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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Lieben und leben lassen

© Andrea König


Torsten Arendt war Frühaufsteher und liebte die Morgenstunden, wenn das aufsteigende Tageslicht einen feinen goldenen Schleier über die Landschaft legte. Zu dieser Zeit war er immer mit seiner Hündin Rea unterwegs. Sein Haus befand sich am Hochufer der Isar. Er musste nur den Garten durchqueren, um in die grüne verwilderte Auenlandschaft zu gelangen. Rea lief immer ein großes Stück voraus. Als er das Flussufer erreichte, musste er fast blinzeln, so sehr glitzerte das Wasser in der Morgensonne. Unzählige Tautropfen funkelten wie Diamanten im Gras. Das war Torstens schöpferische Stunde, in der er sich auf seine Arbeit am Schreibtisch einstimmte. Plötzlich war Rea nicht mehr zu sehen. Er rief nach ihr. Sie tauchte kurz aus einem dichten Buschwerk auf, winselte ihn an, um gleich wieder im Gestrüpp zu verschwinden. Einige Male lief sie hin und her, ihr Winseln wurde immer eindringlicher. "Du willst mir bestimmt etwas zeigen!", sagte Torsten und streichelte ihr das Fell. Er folgte ihr und zwängte sich durch das Gebüsch. Dahinter hatte der Fluss eine lange Kiesbank aufgeschüttet. Im Gegenlicht konnte Torsten das, was da am Ufer lag, zunächst nicht erkennen. Er kam näher und stellte mit Erstaunen fest, dass es sich um einen Menschen handelte. "Was tut er da. Zum Baden ist es doch noch viel zu kalt", murmelte er vor sich hin. Doch während er noch darüber nachdachte, kam ihm die Gewissheit. Dort lag eine Leiche!
Nun stand er direkt vor ihr. Es war eine junge Frau. Sie lag halb auf der Kiesbank, halb im Wasser. In nassen Strähnen lagen die Haare auf dem bleichen Gesicht. Das vom Wasser durchtränkte Kleid klebte am Körper. Die Beine, die vom Fluss überspült waren, fingen plötzlich an, sich leicht zu bewegen. Waren es die Wellen, die diese Bewegung auslösten oder gab es doch noch ein Funken Leben in diesem Körper? Torsten geriet in Panik, packte die Frau und drehte sie auf den Bauch. Dann begann er, rhythmisch den Rücken zu bearbeiten, um das Wasser aus der Lunge zu pressen. Doch jede Rettungsmaßnahme kam hier wohl längst zu spät. Er gab nach einigen Versuchen auf und wählte mit seinem Handy die Notrufnummer. Bald darauf brachen ein Einsatzwagen der Polizei und ein Sanka in die landschaftliche Idylle. Die Beamten sprangen aus dem Wagen. Ein Notarzt stürzte sich auf die Frau. Der bestätigte nach einer kurzen Untersuchung, was Torsten bereits befürchtet hatte. Hier gab es keine Rettung mehr. Der Leichnam wurde mit einer Plastikplane zugedeckt und von 2 Sanitätern abtransportiert. Die Polizei stellte Torsten noch ein paar Fragen und nahm seine Personalien auf. Nach einer guten halben Stunde war der Spuk vorbei. Torsten stand noch lange am Ufer. Rea sprang an ihm hoch, sie wollte endlich nach Hause.
Als er später am Schreibtisch saß, ließen ihn die furchtbaren Bilder am Flussufer nicht mehr los. Er hatte sich eigentlich vorgenommen, ein Kapitel für seinen neuen Roman zu beginnen. Aber es gelang ihm kaum ein vernünftiger Satz. Schließlich gab er auf und hoffte auf den nächsten Tag.
Torsten hatte sich mit seinen Kriminalromanen bereits einen guten Namen gemacht. Mit exakt einem neuen Roman pro Jahr erfreute er seine Leser. Seine Fangemeinde wuchs mit jedem Buch, das er veröffentlichte. Der Erfolg zahlte sich aus. Er konnte ein angenehmes, ja sogar luxuriöses Leben führen. Sein Verlag, der ordentlich mitverdiente, hofierte ihn entsprechend. Eine hübsche junge Lektorin war für ihn zuständig. Sie hatte die Aufgabe, ihm sämtliche Wünsche von den Augen abzulesen. Das schmeichelte ihm zwar, trotzdem hielt er sich die Dame auf Distanz. Schließlich war er ein in der Wolle gefärbter Junggeselle.
