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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Straßengeschichte Nr. Sechs oder Die Karte

© Anne Fischer


Eigentlich war es nur eine simple Ansichtskarte. Aus irgendeinem Kurbad. Ich hatte gar nicht genau hingesehen, wie es richtig hieß. In der Glut der Mittagshitze war ich nach Hause geeilt. Es war Freitag. Übers Wochenende wollte ich meine Schwester besuchen. Das hieß, zügig Tasche packen, vielleicht die Wohnung etwas aufräumen, ach ja und dann musste ich auch noch schnell einkaufen, wenigstens eine Kleinigkeit als Mitbringsel holen. Mein Zug ging am frühen Abend gegen halb sechs. Nein, bloß nicht mit dem Auto auf die Autobahn heute zum Freitag!
Und nun auf einmal das. Ich ging die Treppe hoch und überflog die wenigen Zeilen.
"Viele liebe Urlaubsgrüße sendet dir K.K." Weiter unten stand ganz klein zusammengedrängt und schon etwas verschmiert:
"P.S. Auf dem Rückflug mache ich einen Zwischenstopp in Hamburg und komme zu dir, Samstag gegen elf Uhr." Ich blieb auf dem Treppenabsatz stehen und schnappte nach Luft.
"Das kann doch nicht wahr sein!"
Eine Tür öffnete sich im Erdgeschoss. Die neugierige Juräschke. Ich hatte wohl etwas zu laut gesprochen. Eilig hastete ich zu meiner Wohnung hinauf, schloss zitternd die Tür auf und stürzte hinein, als wäre ich auf der Flucht. Die Karte noch immer in der Hand setzte ich mich erst einmal. Dann las ich wieder.
Zwei Buchstaben und ein paar Worte, die alles durcheinander wirbelten. Konnte das sein?
Ich war fassungslos und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Schleunigst musste ich jetzt eine Lösung finden, eine Entscheidung treffen, und zwar ganz schnell.
Vorsichtig legte ich die Karte auf den Couchtisch und ging zur Tür. Bevor ich jedoch das Wohnzimmer verlies, drehte ich mich um und nahm die Karte wieder vom Tisch. Ich öffnete den Schrank mit den Sachen, die man nie braucht und doch nicht wegwirft. Genau zwischen all diesen unverzichtbaren wertlosen Gegenständen legte ich die Karte und schloss den Schrank. Nein, diese Karte wollte ich niemals erhalten haben.
Mit der Kraft von selbst errungener Entschlossenheit machte ich mich daran, endlich meine Sachen zu packen. Ich wirbelte im Schlafzimmer, was eigentlich mehr mein Arbeitszimmer war, meine Sachen aus den Schränken und verpackte alles einigermaßen geordnet in zwei Taschen. Beim Anblick meines Schreibtisches stöhnte ich. So viele Dinge hätte ich eigentlich noch erledigen müssen. Aber ach, ich hatte meine Schwester monatelang nicht gesehen und nichts und niemand sollte mich von meinem Plan abbringen, heute noch zu ihr zu fahren. Das wusste ich ganz genau. Warum also grübelte ich überhaupt darüber?
Mein Blick streifte die Uhr in der Küche. Schon halb drei! Bis zum Bahnhof benötigte ich heute noch eine kleine Ewigkeit. Dann musste ich auch noch die Fahrkarte kaufen. Ich fuhr öfters mit dem Zug, auch dienstlich. Deshalb wusste ich, was mich noch erwartete. Den Einkauf konnte ich also streichen. Mein kleiner Neffe würde enttäuscht schauen. Vielleicht erwischte ich unterwegs noch etwas oder halt, mir fiel da etwas ein.
Ich hatte doch noch diese alten Eisenbahnwagen von meinem Bruder. Schnurstracks eilte ich in das Wohnzimmer. Erst als ich die Schranktür schon berührte, zuckte ich zurück. Als hätte ich einen glutheißen Ofen angefasst! Genau dort befanden sich die guten alten Stücke der Eisenbahn. Schön eingepackt in einem ebenfalls schon recht betagten Schuhkarton. Ich war mir ganz sicher. Dieser Karton zählte zu den Sachen, die man eigentlich erst dann braucht, wenn man sie schon weggeworfen hat. Aber in diesem Schrank befand sich auch jene Ansichtskarte. Nein, mein kleiner Neffe würde die Eisenbahn ein anderes Mal bekommen. Ich verließ das Wohnzimmer wieder.
