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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der heuwarme Duft der Welt
© Christa Schmid-Lotz
Ich sitze im Frühstückssaal des Kurhotels ‚Quellenhof 'in Baden-Baden. Heute wird noch etwas Schlimmes passieren, denke ich, es liegt was in der Luft. Auch wenn alles so friedlich wirkt. Trotz der sommerlichen Wärme fröstelt es mich. Durch die Fenster, deren Chintzvorhänge sich leise bauschen, kommt der Duft von frisch gemähtem Gras. Ein blassblauer Himmel wölbt sich über den Parkanlagen. Die Bedienung bringt eine Silberterrine, stellt sie auf den Tisch und hebt den Deckel. Da rollt sich der Parmaschinken, duften
der Beaufort und der Gruyère. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. "Müssen wir unbedingt zum Pferderennen heute Nachmittag?", frage ich meinen Onkel, der sich mit einem Seidentaschentuch den Schweiß von der Stirn wischt. "Der Lindenallee-Pokal in Iffezheim ist ein Muss", antwortet er. "Dazu die Schau der jungen Vollblüter, das dürfen wir auf keinen Fall versäumen! Ich habe deiner Mutter versprochen, mich um dich zu kümmern. Den Araberhengst habe ich nur für dich gekauft."
Als ich an die vielen Menschen und Pferde denke, steigt mir das Blut in den Kopf. Die Bedienung schiebt einen Wagen mit gratiniertem Norwegerlachs, frischem Orangensaft, Pariser Brot und Schaumomelette heran. Ich nehme mir ein Stück Baguette und knabbere lustlos darauf herum.
Mein Onkel schaufelt sich Rührei in den Mund.
"Nimm doch wenigstens einen Schluck Kaffee, Kind. Du musst etwas essen, sonst kippst du mir noch um."
Ich gieße das dampfende Getränk in die Porzellantasse und gebe Milch dazu.
"Ich möchte nicht zum Pferderennen, schon gar nicht an so einem Glutofentag."
"Sei nicht undankbar. Andere wären froh, wenn sie dabei sein dürften."
"Ich habe Angst vor Pferden."
"Patrizia, reiß dich doch zusammen!"
Ich spüre, wie meine Knie weich und die Hände feucht werden. Ist es der Kaffee, der mich so nervös macht? Mein Onkel schiebt Lachsmousse, Parmaschinken und Gruyère zu mir herüber. Ich stopfe alles in mich hinein, obwohl mein Magen revoltiert. Den Vormittag verbringe ich in einem Liegestuhl im Park des Kurhotels. Die Luft steht; der Himmel hat eine schwefelgelbe Farbe angenommen, und der Schweiß läuft mir in kleinen Perlen den Körper hinab. Auf der Bluse, unter meinen Achseln haben sich große, feuchte Flecken
gebildet, die süßlich riechen. Ich kann mich nicht auf mein Buch konzentrieren. Es ist der ‚Zauberberg' von Thomas Mann. Nein, ich will nichts wissen von Krankheit und Siechtum. Ich bin hierher gekommen, um mich von den Attacken zu erholen, die mich immer wieder aus dem Leben gerissen haben. Jedes Mal diese furchtbare Angst zu sterben, das Herzrasen, die Atemnot, das Zittern der Arme und Beine.
Als der Geruch nach gebratenem Fleisch und Steinpilzen herüberweht, stehe ich auf und steige zerschlagen die Stufen zu meiner Suite hinauf. Der Ventilator im Zimmer funktioniert nicht, und die Luft, die mir entgegenschlägt, lähmt mich. Ich ziehe mich aus, gehe in die Dusche mit den goldenen Armaturen und lasse den harten, kalten Strahl so lange auf meine Haut prasseln, bis ich wieder das Gefühl habe, atmen zu können. Dann trockne ich mich ab, trete zum Schrank, ziehe ein kurzes rotes Kleid und Lacksandalen an.
Hinter meinen Ohren versprühe ich ein wenig 'Amouage', das macht mich sicherer. Mit weichen Knien komme ich hinunter ins Vestibül. Hoffentlich überstehe ich diesen Tag.
Mein Onkel sitzt wartend in einem Ledersessel und steht auf, als er mich sieht.
"Gut siehst du aus, meine Liebe. Der Chauffeur wartet schon."
Mit einem flauen Gefühl nehme ich Platz in der Limousine. ‚Was will ich eigentlich hier?', geht es mir durch den Kopf, während der Wagen durch die breiten Straßen Baden-Badens gleitet. Warum muss ich immer Dinge tun, die ich nicht tun will, Sachen essen, von denen ich Sodbrennen kriege, immer wie aus dem Ei gepellt aussehen? Manchmal hätte ich einfach Lust, um mich zu schlagen. Aber das gäbe einen Skandal, und davor habe ich noch mehr Angst als vor allem anderen. In der Tiefe meines Magens hängt es wie ein Stein,
es rumort, als wenn ich mich bald übergeben müsste. Die letzten Häuser der Vorstädte liegen hinter uns. Schwarzwaldberge ziehen sich sanft hinab in die Rheinebene. In Iffezheim steuert der Chauffeur das Auto auf einen Parkplatz nicht weit von der Tribüne.