Am nächsten Tag schlug er die Zeitung auf. In dicken Lettern war zu lesen: Wasserleiche am Flussufer gefunden!! Die Tote war noch nicht einmal 20 Jahre alt und stammte aus einem Nachbardorf. Über die Todesursache wurde eifrig spekuliert. War es ein Unfall oder gar Mord? Die Polizei ging von einem Selbstmord aus. Die Lokalzeitungen hatten für die nächsten Tage ihr großes Thema. Bei der Obduktion stellte man fest, dass die junge Frau schwanger war. Nachbarn, Verwandte und angebliche Freunde kamen zu Wort. Hatte sie aus Liebeskummer oder gar Verzweiflung wegen ihrer Schwangerschaft den Freitod gewählt? Torsten versuchte, alle möglichen Informationen darüber zu ergattern. Er kaufte sämtliche Tageszeitungen. Er rief bei der Polizei an, um sich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen. Mit Rea wanderte er am Flussufer entlang, bis er die Staustufe erreichte, an der möglicherweise die Katastrophe ihren Lauf genommen hatte. Dort blickte er lange in das herabstürzende Wasser und in die Gischt, als würde er darin die Lösung aller Fragen finden. Seine Recherchen weiteten sich zur Manie aus.
Man könnte meinen, das Auffinden einer Wasserleiche würde einem Kriminalautor zu großer Kreativität verhelfen. Doch das Gegenteil war bei Torsten der Fall. Er saß oft ewig lange vor seinem Computer, ohne etwas zu Stande zu bringen. Er war wie blockiert. In seinem Kopf hatte sich ein schwarzes Loch aufgetan. Es half nichts, er musste bei seiner Lektorin Veronika Maiberg anrufen. Wenn sich nicht bald etwas änderte, würde sein Roman nicht zum vereinbarten Termin fertig werden.
"Ich habe eine Schreibblockade", teilte er ihr am Telefon mit. 2 Stunden später war sie zur Stelle. Er hörte ihren Wagen vorfahren und öffnete die Haustüre. Veronika war voll Bewunderung für das schöne Anwesen und die herrliche Umgebung. Als sie dann bei einer Tasse Tee auf der Veranda saßen, dauerte es nicht lange, bis Torsten zu erzählen begann, was sich in den letzten Tagen zugetragen hatte. Sie hörte ihm aufmerksam zu. Nachdem er fertig war, saß sie zunächst schweigend da und machte ein nachdenkliches Gesicht. "Wie kommt es, dass Sie sich das Schicksal dieses Mädchens so zu Herzen nehmen", sagte sie endlich. Dann wieder langes Schweigen. "Die junge Frau war schwanger, nicht wahr?" Torsten nickte. "Vielleicht hat sie ihr Freund im Stich gelassen", grübelte Veronika weiter. Torstens Selbstsicherheit schwand. Schließlich brach aus ihm heraus, was er so lange gründlich verdrängt und verborgen hatte: "Ich muss Ihnen etwas erzählen, was schon sehr lange zurückliegt. 15 Jahre ist es her, da lernte ich meine erste Freundin kennen. Wie hieß sie noch, ... ja Rita, ... Rita Moser! Wir waren beide sehr verliebt und noch blutjung! Eines Tages eröffnete sie mir, dass sie ein Kind erwartete." Torsten fühlte sich erleichtert. Nun konnte er sich diese alte Geschichte endlich von der Seele reden. Was Veronika über ihn denken könnte, war ihm plötzlich egal. Weiter erzählte er, dass er damals Rita vorgeschlagen hatte, das Kind abtreiben zu lassen. Zu jener Zeit dachte er nicht im Traum daran, sich zu binden und seine schwangere Freundin zu heiraten. Dazu fühlte er sich einfach zu jung. Rita ließ sich jedoch nicht beeinflussen. Sie wollte unbedingt das Kind behalten. Schließlich befreite ihn sein Vater aus dem Schlamassel; er bezahlte Rita eine beachtliche Summe Geldes. Sie zog aus dieser Gegend fort. Torsten hatte sie nie wieder gesehen.
Nachdem er mit seiner Geschichte zu Ende war, sah er seine Lektorin erwartungsvoll an. Veronika schien es die Sprache verschlagen zu haben. Endlich fasste sie sich wieder. "Was sind Sie für ein Mensch!", rief sie, "Sie haben ein Kind und wissen noch nicht einmal, ob es ein Sohn oder eine Tochter ist!" "Was soll ich tun?!", gab er verzweifelt zurück. "Suchen!! Ich werde sehen, was ich herauskriegen kann", antwortete sie. Damit stand sie auf und ließ ihn nach einem kurzen und kühlen Abschied stehen. Torsten fühlte sich erbärmlich, als sie mit ihrem Auto davonfuhr.
