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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Das Lächeln
© Carina Fromm
Sein Tag war in Ordnung gewesen, bis er dieses Mädchen sah. Dieses Lächeln.
Er hatte sich gerade auf den Heimweg gemacht, eigentlich von der Firma, doch letztendlich von der Wohnung gleich in der Nähe. Er hatte seine Kleine besucht. Das Innere seiner Kleinen, denn etwas anderes interessierte ihn nicht. Ihre sanft gehauchten Worte, die einen Käfig versprachen, brannten noch in seinen Ohren. Er rieb sich an ihnen, wie er sich an diesen sehnsüchtigen Blicken stieß, die seine Kleine ohne jegliches Einstudieren beherrschte. Sie war eine von jenen, die nicht spielen konnte. Eine von jenen,
die ausstrahlte, was sie empfand. Er hätte die Tür zu seiner Kleinen längst zuschmeißen sollen ...
Er saß im Auto und es regnete. Ein abscheulicher Nieselregen, der zusammen mit der Hitze eine enorme Luftfeuchtigkeit aufsteigen ließ. Er hasste den Geruch von Regenwürmern, der sich bei solchem Wetter bildete, wie er Menschen hasste, die durch die Straßen gingen, als wäre nichts. Die meinten, keinen Schirm benötigen zu müssen, weil sie sich doch nichts aus ein bisschen Regen machten. In Wirklichkeit waren es genau diese Leute, die dann zuhause vorm Spiegel standen und sich über ihre nassen Haare ärgerten. Er
wusste das, war selbst einmal einer von denen gewesen, bis es ihm zu blöde wurde und er sich einen Knirps zulegte, den er nun immer bei sich trug.
Einige Insekten klebten an der verschmierten Windschutzscheibe, im Radio quasselte ein Experte über die Gefahren der globalen Erwärmung, die Klimaanlage tat ihren Zweck. Langsam aber doch begann das Feuchte zu trocknen, sein Hemd klebte nicht mehr eng an seiner Haut. Er musste sich plötzlich darüber wundern, dass noch niemand etwas gegen die Hitze erfunden hatte, die ihn tagtäglich quälte. Er hätte die Kosten dafür gerne getragen.
Unsummen hätte er investiert, nur um nicht mehr schwitzen zu müssen. Doch niemand hatte bislang etwas Brauchbares auf den Markt gebracht. Was taten diese Hirnwichser, die sich Erfinder nannten, eigentlich den ganzen Tag? Es ist eine Frage des Images. Nasse Flecken unter den Achseln konnte ein Mann seiner Größe sich nicht erlauben. Sein Blick wurde närrisch. So geschehen die meisten Unfälle, dachte er. Man schweift ab, ist anderswo, nicht konzentriert, überfährt plötzlich etwas oder donnert wo rein. Einen Chauffeur
wollte er sich dennoch nicht zulegen. Sind doch auch nur Menschen, die das Potenzial zum Wo-Rein-Donnern haben.
Er begann an seine Kleine zu denken. Sie hatte behauptet, sie würde ihn lieben. Zum ersten Mal sagte sie das. Die meisten Menschen verbinden mit diesen Worten den Eintritt in eine höhere Ebene. Verliebte Euphemismen werden begraben, jetzt beginnt der Ernst. Für ihn begann nur die Flucht. Es war egoistisch von ihr, ihm so etwas zu sagen. Als hätte er Zeit dafür .. Zeit für seine Kleine .. er liebte nicht mal das Innere seiner Kleinen. Er umklammerte den Ganghebel wie seinen Phallus in einsamen Nächten, und suchte
einen anderen Radiosender. Die Leute hatten nichts anderes zu tun, als sich die Zeit mit Prophezeiungen totzuschlagen, die ohnehin keine waren, weil Naturkatastrophen eine natürliche Ursache des Kausalgesetzes waren. Sie mussten kommen. Der Mensch spielte sich schon zu lange. Er wusste das selbstverständlich, aber hören wollte er davon nichts. Wozu auch? Hätte er etwas ändern wollen, er wäre einer Hilfs- oder Umweltschutzorganisation beigetreten. War er aber nicht.
Er stand nun an der letzten Ampel, bevor er freie Bahn zu seinem Zuhause hatte. Sie war eine jener, die Ewigkeiten rot blieb und bei Grün nur zwei bis drei Autos auf einmal fahren ließ. Anfangs, als er in diese Stadt gezogen war, hasste er diese Ampel, die ihm jedes Mal zu viel Zeit kostete.