Auf dem Rennplatz herrscht emsiges Treiben. Elisabeth die Zweite ist da, Rainier von Monaco, Frank Elstner, Tony Marshall und die Thurn und Taxis. Menschen, Gesichter, Stimmen und Düfte stürzen auf mich ein. Die Schönen und die Reichen sitzen auf den Rängen; sie lächeln geziert, und die Männer betrachten die Dekolletés der Frauen, die durch filigrane Geschmeide, Perlen und Rubine aufgewertet sind. Ich sehe die Blicke von Männern, die mich von den Füßen bis zum Kopf mustern. Fühle mich schuldig, weiß aber nicht,
warum.
Gut gelaunt wendet sich mein Onkel an mich.
"Ist es nicht spannend, auf den Spuren berühmter russischer Dichter zu wandeln?"
"Auf den Spuren welcher Dichter?" Meine Stimme ist heiser.
"Dostojewski, unter anderem. Der hat sich hier um Kopf und Kragen gespielt."
Ich denke daran, wie ich ‚Schuld und Sühne' gelesen, wie ich mitgelitten hatte mit dem Helden. Woran bin ich Schuld? Was habe ich getan, dass ich immer das Gefühl habe, Gefangene meiner Umgebung zu sein? Der Startschuss! Ich zucke heftig zusammen. Angstvoll schaue ich auf die im Galopp vorbeipreschenden Pferde. Die Jockeys geben ihnen die Sporen; die Menschen sind aufgesprungen und feuern sie an. Der Boden wellt sich unter meinen Füßen, der Magen dreht sich um. Vielleicht hätte ich doch lieber nichts essen sollen.
Ich halte es nicht mehr aus. Gibt es keine Befreiung aus dieser endlosen Katastrophe?
"Ich gehe mal auf die Toilette", sage ich mit zittriger Stimme zu meinem Onkel. Einen Moment lang sieht er mir besorgt ins Gesicht, dann wendet er sich wieder den Pferden zu.
Unsicher bahne ich mir einen Weg durchs Gedränge. Lautes Lachen kommt mir entgegen; Kleider streifen mich mit kühlem Rascheln. In meinem Kopf dreht es sich. Ich will weg von hier, raus, nur raus, in den Wald, zu einer Quelle, um mir den heißen Kopf zu kühlen. Es gibt keinen Ausweg.
Da ist eine offene Tür; der Geruch nach Pferdemist und Heu steigt mir in die Nase. Plötzlich finde ich mich in einem Stall, in dem drei Pferde in ihren Boxen stehen. Sie schnauben leise und schlagen mit ihren Schweifen die Fliegen fort, die um ihre schweißnassen Rücken brummen. Ein warmer, intensiver Heuduft. Neben den Pferden steht ein Mann, er nähert sich, kommt immer näher.
Es waren meine Reiterferien, ich war vierzehn. Ich liebte diesen Geruch. Es war Nacht, die Luft zum Schneiden schwül. Eine Kette klirrte; ein Schnauben gab mir die Gewissheit, dass ich nicht alleine war.
Ich verliere den Boden unter den Füßen, beginne zu wanken; alles dreht sich um mich.
"Sie sind ja kreideweiß. Kann ich Ihnen helfen?"
Eine Hand berührt meinen Arm. Mein Körper kocht, er ist kurz vorm Zerplatzen. Die Männeraugen sind verdreht, jemand keucht, eine Hand greift mir zwischen die Beine.
Trappeln, Stimmen und ein Kichern.
"Der Kleinen werden wir es besorgen, die braucht das doch!"
Ich strampele, schlage mit Armen und Beinen um mich, beiße und kratze.
Alle sind über mir, in mir.
Etwas zerreißt. Dann schreit ein Tier.
Ich schreie. Schreie aus mir heraus, was ich nie jemandem erzählen konnte, was mich behindert hat in jeder Beziehung, was mich gefangen hielt ohne jede Möglichkeit zu entkommen. Nicht einmal durch den Tod wäre ich entkommen. Ich schlage um mich, falle ins Heu, sauer schießt es die Speiseröhre hinauf. Die Lachsmousses, Parmaschinken und Gruyeres, der faulige Bach eines ganzen Lebens, alles bricht aus meinem Mund. Ich würge und kotze mir die Seele aus dem Leib. Endlich ist es aus mir raus. Die Welt duftet nach
Heu und Pferdemist.
Eingereicht am 04. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.