschleunigen und er bleibt stehen. Staunend findet er heraus, was ihn hält. Es ist das Wasser, vor dem er noch vor wenigen Sekunden gerne geflüchtet wäre, das ihn nun dazu veranlasst, stehen zu bleiben und
zum Himmel zu blicken. Dichte Wolken ziehen eilig über seinen Kopf hinweg, ohne Konturen, nur Blau und Schwarz, mächtig und erdrückend. Er will seinen Augen nicht trauen. Sicher ist es nur das Wasser, das sich in ihnen sammelt und ihm den Blick verschleiert. Doch je angestrengter er schaut, desto deutlicher erscheint es ihm: Der Himmel, er stürzt auf ihn zu.
Geballte Fluten sammeln sich, vereinigen sich, um auf ihn hinabzustürzen.
Die Wolkenwand, eben noch fern, senkt sich, sackt ab, eine tonnenschwere Decke, die sich auf seine Glieder legt, ihn zu Boden drückt, auf einen Boden, der einfach nicht nachgeben will, sondern der sich anhebt, dem dunklen Ungetüm entgegen. Er kann nicht atmen, sein Brustkorb ist eingeengt, seine Lungen scheinen sich mit Wasser zu füllen. Das letzte, was er sieht, ist das Bild eines Regentropfens, das sich sacht auf seine Pupille legt mit tausend Lichtstrahlen, die sich in ihm brechen.
Er bleibt bewegungslos, wartet, bis das Bild verschwindet. Er muss lange warten diesmal, doch er hat Geduld. Und langsam beginnt er, den Anblick zu genießen, die Nähe, die Berührung und das Eingehen des Bildes in seinen Geist, das Eintauchen in ihn. Er ist überwältigt, doch genießt den Augenblick. Und als er die Augen öffnet, setzt er ohne Umschweife, ohne noch einmal über das kurz zuvor Erlebte nachzudenken, seinen Weg fort, ununterbrochen, bis er zu Hause ankommt.
Es ist die Katze, eine simpelrotweiß getigerte Katze, die ihn auf ihre Weise empfängt, indem sie um seine Beine herumschleicht, mit sanftem Druck den Kopf an seinen Waden reibt. Er hängt den nassen Mantel sorgfältig auf, um gleich darauf der Katze einen Napf mit Futter bereitzustellen. Sofort lässt sie, die ihn eben noch umgarnt hat, von ihm ab und gibt sich ganz der vorgesetzten Mahlzeit hin, duldet keinerlei Störung. Sie wird sich wohl den ganzen Abend nicht mehr blicken lassen, wird nicht zu ihm aufs Sofa
kommen, sich nicht auf seinen Schoß legen und vertraut schnurren, vielmehr wird sie im Keller verschwinden, auf Mäusejagd gehen oder den Dachboden unsicher machen. Nein, mehr kann er nicht von ihr verlangen. Sie ist Gast in seinem Haus, in seinem Leben, und wird immer eine Fremde bleiben, so wie alles, was er irgendwann in seine Nähe lässt, ohne es wirklich geschehen zu lassen.
Jetzt streift er die Schuhe ab, kümmert sich um sein eigenes Abendessen und sitzt versonnen auf dem Sofa. Langsam, ganz langsam, schleicht sie sich an ihn heran, ihre grünen, magischen Augen funkeln ihm dabei fast hypnotisch entgegen. Sie wartet kurz, als überlege sie diesen Schritt noch einmal gründlich, um es sich dann nach einem Satz auf das altmodische Kissen neben ihm bequem zu machen. Er stellt den Teller mit dem noch warmen Essen beiseite, verharrt kerzengerade, in verkrampfter Haltung. Argwöhnisch blickt
er auf die Katze hinab, mit sich selbst im Zweifel, ob er aufstehen oder weiteressen soll. Nichts von beidem wird er tun, das weiß er bereits, darum bleibt er zuerst einmal ruhig sitzen und versucht zu verstehen, was sich soeben ereignet hat. Die Katze, die verdammte Katze, denkt er, hat den Sprung gewagt. Sie hat den Sprung über den abschreckend tiefen und breiten Graben gewagt, in dem hungrige Krokodile nur darauf warten, dass er hineinfällt. Er kann doch ihre Mäuler durch die Luft schnappen hören, sogar das
Rauschen des Wassers, wenn sie mit ihren langen Schwänzen ungeduldig hin und her schlagen. Nur allzu deutlich, deutlicher denn je, hat er eben diesen Graben vor Augen, den ganzen Tag schon. Und gerade heute, gerade jetzt, soll es möglich sein, ihn zu überwinden? Die Zeit ist angekommen, und er hat sie lange kommen sehen, auch wenn er sich teilweise erfolgreich, dann doch wieder vergeblich zur Wehr gesetzt hat. Er lehnt sich zurück, versucht sich zu konzentrieren. Die leisen Geräusche, die das Tier unter seinen
streichelnden, wenn auch leicht ungeschickten und verkrampften Berührungen von sich gibt, verleihen ihm die Sicherheit, die er so dringend benötigt.
Sogleich wird alles vor seinen Augen unscharf, das innere Auge übernimmt jegliche Kontrolle und das Bild, das ihm diesmal erscheint, kommt direkt aus inneren Konvoluten, die es dort verwahrt haben, bis der Augenblick gekommen ist, um es durchzulassen in sein Bewusstsein. Ungetrübt, in seiner vollen Schärfe, schonungslos zeigt es sich, macht aber noch im gleichen Moment Platz für ein neues und wieder ein neues, bis die gesamte Palette an ihm vorbeigezogen ist. Jedes Mal sind es andere Erinnerungen, die sich heraufwühlen
aus dem Sumpf der Vergessenheit, deren Bilder dann wie gärende Bläschen an der Oberfläche zerplatzen. Erfahrungen, Träume, die noch einmal seine Phantasie durchweben, Enttäuschungen, die wie eine zähe Masse alles überlagern, aus dem Urschlamm seines Bewusstseins bestehen. Auch Schmerz, vor allem Schmerz, gilt es zu überwinden, und die dabei wohlbekannten Gefühle bilden die Brücke, die über den Graben führt. Jede einzelne Planke, jedes Stückchen Holz, jeder noch so kleine Nagel ist von Bedeutung, um sie nicht
einstürzen zu lassen. Und obgleich sie schwankt und bröckelt, unter seinen Schritten ächzt und stöhnt, die alles haltenden Stricke immer dünner werden, fällt sie doch erst, als er bereits auf der anderen Seite steht.
Verwirrt öffnet er die Augen, sieht sich um und weiß sofort, wo er sich befindet. Sein Blick haftet immer noch auf der Katze, der simpelrotweiß getigerten Katze, die ihn jedoch keines Blickes würdigt und mit einem Sprung auf dem Fußboden landet, wo sie ohne Umschweife das Weite sucht. Sie wird im Keller verschwinden, auf Mäusejagd gehen oder über den Dachboden streunen.
Sie wird sich den ganzen Abend nicht mehr blicken lassen. Kopfschüttelnd zieht er den Teller zu sich heran, um seine wohlverdiente Mahlzeit zu beenden. Das Essen war kalt. Er aß mit Vergnügen.
Eingereicht am 06. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.