Im Bad erwischte ich mich dabei, länger als sonst in den Spiegel zu schauen. Wurde ich nun auch noch sentimental? Es lag mehr als fünf Jahre zurück und auf einmal polterte die Vergangenheit mit einer unsagbaren Rücksichtslosigkeit in mein Leben, einfach so, an einem Freitagnachmittag.
Ich versuchte, etwas aus meinen strohigen Haaren zu machen und gab es dann doch auf. Meine Badewanne rief auf einmal. Sie rief so laut, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, den Wasserhahn aufzudrehen. Das Wasser sprudelte mit seiner verheißungsvollen Verlockung in die Wanne und ich genoss das Plätschern mit einer kindlichen Vorfreude. Die Woche war hart und lang gewesen. Ein einfaches Vollbad konnte ich mir da schon einmal zum Abschluss gönnen. Bevor ich mich jedoch der Entspannung hingab, bestellte ich mir noch ein Taxi am Telefon, denn meinen Zug wollte ich auf jeden Fall erreichen.
Baden war meine Leidenschaft, manchmal eine ganze Stunde lang. Das ging heute natürlich nicht. Aber trotzdem genoss ich diese Wärme und den Duft von Apfelschaum. Ich lag im Wasser und schloss die Augen und versuchte, an etwas ganz anderes zu denken, nicht an die Arbeit, nicht an die Fahrt und an die plötzliche Wiederkehr der Vergangenheit erst recht nicht.
Aber es funktionierte natürlich nicht. Es war einfach zu heftig und verdammt noch mal auch recht unverschämt von ihm, zu glauben, dass er hier plötzlich aufkreuzen dürfte. Ich saß augenblicklich in der Wanne und meine Faust zerschnitt die Wasseroberfläche mit einem mächtigen Wasserspritzen.
Mir war die Badelust vergangen. Ich stieg heraus und machte mich für die Fahrt zurecht. In einer halben Stunde würde der Taxifahrer klingeln. Und so war es dann auch. Ich hetzte die Treppen hinunter und stieg hastig in das Taxi ein. Die zwei Taschen knautschte ich zwischen meine Füße.
"Wir können das Gepäck auch im Kofferraum verstauen." Die Stimme des Fahrers klang freundlich.
"Nein, nein, fahren Sie nur schnell los." Und weil der Fahrer mich etwas mitleidig anstarrte, fügte ich noch hinzu: "Zum Bahnhof natürlich."
Er startete das Auto und murmelte vor sich hin, inzwischen weniger freundlich: "Zum Bahnhof natürlich. Verraten Sie mir noch, ob es vielleicht Altona sein soll?"
"Ja ja, natürlich Altona."
Dann fuhr er endlich los. Ich schaute noch einmal kurz zurück und sah die alte Juräschke am Fenster stehen.
Während der Fahrt versuchte ich mich abzulenken und begann, Autos zu zählen. Das war natürlich absolut unmöglich während der Hamburger Hauptverkehrszeit. Deshalb entschloss ich mich, nur die roten Autos zu zählen. Dreiundzwanzig. Dann hörte ich auf. Mir wurde mit einem Mal klar, dass ich wegrannte und zwar vor meiner eigenen Courage. War ich es nicht selbst gewesen, die damals diesen albernen Vorschlag machte? Wovor also fürchtete ich mich jetzt?
Das Taxi blieb plötzlich stehen.
"Sind wir denn schon da?"
Der Taxifahrer wusste keine richtige Antwort auf solch eine Frage.
"Na ja, Sie wollten doch zum Bahnhof oder?"