Eine Umfahrung gab es nicht. Wenn er in der Früh in seinen Wagen stieg, um zur Arbeit zu fahren, hatte er auf dem Weg jedes Mal bereits enorme Aggressionen gegen sie aufgebaut und wenn er dann endlos lang vor ihr stand und wartete, war sein Vormittag meistens gelaufen und seine ursprünglich vielleicht durchaus gute Stimmung den Bach runter geflossen. Mit der Zeit aber hatte er eine gewisse Hass-Liebe zu der Ampel entwickelt und begann sie als Herausforderung zu sehen. Viele Meter vor ihr verlangsamte er sein
Tempo; oder aber stieg voll ins Gas - je nachdem - und meistens schaffte er es, nicht stehen bleiben zu müssen. Ausgetrickst.
Dann war es auf einmal da. Dieses Mädchen. Dieses Lächeln. Es saß an der Straßenecke links seiner verhass-liebten Ampel und direkt in diesem Gesicht, von dem er nicht den leisesten Eindruck gewinnen konnte. Es wurde überflutet .. Der feine Regen war nun in eine Ernsthaftigkeit übergegangen und prasselte schwer auf die Windschutzscheibe und auf den unbedeckten Kopf des Mädchens. Auf dieses Lächeln, das in Jahren nicht untergegangen wäre.
Ein Hupen. Sollte die Ampel eine geringere Rotspanne haben seit dem letzten Mal, da er vor ihr gewartet hatte? Heute ging es so schnell. Es ging so schnell, dass es grün wurde, dass hinter ihm einer hupte. Normalerweise war er der Huper gewesen. Ausschließlich immer. Kontrolle über Geistesrasche. Er donnerte in einem Karacho nach Hause.
Du sitzt wie immer in deinem weichen Sofa und isst und weißt nicht was, weil du gespannt irgendeine Show ansiehst. Du weißt, dass das Unsinn ist, aber er ist dir egal, denn du hast den ganzen Tag nur sinnvolle Dinge tun müssen, klar denken, scharfsinnig sein, kühlen Kopf bewahren. Und du kommst abends heim und niemand wartet auf dich. Tiere magst du nicht und du findest es erbärmlich, wie manche Menschen sie als Bezugspersonersatz benützen. Du hast eine körperliche Beziehung zu einer Kleinen, deren Inneres dich
interessiert, aber dann doch zu wenig, um Worte über Liebe ertragen zu können. Die Sache mit der Kleinen ist, dass sie keine Bedeutung in deinem Leben spielt, du hingegen eine Art Hauptrolle in dem Ihrigen, gleich ob du das willst, oder nicht. Du kommst also heim, fasst Essen und schlingst, wie du es mit allem machst im Leben. Mit Essen, Geld, Karriere, der Liebe, etc.
Du verschlingst dich selbst und merkst es, aber es ist dir gleich. Du verschlingst andere und merkst es nicht, weil es dir gleich ist. Aber du bist satt und genießt ein Wohlstandsbäuchlein. Aber du bist reich und genießt Neid. Aber du bist erfolgreich und genießt Anerkennung. Aber du führst eine schnelle körperliche Beziehung und wirst trotzdem geliebt.
Deswegen machst du immer weiter. Du funktionierst immer weiter und wirst immer besser und immer schneller und immer trainierter darauf, immer weiter zu funktionieren und immer besser zu werden und immer schneller. Und du sitzt dann eines Tages auf deinem Sofa, gerade dabei zu schlingen und musst dich auf einmal übergeben!
Ich starrte auf den Bildschirm und da war es. Dieses Lächeln. Und es hörte nicht mehr auf und ich konnte nicht wegschauen. Es zerfleischt dich. Kriecht leise in dich und will dich von innern heraus sezieren, dieses Lächeln, von dem du weißt, dass es immer noch an dieser Straßenecke sitzt, in dem Gesicht dieses Mädchens. Aber plötzlich ist es in diesem verdammten Bildschirm und wenn du aus dem Fenster siehst, dann blickt es auffordernd zu dir herein und wenn du die Augen schließt, dann steht es direkt vor dir.
Ich wurde es nicht mehr los.
Die Sache mit dem Lächeln ist die, dass du dir sehnlichst wünschst, es sei ein boshaftes Grinsen. Ein Auslachen, eine Grimasse vielleicht. Herrgott, es gibt so viele Arten eines Lachens. Du steigerst dich total in eine Idee hinein. Arm war es, dieses Mädchen an der Straßenecke. Es saß im Regen, wahrscheinlich muss es betteln. Niederträchtig, aber was tun? Ihm Geld geben? Sinnlos, denn angenommen ich gebe ihm heute fünf Euro, zehn vielleicht, es würde einen Tag später genau an demselben Ort sitzen und betteln.
Für mich würde sich die Welt weitergedreht haben, nicht aber für das Mädchen. Es würde weiterbetteln, immer weiter und irgendwann nicht mehr um Geld, sondern um Erlösung. Vielleicht würde es sich dann vor ein vorbeifahrendes Auto werfen. Aus Rache. Rache an den Menschen, denen es gut geht und die nicht auf diese elendige Bettlerei angewiesen sind. Eine Idee.