Es dauerte einige Tage, bis Veronika anrief. "Ihre Freundin Rita wohnt jetzt in der nächsten Stadt, in München. Sie hat dort einen Kosmetiksalon. Und - herzlichen Glückwunsch - Sie haben eine 14-jährige Tochter mit dem hübschen Namen Julia!" "Wie haben Sie das herausgefunden?" "So schwer ist das nicht", war ihre knappe Antwort. Sie gab Torsten die Adresse und legte ihm dringend ans Herz, so bald wie möglich Kontakt aufzunehmen. Nein, mitkommen wollte sie nicht. Das musste er schon alleine schaffen. "Aber du begleitest mich", sagte er zu Rea, die neben ihm saß. Die sah ihn an, als hätte sie alles verstanden.
Ein paar Tage später fuhr er mit dem Zug in die Stadt. Die Fahrt dauerte eine knappe Stunde. Rea war dabei. Torsten stellte sich beim Straßenbahn fahren äußerst ungeschickt an und musste ständig nach dem Weg fragen. "Uns beiden ist nicht wohl zu Mute, nicht wahr?", sagte er zu Rea, die ängstlich auf den hektischen Großstadtbetrieb reagierte. Doch nach langer Suche erreichte er schließlich sein Ziel und stand vor dem Kosmetiksalon. Er schluckte noch einmal, dann trat er ein.
Kurz darauf stand Rita vor ihm. Er erkannte sie sofort. Sie sah sehr gepflegt aus und passte perfekt in ihren Laden. "Was kann ich für Sie tun?", fragte sie freundlich. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen: "Rita, ich bin's, Torsten. Erkennst Du mich noch? Ich will mal nach dir und deiner Tochter ... " Weiter kam er nicht. Ihre Reaktion war kurz und heftig. "Verlassen Sie sofort meinen Laden!", zischte sie, als hätte sie eine Schlange verschluckt. "Rita, bitte, lass uns doch wenigstens reden!" "Raus!", tönte es schon lauter. "Ich würde gerne meine Tochter sehen. Das ist doch mein Recht!" "Das ist nicht deine Tochter!", schrie sie. Sie schob Torsten hinaus und entwickelte dabei erstaunliche Kräfte. Zwei Kundinnen, die im Laden saßen, beobachteten bereits neugierig die Szene. Oh, wie war das alles peinlich. Rita schloss hinter ihm energisch die Türe. Nun standen er und Rea auf der Straße wie zwei begossene Pudel. So eine Situation war nichts für den sonst erfolgsverwöhnten Kriminalautor Torsten Arendt. Nichts wie weg hier! Er wollte so schnell wie möglich den Ort seiner Niederlage verlassen. Rea hatte absolut nichts dagegen, dass es wieder nach Hause ging.
Eine Woche später rief Veronika an, um nachzufragen. Nein, er hatte wahrlich keinen Erfolg zu melden. Die Lage war verfahrener denn je! Was ihm da zugestoßen war, drückte auf seine Stimmung. Wie sollte er jemals wieder aus diesem depressiven Tal herausfinden? Auch Veronika wusste so schnell keinen Rat.
Wie abscheulich. Torstens Gehirn produzierte ständig schwarze Gedanken. Er konnte sie einfach nicht abschalten. Auch die Nächte waren keine Labsal mehr. Früher konnte er schlafen wie ein Stein. Jetzt wälzte er sich hin und her. Und wenn ihn doch endlich der Schlaf überwältigte, hatte er Furcht einflößende Albträume.
Er hatte eine quälende Zeit hinter sich, als ihn eines Tages eine gut gelaunte Veronika besuchte. "Sie haben Fanpost erhalten", sagte sie und überreichte ihm ein Bündel Briefe. Das war nichts Neues. Torsten bekam oft Post von begeisterten Lesern. "Schauen Sie sich den Brief an, der oben auf liegt", riet sie ihm. Er sah auf den Absender. Der Atem stockte ihm. "Julia Moser! Meine Tochter hat mir geschrieben!" Schnell riss er das Kuvert auf. Auch Veronika war zum Bersten neugierig: "Bitte lesen Sie vor!", bat sie.