Na klar wollte ich. Ich bezahlte und verließ das Taxi so hastig, wie ich es betreten hatte. Am Fahrkartenschalter ging alles ungewöhnlich schnell und auf einmal stand ich auf dem Bahnsteig und hatte noch eine halbe Stunde Zeit. Es waren genau achtundzwanzig Minuten, die mir noch blieben.
Da der Zug in Hamburg eingesetzt wurde, stand er schon bereit und ich suchte mir sogleich einen Fensterplatz. Achtundzwanzig Minuten können schrecklich lang sein. Ich beobachtete das Treiben auf den Bahnsteigen. Meine Taschen standen auf dem Boden. Warum räumte ich sie nicht hoch ins Gepäckfach? Ich saß wo ich saß, unbeweglich in Gedanken versunken.
K.K. stand für Kersten Kuun. Wir lebten acht Jahre zusammen und haben uns eine Woche vor dem geplanten Hochzeitstermin getrennt. Plötzlich, aber nicht unerwartet. Wir wurden uns auf einmal bewusst, dass wir beide einfach noch etwas Zeit benötigten. Ein paar Jahre entschieden wir, dann sehen wir uns wieder und versuchen es noch einmal. Eine verbindliche Abmachung? Gewiss nicht, warum also machten mich die Gedanken an ein Wiedersehen so nervös? War es nicht zunächst so gewesen, dass ich wartete und wartete und wartete. Aber wir waren wahrscheinlich beide zu stolz, um zuerst zurückzukehren. Und dann hatte ja jeder von uns seinen Traumjob. Eigentlich total unvereinbar mit einer festen Beziehung.
Noch neunzehn Minuten bis zur Abfahrt.
Wir gaben unsere Wohnung auf und jeder suchte sich seine Traumwohnung allein. Später zog er nach Berlin. Er teilte mir noch seine neue Anschrift mit. Dann brach der Kontakt ab. Zu diesem Zeitpunkt beseitigte ich endgültig alles, was mich noch an Kersten erinnerte. Ich fühlte mich schlecht dabei. Sehr schlecht.
Nach drei lapidaren Beziehungen gab ich es endgültig auf, den Traumprinzen zu suchen. Es ging ja auch ohne. Außerdem war ich doch so phantastisch frei als Single.
Acht Minuten bis zur Abfahrt.
Warum gestand ich mir eigentlich nicht ein, dass ich die ganze Zeit nur ihn wirklich liebte? Damals glaubte ich, uns auf dem Gleis der Monotonie fahren zu sehen. Zu langweilig war es mir vorgekommen. Gab es da nicht noch mehr? Bremsten wir uns nicht gegenseitig?
Jetzt stand ich auf dem Gleis der Abfahrt, es waren noch zwei Minuten bis dahin.
Es ruckte. Mein Kopf fiel an die Fensterscheibe. Ich fühlte sofort einen heftigen Schmerz an der rechten Schläfe und stöhnte. Dann rieb ich mir den Schmerz gleichzeitig mit der Müdigkeit aus meinem Gesicht. Ich musste eingeschlafen sein. Der Zug hatte gebremst und ich war abrupt aus meinem Traum in die Gegenwart zurückgeholt worden. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wo ich mich befand. Ich saß im Zug unterwegs zu meiner Schwester. Der Traum hing noch glasklar in meinem Kopf. Ich war aufgewühlt und fühlte den Schweiß auf meiner Stirn. Erleichtert lehnte ich mich schließlich zurück.
Geträumt, ich hatte wirklich alles nur geträumt. Es gab keine Ansichtskarte. Die Vergangenheit war fern und ich so unendlich froh. Im ersten Augenblick wenigstens.
Die restliche Fahrt dehnte sich für mich unbarmherzig in die Länge. Ich hatte noch viel Zeit zum Nachdenken. Als ich ausstieg, kaufte ich noch am Bahnhof eine Ansichtskarte. An eine Wand gelehnt schrieb ich:
"Viele Grüße von L.A."
Weiter unten fügte ich ganz klein hinzu:
"P.S. Nächsten Sonntag komme ich zu dir." Die Karte schickte ich auch ab. Sie ging nach Berlin.



Eingereicht am 04. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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