Eine Idee in deinem Kopf, eine Idee, in die du dich komplett hineinsteigerst, weil du hoffst, sie würde dir dieses Lächeln erträglicher machen.
Es wirft sich also vor ein Auto, dieses Mädchen, stirbt und ist erlöst. Es wirft sich vor ein Auto, stirbt und macht es dem Fahrer unmöglich, je wieder glücklich zu sein. Das ist die Rache. Eine hinterfotzige, gut durchdachte Rache. Es hat mich in meinem nicht zu bescheidenen Auto sitzen sehen, dieses Mädchen, als ich an der Ampel stand und wartete, geschützt vor dem Regen. Da hat es mich auserwählt. Vor mich würde es sich werfen, mein Leben in Fetzen reißen. Gelacht hat es dabei, schelmisch und schamlos. Ich
muss büßen: Für vieles - Erfolg, Geld, Ansehen -, aber vor allem dafür, dass mein Kopf bei Regen im Trockenen bleibt. Und dann war da noch etwas. Das Lachen ging tiefer, schloss eine Art Auslachen mit ein. Das Mädchen ahnt, dass ich vollkommen allein mit dieser Bürde fertig werden muss, die es mir in dem Moment, da ich es zusammenführe, auferlegt. Es weiß, dass ich abends alleine esse und alleine zu Bett gehe. Es stellt sich direkt vor, wie ich mich nachts in den Schlaf weine und mein einziger Trost das Morgengrauen
ist. Ich sitze wieder in meinem BMW und fahre zur Arbeit. Es weiß, dass sich die Stille fatal auf mich auswirkt, deswegen kommt es stets nachts wenn ich einschlafen will. Es wird nicht mehr aufhören, dieses Lachen, wird im Bildschirm bleiben und von draußen durchs Fenster zu mir hereinblicken. Es wird immer vor mir stehen, wenn ich für einen kleinen Moment die Augen schließe, solange bis ich es zusammengeführt habe, dieses Mädchen.
Du steigerst dich total in eine Idee hinein. Eine Idee in deinem Kopf, eine Idee, in die du dich komplett hineinsteigerst, weil du hoffst, sie würde dir dieses Lächeln erträglicher machen.
Sein Einzelgang hatte an diesem Tag aufgehört, er musste nicht mehr allein essen, nicht mehr allein zu Bette gehen. Das dämonische Lächeln - es hatte sich zu ihm gesellt. Seine Kleine hatte nun keinen Platz mehr in seinem Leben, nun, da er eine tiefgründige Beziehung führte, die sehr viel Einfühlvermögen und Kreativität verlangte und ihr Inneres blieb sehr bald unbesucht. Sein BMW stand seit diesem Tag ausschließlich in der Garage - unbefahren. Eine Umfahrung gab es nicht und er wollte seiner Determiniertheit
entgehen, das Mädchen zusammenzuführen. Also fuhr er mit den Öffentlichen, obwohl er Menschenansammlungen hasste - sie wirkten sich störten auf seine neu gewonnene Intimität aus. Er saß stets mit dem Rücken zum Fenster, solange, bis der Bus an der Ecke neben seiner Ampel vorbei war.
Er wusste, das Mädchen würde ihn sehen, wusste, es würde sein Lächeln aber niemals wieder zurücknehmen. Manchmal musste er über vergangene Sorgen schmunzeln. Hatte er sich einst über die lange Rotphase einer verdammten Ampel geärgert? Wie oberflächlich! Hätte er damals gewusst, dass er einmal von einem Lächeln bedroht würde, er hätte das Leben leichter genommen, hätte sich in einer coolen Gelassenheit bewegt, sich nicht über Gott und die Welt ausgelassen. Zu spät, jetzt war es zu spät. Er verharrte in seiner
eingebildeten Beziehung mit dem Dämon - dem Lächeln, das ihn hätte über alle Maßen glücklich machen können.
Du steigerst dich total in eine Idee hinein. Eine Idee in deinem Kopf, eine Idee, in die du dich komplett hineinsteigerst, weil du hoffst, sie würde dir dieses Lächeln erträglicher machen. Du hättest dich aber auch in eine andere Idee hineinsteigern können. In die reale. Doch die hält dein modernes Herz nicht mehr aus. Ein verloren gegangenes Paradies.
Es saß ein Mädchen am nassen Boden einer Straßenecke. Der Grund spielt keine Rolle. Es genoss die leichten, immer schwerer werdenden Regentropfen, die auf seinen unbedeckten Kopf tröpfelten. Es liebte. Ihn und alle. Seine Augen erzählten davon. Es sah ihn plötzlich zufällig an einer Ampel stehen und warten und lächelte ihm mit aller Wärme zu. Es war schön, er nannte sie immer seine Kleine.
Eingereicht am 05. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.