"Sehr geehrter Herr Arendt", begann Torsten laut zu lesen, "Sie sind mein absoluter Lieblingsautor. Jedes Ihrer Bücher habe ich schon mehrmals gelesen. Auf Ihren nächsten Roman bin ich schon sehr gespannt! Neulich passierte etwas Eigenartiges. Ich schaute aus dem Fenster und glaubte, Sie und Ihren Hund vor unserem Haus stehen zu sehen. Ich weiß doch alles über den Hund von Kommissar Hopke in Ihren Büchern, der seinem Herrchen immer hilfreich zur Seite steht. Sicher ist Ihnen Ihr Hund auch so ein treuer Kamerad! Ich lief schnell die Treppe hinunter, um nachzusehen. Da stellte sich meine Mutter in den Weg und verbot mir, Ihnen nachzulaufen. Es gab einen heftigen Wortwechsel. Ich wusste gar nicht, warum sie so tobte. Später, als ich mich von ihr los machte, waren Sie natürlich längst verschwunden. Meine Mutter hat etwas gegen Ihre Bücher. Sie hält sie für einfältig und lebensfremd. Dabei hat sie bis jetzt noch keine einzige Zeile daraus gelesen. Sie versteht mich nicht. Wir streiten oft miteinander. Am liebsten würde ich manchmal fortlaufen.
So gerne wüsste ich, ob Sie es waren, den ich dort vor unserem Haus gesehen habe. Ich würde mich riesig freuen, wenn ich eine Antwort von Ihnen bekäme!
Ich verehre Sie von ganzem Herzen, Ihre Julia Moser."
"Rührend", Veronika schniefte, "vielleicht kommen Vater und Tochter doch noch zusammen!" "Natürlich werde ich ihr schreiben. Ich werde sie zu mir einladen, vorausgesetzt Rita macht mir keinen Strich durch die Rechnung", meinte Torsten und überlegte bereits, in welchem Zimmer er seine Tochter unterbringen würde. Er staunte über sich selbst, was er in den letzten Wochen für einen Wandel durchgemacht hatte. Nie im Leben hätte er früher daran gedacht, eine Halbwüchsige in seinem Haus zu dulden. Er hatte bisher alle Jugendlichen für freche, ungezogene Nervensägen gehalten.
Das Telefon läutete. Zu Torstens größter Überraschung war Rita am Apparat. Sie war völlig aufgelöst und schluchzte gotterbärmlich. Es war ihr kaum möglich, ein paar verständliche Worte hervorzubringen. Doch langsam konnte sich Torsten zusammenreimen, was passiert war. Julia war nach einem Streit mit ihrer Mutter tatsächlich abgehauen. "Sie wird schon wiederkommen", wollte er sie trösten. "Du hast keine Ahnung!", schrie Rita ins Telefon, dass ihm die Ohren schmerzten. "Sie hat mir gedroht, sich umzubringen! Ich habe schon mehrmals versucht, sie anzurufen. Ja, sie hat ihr Handy dabei. Aber wenn sie merkt, dass ich am Apparat bin, schaltet sie sofort aus." Veronika hatte mitbekommen, worum es ging. "Lassen Sie sich die Handynummer von Julia geben", flüsterte sie Torsten zu. Bereitwillig gab Rita die Ziffern durch, die Veronika sofort notierte. "Ich werde versuchen, sie zu erreichen", versprach Torsten. Er wollte Rita wieder anrufen, wenn er von Julia etwas erfahren hatte.
Torsten und Veronika beratschlagten, was zu tun wäre. Sie legten sich einen Plan zurecht, der vielleicht funktionieren könnte. Dann wählte Veronika Julias Nummer. Tatsächlich, das Mädchen meldete sich. "Hier ist Frau Maiberg vom Verlag Brummer und Kahn", sagte Veronika in einem verbindlichen aber kühlen Ton, "wir haben deinen Brief an Herrn Arendt weitergeleitet. Er hat sich sehr gefreut, dass du von seinen Büchern so begeistert bist. Es liegt ihm nämlich ganz besonders am Herzen, auch die Jugend anzusprechen. Darum möchte er Kontakt mit dir aufnehmen." "Ist das wirklich wahr?", fragte Julia ungläubig. "Ja, meine Liebe. Ich habe gerade etwas Luft und würde gerne bei dir vorbei kommen, damit wir das Nötige besprechen können", antwortete Veronika. Da herrschte erst einmal Stille auf der anderen Seite des Telefons. Dann kam es zögernd: "Aber ich ... bin nicht zu Hause ... bin unterwegs ... ja ich gehe gerade ein bisschen spazieren." Veronika wusste, das Gespräch durfte sie jetzt nicht beenden: "Was hältst du davon, wenn wir uns irgendwo treffen?", schlug sie vor, "wo bist du eigentlich?" Wieder gab es eine lange Pause. Torstens Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. "Ich stehe auf einer Brücke", kam endlich die Antwort. "Auf welcher Brücke?" Torsten glaubte, in Veronikas Stimme ein leichtes Zittern herauszuhören. "Es ist die Großhesseloher Brücke", erwiderte Julia. Veronika machte ihr einen Vorschlag: "In einer halben Stunde kann ich bei dir sein. Du steigst jetzt von der Brücke herunter und wartest an der Straße auf mich. Was hältst du davon? Wir werden uns schon finden." Julia war einverstanden. "Sie werden auch bestimmt kommen?", fragte sie nach. "Mein Ehrenwort", sagte Veronika, "dafür versprichst du mir, auf mich zu warten, nicht wahr?" "Uff!", keuchte sie, als das Gespräch zu Ende war. Torsten fasste sie an den Schultern, fast war es eine Umarmung: "Danke, das haben Sie ausgezeichnet gemacht."
Beide wussten, dass die Großhesseloher Brücke bei München als Selbstmörderbrücke einen traurigen Ruhm erlangt hatte. Sie spannte sich hoch über die Isar, derselbe Fluss, der auch an Torstens Haus vorbeizog. Die Fahrt verlief fast ohne ein Wort. Für Torsten war es die schlimmste halbe Stunde, die er je durchmachen musste. Er glaubte, keine ruhige Minute mehr in seinem Leben zu haben, wenn dem Mädchen etwas zustoßen würde. Mit geballten Fäusten saß er krampfhaft nach vorne gebeugt neben Veronika, die den Wagen lenkte. Endlich waren sie da.
Aber keine Julia war zu sehen. Torsten schlug die Hände vor das Gesicht. Nein, das Schlimme durfte einfach nicht passiert sein! "Da drüben ist sie!", schrie Veronika plötzlich und zeigte auf die andere Seite des Flusses. Ein menschliches Wesen saß zusammengekauert am Ufer, das musste sie sein. "Julia, ich bin es", rief Veronika so laut sie konnte, "wir kommen!" Sie rannten so schnell wie möglich über die Brücke. Abgehetzt und völlig außer Atem kamen sie drüben an. Das Mädchen war aufgestanden. Es trug einen abgewetzten Rucksack über der Schulter. "Frau Maiberg?", fragte sie. Dann blickte sie erstaunt zu Torsten: "Herr Arendt!?" Die Zwei antworteten nicht, vielleicht auch deshalb, weil sie immer noch nach Atem rangen. Sie stürzten sich auf Julia, umarmten und drückten sie so fest, dass schließlich auch ihr die Luft wegblieb.
Auch in den Wintermonaten ließ sich Torsten nicht von seinen Morgenspaziergängen abhalten. Er liebte das Licht im Morgengrauen, das die Schneefelder in ein zartes Rosa tauchte. Überirdisch schimmerten die bereiften Bäume gegen den blaugrauen Himmel. Rea war wie immer Torstens treue Begleiterin und wälzte sich ausgelassen im Schnee. Julia schlief noch. Seit ein paar Tagen war sie Gast bei Torsten. Rita hatte es ihr erlaubt.
Die vergangenen Wochen und Monate waren eine schwere Zeit für alle gewesen. Torsten musste erfahren, dass es ein hartes Stück Arbeit war, das Vertrauen von Julia zurück zu gewinnen. Für sie war erst einmal ihr großes Idol, der Schriftsteller Torsten Arendt vom Sockel herab gestürzt. Dieser Mann war also ihr Vater, der sich jahrelang nicht um sie gekümmert hatte?! Es gab Szenen, Streit und viele Tränen. Veronika musste immer wieder vermitteln. Rita jedoch war überglücklich, dass Julia nichts passiert war. Gegen einen Kontakt zwischen Vater und Tochter hatte sie jetzt nichts mehr einzuwenden. Das half, die Parteien langsam miteinander zu versöhnen.
Torsten kehrte nach seinem Winterspaziergang nach Hause zurück. Rea rannte so schnell es ging auf das Haus zu. Er wusste, gleich würde sie in Julias Zimmer verschwinden, um sie aufzuwecken und mit ihr herum zu tollen. Für den Nachmittag hatte sich Veronika angesagt. Sie wollte mit ihm das neue Romanprojekt besprechen. Seinen letzten Krimi hatte er endlich abgeschlossen. Er wusste, dass in seinem nächsten Buch ein Mädchen vorkommen würde, das seinem Kommissar Hopke das Leben rettete. Die beiden würden dicke Freunde werden.



Eingereicht am 04. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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